Das Geheimnis vom Rathausturm

Das Chem­nit­zer Caril­lon stammt aus DDR-Zei­ten. Die schwers­ten Glo­cken tra­gen das Staats­wap­pen mit Ham­mer, Zir­kel und Ähren­kranz – aber auch die Gra­vur „Libe­ra nos, Domi­ne“ – „Befreie uns, Herr“.

Von außen sieht man dem Turm des Neu­en Rat­hau­ses sein Klang- geheim­nis im Innern nicht an. Wuch­tig ist er, einer Trutz­burg gleich. Auf Höhe der Turm­uhr aber, in bei­na­he 60 Metern Höhe befin­det sich eine klei­ne Kam­mer – und in ihr der Spiel­tisch des Caril­lons. Einem Orgel­tisch gleicht der, mit Manu­al und Pedal. Doch Pfei­fen orches­triert er nicht, son­dern Glo­cken. Ein Stock­werk höher noch, über Dräh­te mit dem Spiel­tisch ver­bun­den, hän­gen die Glo­cken, 48 an der Zahl.

Die kleins­te bringt es auf 9,5 Kilo­gramm, die größ­te auf 957, alle zusam­men wie­gen 5,2 Ton­nen. Die schwers­ten tra­gen das Signet ihrer Zeit: Ham­mer, Zir­kel, Ähren­kranz, ganz klein aber auch, der Schau­sei­te abge­wandt, den kaum erkenn­ba­ren latei­ni­schen Schrift­zug ihrer Apol­da­er Gie­ße­rei, den die­se auch in der DDR wei­ter­führ­te: „Libe­ra nos, Domi­ne“, steht da. „Befreie uns, Herr.“ Und „Anmut spa­ret nicht noch Mühe“ – Ber­tolt Brechts Kon­kur­renz­ent­wurf zu Johan­nes R. Bechers Text­vor­schlag für eine DDR-Nationalhymne.

Leben haucht ihm heu­te, 20 Jah­re nach dem Ende der DDR, der Chem­nit­zer Sebas­ti­an Lie­bold ein. Er ist einer von vier jun­gen Män­nern und Frau­en, die unter Anlei­tung von Alt­meis­ter Peter Franz das Hand­werk des Caril­lon­neurs erler­nen. Mitt­wochs und sams­tags um 10 Uhr erklingt das Glo­cken­spiel. Es lässt Pas­san­ten auf­hor­chen, ver­wei­len, mit­sum­men. „So soll es sein“, sagt der bald 87 Jah­re alte Peter Franz. „Ein­gän­gi­ge Melo­dien“ spie­len er und sei­ne jun­gen Kol­le­gen – „Schla­ger, Volks­lie­der, Oper, Ope­ret­te, Kir­chen­mu­sik, Rock und Pop. Von Weh­dings „Gol­de­nem Pavil­lon“ bis Uriah Heeps „Lady in Black“ reicht das Reper­toire, über „Hoch auf dem gel­ben Wagen“ bis „Whis­key in the Jar“. „Für jeden ist etwas dabei“, meint Sebas­ti­an Lie­bold, 29 Jah­re alt und im Haupt­be­ruf Poli­to­lo­ge an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät. „Im Som­mer brin­gen wir ande­re Stü­cke als zu Weih­nach­ten.“ Trotz­dem wür­den vie­le Chem­nit­zer das Caril­lon nicht ken­nen: „Und das, obwohl es schon seit 1978 im Rat­haus­turm hängt. Vom Markt aus fällt es ein­fach nicht auf“, sagt Liebold.

Mit dem Glo­cken­spiel neben­an sieht es anders aus, auch der Figu­ren wegen. Sie sind vom Markt aus gut sicht­bar. 25 Glo­cken klein ist die­ses Geläut im Alten Rat­haus, ein­ge­baut von 1997 bis 2002. Es knüpft an die Tra­di­ti­on eines Glo­cken­spiels aus den 1930er-Jah­ren an.

