Wandeln zwischen Welt und Wut

Der an der TU Dresden forschende Politologe Maik Herold forscht zum Bürger. Foto: André Wirsig
Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Maik Herold forscht an der TU Dres­den zum Bür­ger. Foto: André Wirsig

DRESDEN. War­um schlug dem „Bür­ger“ hier­zu­lan­de oft Skep­sis ent­ge­gen, und wie steht es heu­te um ihn als poli­ti­schem Akteur? Ein Gespräch mit dem Dres­de­ner Poli­to­lo­gen Maik Herold.

Bei Demons­tra­tio­nen wie denen von Pegi­da und deren Geg­nern neh­men Teil­neh­mer bei­der Lager für sich in Anspruch, ein Bür­ger­recht aus­zu­üben: poli­tisch tätig zu sein. Die Dis­kus­si­on zwi­schen den Schrift­stel­lern Uwe Tell­kamp und Durs Grün­bein unter gro­ßer Bür­ger­be­tei­li­gung kürz­lich in Dres­den über Mei­nungs­frei­heit hat die Gemü­ter eben­falls erregt. Sind das Zei­chen für eine Renais­sance des Bür­gers als poli­ti­schem Subjekt?

Von einer „Wie­der­ge­burt“ lie­ße sich spre­chen, wäre er zuvor „tot“ gewe­sen. Das sehe ich nicht. Den­ken Sie an die Fried­li­che Revo­lu­ti­on von 1989 in der DDR, die von Bür­gern aus­ging, auch wenn unter ihnen wohl mehr Mau­rer und Kran­ken­schwes­tern waren als Archi­tek­ten und Ärz­te. Der seit jeher facet­ten­rei­che Bür­ger­be­griff beschreibt heu­te weni­ger eine gesell­schaft­li­che Klas­se und ist über man­che Selbst­zu­schrei­bung, wie die, spä­tes­tens seit Goe­the nach huma­nis­ti­scher Bil­dung zu stre­ben, hin­aus­ge­wach­sen – oder dahin­ter wie­der zurück­ge­fal­len. Wie man es nimmt.

Zumin­dest in Deutsch­land schien der Bür­ger trotz des Bil­dungs­ide­als oft poli­tisch leicht ver­führ­bar, sofern er nicht im ande­ren Extrem dar­auf beharr­te, sich völ­lig aus der Poli­tik her­aus­zu­hal­ten. Was ver­ste­hen wir unter einem „Bür­ger“, wenn nicht eine gesell­schaft­li­che Grup­pe, Klasse?

Im All­ge­mei­nen dient in moder­nen Demo­kra­tien der Begriff „Bür­ger“ dazu, sich über die Rol­le des Ein­zel­nen im Gemein­we­sen zu ver­stän­di­gen. Es geht also um einen juris­ti­schen Sta­tus, der dem Ein­zel­nen durch Mit­glied­schaft im Per­so­nen­ver­band der (Staats-) Bür­ger bestimm­te Rech­te gewährt. Davon sind ande­re Kate­go­ri­sie­run­gen zu unter­schei­den – etwa, ob jemand sein Han­deln am Gemein­wohl ori­en­tiert und bereit ist, sich poli­tisch zu enga­gie­ren oder in der frei­wil­li­gen Feu­er­wehr, ob er soli­da­risch ist und leis­tungs­be­reit, nach Bil­dung strebt oder welt­of­fen ist und Hei­mat­lie­be schätzt. Was einen „guten Bür­ger“ aus­macht, ver­än­dert sich und wird im öffent­li­chen Dis­kurs immer­zu neu ausgehandelt.

Dabei ist poli­ti­sches Enga­ge­ment lan­ge alles ande­re als selbst­ver­ständ­lich gewe­sen, gera­de in Deutschland.