Im März 1957 brach­te eine Debat­te in den Leser­brief­spal­ten der Chem­nit­zer „Volks­stim­me“ die Caril­lon-Fra­ge wie­der auf die Tages­ord­nung. „Vie­le woll­ten wie­der Glo­cken­klän­ge im Rat­haus­turm“, fand Lie­bold her­aus. Und die Stadt­obe­ren nah­men den Vor­schlag auf. „Noch im glei­chen Jahr fass­te der Rat der Stadt einen Beschluss“, hat er im Stadt­ar­chiv recher­chiert. „Mehr­fach tra­ten dann aber Ver­zö­ge­run­gen auf. Erst soll­te das Glo­cken­spiel wie­der ins Alte Rat­haus. 1964 stand der Rote Turm zur Debat­te. Bald jedoch war das Neue Rat­haus ers­te Wahl, auch der Gewich­te wegen“, sagt Lie­bold. Denn das neue Glo­cken­spiel soll­te grö­ßer wer­den als das aus der Vorkriegszeit.

Doch nicht nur über den Ort für das Caril­lon gab es unter­schied­li­che Mei­nun­gen, auch über das dafür ein­zu­pla­nen­de Geld. Zunächst wur­de mit 85.000 Mark gerech­net, spä­ter mit 140.000 Mark. Erst 1968 begann in Apol­da der Guss der Karl-Marx-Städ­ter Glocken.

Noch ein­mal neun Jah­re gin­gen ins Land, bis 1977 die letz­te fer­tig war. Der Ein­bau erfolg­te unter Zeit­druck. „Bis Jah­res­en­de muss­te alles über die Büh­ne gehen, ein Jubi­lä­um stand an: 25 Jah­re Karl-Marx-Stadt. Das Caril­lon kam gera­de recht“, sagt Lie­bold. Sogar die Lie­der, die zur Ein­wei­hung gespielt wur­den, sind über­lie­fert. Der ers­te Pro­gramm­ent­wurf sah staats­tra­gen­de Stü­cke vor. „Auf­takt mit der DDR-Natio­nal­hym­ne, die Inter­na­tio­na­le, die Ver­to­nung eines Brecht-Tex­tes, Folk­lo­ris­ti­sches und zum Schluss ‚Freu­de schö­ner Göt­ter­fun­ken‘ “, liest Lie­bold aus Archiv­un­ter­la­gen vor.

Die Stadt­obe­ren schrie­ben die Lis­te um. „Erst Beet­ho­ven, dann Volks­lie­der, Folk­lo­re, die Brecht-Ver­to­nung und zum Schluss die Inter­na­tio­na­le. Die DDR-Hym­ne wur­de gestrichen.“

Nach der Ein­wei­hung des Glo­cken­spiels 1978 stößt Peter Franz zu den Freun­den des Caril­lons. Er hat Kla­vier stu­diert und Kla­ri­net­te, arbei­te­te sich früh ins Orgel­spiel ein. Für Heinz Quer­mann, dem Urva­ter der ost­deut­schen Talent­shows, arbei­te­te Franz als Redak­teur der Sen­dung „Herz­klop­fen kos­ten­los“, dann im Chem­nit­zer Kon­gress­ho­tel und der Stadt­hal­le. „Da hat­te ich noch kei­ne Ahnung vom Caril­lon“, gibt er heu­te zu. Danach gefragt, ob er das Glo­cken­spiel erler­nen wol­le, zögert er nicht. 1982 fin­det eine inter­na­tio­na­le Kon­fe­renz in Karl-Marx-Stadt statt. Aus aller Welt kom­men Caril­lon-Fach­leu­te in die Stadt. Der Zuspruch von außer­halb blieb: „Sogar das japa­ni­sche Fern­se­hen kam mal vor­bei“, sagt Franz. Noch heu­te ist er der ers­te Mann am Spiel­tisch, auch wenn ihm der Weg auf den Turm immer schwe­rer fällt. Er weiß längst: Die Tra­di­ti­on über­lebt nur, wenn jun­ge Leu­te in sei­ne Fuß­stap­fen tre­ten – Leu­te wie Sebas­ti­an Liebold.

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