Auch in deut­schen Reichs- und Han­se­städ­ten ent­wi­ckel­te sich früh ein Bür­ger­tum, das poli­tisch aktiv war. Aller­dings galt es lan­ge als aus­ge­macht, dass eine bür­ger­li­che Selbst­ver­wal­tung nur in klei­nen Räu­men, in ein­zel­nen Städ­ten und Gemein­den, nicht aber in grö­ße­ren Ter­ri­to­ri­en funk­tio­nie­ren kann. Ver­su­che gab es den­noch, etwa in den nord­ita­lie­ni­schen Stadt­re­pu­bli­ken, der Alten Schwei­zer Eid­ge­nos­sen­schaft und den Ver­ei­nig­ten Pro­vin­zen der Nie­der­lan­de. Erst im 18. Jahr­hun­dert, infol­ge der Revo­lu­tio­nen in den USA und in Frank­reich, wur­de die Idee einer „Bür­ger­herr­schaft“ auf Flä­chen­staa­ten über­tra­gen. In die­sen moder­nen Repu­bli­ken erhiel­ten Bür­ger – eng­lisch „citi­zen“, fran­zö­sisch „citoy­en“ – eine zen­tra­le poli­ti­sche Bedeu­tung. Die Ent­wick­lung in Deutsch­land stell­te einen Son­der­fall dar, was sich auch an der Wort­schöp­fung „Staats­bür­ger“ zeigt.

Inwie­fern?

Den „Bür­ger“ gab es lan­ge vor dem „Staat“. In Deutsch­land aber wur­de bei­des eng zusam­men­ge­dacht: Der Bür­ger woll­te zwar poli­tisch selbst­be­stimmt sein, blieb aber Unter­tan des Mon­ar­chen, sah sich dazu – ent­spre­chend erzo­gen – viel­fach in der Pflicht. Die­ses von der deut­schen Staats­phi­lo­so­phie des frü­hen 19. Jahr­hun­derts gepräg­te Ethos führ­te noch in der Wei­ma­rer Repu­blik zu poli­ti­scher Läh­mung, die durch ande­re Akti­vi­tä­ten kom­pen­siert wur­de. Bür­ger mach­ten Kar­rie­re in Ver­wal­tung, Mili­tär, Wirt­schaft und Wis­sen­schaft, viel­fach ohne gleich­zei­tig poli­ti­sche Mit­be­stim­mung und Ver­ant­wort­lich­keit ein­zu­üben. Sie sor­gen für den indus­tri­el­len Auf­stieg Deutsch­lands, gewin­nen Nobel­prei­se, sam­meln Kunst und bau­en Vil­len, groß wie Burgen.

Damit kehr­te der „Bür­ger“ in gewis­ser Wei­se an sei­nen begriff­li­chen Ursprung zurück.

Das Wort ist tat­säch­lich mit „Burg“ ver­wandt und folgt einem in vie­len Spra­chen zu fin­den­den Wort­stamm – alt­hoch­deutsch „burga­ri“, mit­tel­hoch­deutsch „bur­gae­re“ oder alteng­lisch „burg­wa­re“. Es bezeich­ne­te im wei­tes­ten Sin­ne die Bewoh­ner einer befes­tig­ten Stadt. Ver­wie­sen war damit weni­ger auf einen Wohn­ort als auf die Stel­lung des Bewoh­ners in einer Gemein­schaft Gleich­be­rech­tig­ter, von deren Wohl und Wehe das eige­ne Schick­sal abhing …

… wobei die his­to­ri­schen Wur­zeln im anti­ken Grie­chen­land liegen.

Ja, auf die dama­li­gen Stadt­staa­ten – alt­grie­chisch „pol­eis“ – wird die Idee eines Per­so­nen­ver­ban­des als Kern poli­ti­scher Ord­nung zurück­ge­führt. Bür­ger zu sein mein­te auch damals nicht nur, dass jemand in einer bestimm­ten Stadt leb­te, son­dern vor allem, dass er gleich­be­rech­tigt über die öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten – „ta Poli­ti­ka“ – mit­be­stim­men durf­te. Im anti­ken Rom hat­ten Bür­ger – latei­nisch „civis“ – eben­falls der­ar­ti­ge Rech­te, auch wenn die poli­ti­sche Macht auf weni­ge Fami­li­en beschränkt war. Der Aus­ruf „Ich bin römi­scher Bür­ger“ – „civis Roma­nus sum“ – ermög­lich­te außer­dem im gesam­ten Reich die Chan­ce auf ein ordent­li­ches Gerichtsverfahren.

Wer durf­te Bür­ger werden?

Zunächst nur Römer – qua Geburt oder durch Ver­lei­hung des Bür­ger­rechts. Das wur­de spä­ter aus­ge­wei­tet auf ande­re Grup­pen. Im 3. Jahr­hun­dert erhiel­ten es fast alle frei­en Reichs­be­woh­ner, womit es als Sta­tus­sym­bol ein­büß­te. Frau­en, Frem­de und Skla­ven blie­ben aber in der Regel außen vor.

Wie sah es im Mit­tel­al­ter aus?

Auch hier waren die poli­tisch berech­tig­ten Stadt­bür­ger in der Min­der­heit. Die übri­gen Bewoh­ner wur­den von ihnen als „Bei­sas­sen“ oder „Inwoh­ner“ unter­schie­den, was auch die jen­seits der Stadt­mau­ern leben­de Bevöl­ke­rung abgrenz­te. Lan­ge spie­len Ver­mö­gen oder Land­be­sitz eine wesent­li­che Rol­le, um Bür­ger zu wer­den; man muss­te ehe­lich gebo­ren sein und durf­te kei­ne uneh­ren­haf­ten Beru­fe aus­üben – etwa Scharf­rich­ter oder Totengräber.

Der „Bür­ger“ scheint heu­te als recht­lich gefass­tes Sub­jekt an Bedeu­tung zu ver­lie­ren. Mar­tin Schulz und Ange­la Mer­kel sag­ten im Bun­des­tags­wahl­kampf, sie woll­ten Reprä­sen­tan­ten aller Men­schen im Land sein.

Man muss hier zwi­schen wohl­ge­mein­ten Ges­ten und ver­fas­sungs­recht­li­chen Vor­ga­ben unter­schei­den. Recht­lich betrach­tet reprä­sen­tie­ren Kanz­ler die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, wie sie nach Grund­ge­setz­ar­ti­kel 116 bestimmt wer­den – also alle, die die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit haben, dazu weni­ge Aus­nah­men. Nur Staats­bür­ger wäh­len den Bun­des­tag, der den Kanz­ler bestimmt. Selbst in den Grund­rech­ten unter­schei­det das Grund­ge­setz zwi­schen „Jeder­manns­grund­rech­ten“ und sol­chen, die nur Staats­bür­gern vor­be­hal­ten sind. Einen Son­der­sta­tus haben Bür­ger ande­rer EU-Staa­ten; es gibt also Wandlungsprozesse.

Wie unter­schied sich deren Stel­lung in der DDR von der in der Bundesrepublik?

Auch die DDR-Ver­fas­sung nann­te Bür­ger­rech­te – den Schutz der Wür­de und der Frei­heit der Per­sön­lich­keit, Gewis­sens- und Glau­bens­frei­heit oder vor Aus­beu­tung, Unter­drü­ckung, wirt­schaft­li­cher Abhän­gig­keit. Die Rea­li­tät bewies aber, dass ein DDR-Bür­ger auf­grund man­geln­der rechts­staat­li­cher Mit­tel nichts davon zuver­läs­sig im Kon­flikt­fall gegen­über staat­li­chen Ein­grif­fen gel­tend machen konn­te. Im Zwei­fel galt, was die SED wollte.

Ist der „Bür­ger“ ein west­li­ches Kon­zept, oder gibt es ver­gleich­ba­re in ande­ren Kulturen?

Auf den ers­ten Blick han­delt es sich um eine west­li­che Idee, die über Jahr­hun­der­te euro­päi­scher Vor­herr­schaft und Kolo­nia­li­sie­rung ver­brei­tet wur­de. Gleich­wohl steckt dahin­ter ein Bün­del an Über­le­gun­gen, die sich – abge­wan­delt und mit eige­ner Begriff­lich­keit – auch andern­orts her­aus­ge­bil­det haben. Wo immer in einem Gemein­we­sen sich die Men­schen gleich­be­rech­tigt poli­ti­sche Mit­spra­che zuge­ste­hen, und wo immer poli­ti­sche Herr­schaft so orga­ni­siert ist, dass sie in bestimm­ten Rech­ten des Ein­zel­nen ihre Gren­zen fin­det, spielt auch die Idee des Bür­gers eine Rolle.

Sie spra­chen von Über­schnei­dun­gen zwi­schen Rech­ten deut­scher Staats­bür­ger und ande­rer EU-Staa­ten, die einst deut­li­cher unter­schie­den waren. Ist der „Bür­ger“ in einer Zeit, in der nicht nur von „Wut-“, son­dern auch „Welt­bür­gern“ die Rede ist, noch eine pas­sen­de Kategorie?

Glo­ba­li­sie­rung, wirt­schaft­li­che Ver­flech­tung und moder­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on haben vie­le Men­schen ein­an­der näher­ge­bracht. Vor allem Weit­ge­reis­te, gut Aus­ge­bil­de­te aus west­li­chen Gesell­schaf­ten las­sen heu­te natio­na­le Iden­ti­fi­ka­ti­ons- und Loya­li­täts­mus­ter hin­ter sich, sehen sich oft als Teil einer glo­ba­len Men­schen­ge­mein­schaft. Der Natio­nal­staat hat bis­lang aber weni­ger von sei­ner Bedeu­tung ver­lo­ren, als man­che mei­nen. Noch heu­te bestim­men vor allem Natio­nal­staa­ten das Welt­ge­sche­hen, die sich als mehr oder weni­ger geschlos­se­ne „Bür­ger­ver­bän­de“ ver­ste­hen. Klar ist auch, dass selbst die ele­men­tars­ten Men­schen­rech­te nach wie vor nur dort gel­ten, wo sie als „Bür­ger­rech­te“ von einer funk­tio­nie­ren­den staat­li­chen Ord­nung für ihre „Mit­glie­der“ durch­ge­setzt wer­den. In Chi­na, Russ­land oder gar Nord­ko­rea fin­den sich ganz ande­re Bedin­gun­gen als etwa in West­eu­ro­pa. Wer in zer­fal­len­den Staa­ten wie Soma­lia lebt, ist ganz außen vor. Das Pathos von einer Welt­bür­ger­ge­sell­schaft ist da für vie­le Men­schen nur schwer nachvollziehbar …

… zumal in ande­ren Kul­tu­ren Rech­te und Pflich­ten des Ein­zel­nen jen­seits einer oft klei­nen urba­nen Eli­te und das Ver­hält­nis zu Fami­lie oder Gesell­schaft anders bewer­tet werden.

Neben der Fra­ge, wel­che Wer­te und Insti­tu­tio­nen welt­weit durch­zu­set­zen sind, steht die nach der Legi­ti­ma­ti­on poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen. Hier beruft sich bis auf Wei­te­res auch eine Demo­kra­tie auf eine Gemein­schaft von Bür­gern, deren Rech­te und Pflich­ten in vie­len Berei­chen not­wen­di­ger­wei­se von denen abwei­chen, die kei­ne Bür­ger sind. Man kann das kri­ti­sie­ren. Doch selbst in Euro­pa ist eine ein­heit­li­che „euro­päi­sche Bür­ger­schaft“ der­zeit nicht her­stell­bar. Vor allem in Ost­eu­ro­pa deu­ten vie­le die hier­für nöti­ge Ver­la­ge­rung von Ent­schei­dungs­be­fug­nis­sen, Recht­set­zungs­kom­pe­ten­zen und Iden­ti­täts­zu­schrei­bun­gen auf die EU als Ver­such, eige­ne Selbst­be­stim­mungs­rech­te aus­zu­höh­len, für deren Her­stel­lung und Erhalt zuvor jahr­hun­der­te­lang gekämpft wurde.

Maik Herold, M.A., forscht im „Mer­ca­tor Forum Migra­ti­on und Demo­kra­tie“ an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Dresden.

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