Die eine Welt als Fluchtpunkt

Decodiert Ambrogio Lorenzettis Wandgemälde in der Sieneser Sala de la Pace eindrucksvoll: Patrick Boucherons im Berliner Wolff-Verlag erschienener Essay "Gebannte Angst - Siena 1338". Cover: Verlag
Deco­diert Ambro­gio Loren­zet­tis Wand­ge­mäl­de in der Sie­n­e­ser Sala del­la Pace ein­drucks­voll: Patrick Bou­che­rons im Wolff-Ver­lag erschie­ne­ner Essay „Gebann­te Angst – Sie­na 1338“. Cover: Verlag

Die tos­ka­ni­sche Stadt Sie­na birgt in ihrem Palaz­zo Pub­bli­co ein epo­cha­les Wand­bild, des­sen poli­ti­sche Bot­schaft bis in die Gegen­wart weist. Der His­to­ri­ker Patrick Bou­che­ron hat das soge­nann­te Fres­ko der Guten Regie­rung nun neu gedeu­tet. Was hat es uns heu­te zu sagen?

SIENA. Der ame­ri­ka­ni­sche Poli­to­lo­ge Fran­cis Fuku­ya­ma war es, der mit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on das „Ende der Geschich­te“ gekom­men sah – und dafür Prü­gel bezog. Denn das von ihm vor­aus­ge­sag­te welt­um­span­nen­de Frie­dens­zeit­al­ter aus dem Geis­te von Libe­ra­lis­mus und Markt­wirt­schaft ist aus­ge­blie­ben. Ambro­gio Loren­zet­ti sah schon vor 680 Jah­ren für der­lei Eupho­rie kei­nen Anlass, als der Maler im Palaz­zo Pub­bli­co der tos­ka­ni­schen Stadt Sie­na ein für die poli­ti­sche wie die Kunst­ge­schichts­schrei­bung epo­cha­les Werk schuf. Der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Patrick Bou­che­ron hat es nun neu gedeu­tet. Nicht nur Fach­leu­ten ist es als alle­go­ri­sches „ ‚Fres­ko‘ der Guten Regie­rung“ ein Begriff, obwohl es die „Schlech­te“ noch ein­drück­li­cher beschreibt.

Der am Pari­ser Col­lè­ge de Fran­ce leh­ren­de Autor hat die auf drei Wän­den einer Rats­stu­be ange­brach­te, mit­tel­al­ter­ty­pisch reich codier­te und so für heu­ti­ge Betrach­ter nicht ein­fach zu „lesen­de“ Arbeit, an der sich His­to­ri­ker­ge­nera­tio­nen seit lan­gem abar­bei­ten, in einem beein­dru­cken­den Essay für eine brei­te­re Öffent­lich­keit auf­ge­schlos­sen. Die Stu­die erläu­tert, unter wel­chen Umstän­den der Bild­zy­klus im Auf­trag der olig­ar­chi­schen Sie­n­e­ser Stadt­re­gie­rung der Neun 1338/39 in einem Zeit­al­ter der Angst ent­stand: Von außen droh­te der Repu­blik Krieg mit dem über­mäch­ti­gen Flo­renz, von innen Auf­be­geh­ren durch die von poli­ti­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen aus­ge­schlos­se­nen Super­rei­chen wie den armen Schichten.

Die Zeit, in der bereits eine Viel­zahl von Städ­ten in die Gewalt von Allein­herr­schern („Signo­ri“) gelangt war – etwa Mai­land, Vero­na, Fer­ra­ra, Luc­ca, Pisa –, rief nach einem Werk, das die eige­ne, vor allem die Mit­tel­schicht pro­te­gie­ren­de Ord­nung selbst­be­wusst hoch­hal­ten soll­te. Dabei kam es nicht nur dar­auf an, die repu­bli­ka­ni­sche, „gute“ Poli­tik (die mit der Demo­kra­tie im heu­ti­gen Sin­ne nicht zu ver­wech­seln ist) in einem fried­li­chen und gerech­ten Ide­al­staat zu glo­ri­fi­zie­ren und von der „schlech­ten“ Poli­tik abzu­gren­zen, schreibt Bou­che­ron, der zur Geschich­te des Mit­tel­al­ters und der Renais­sance forscht. Der Künst­ler stell­te auch die Effek­te die­ser wie jener Herr­schaft plas­tisch dar, um vor Augen zu füh­ren, dass die den Frie­den ver­spre­chen­de Allein­herr­schaft einer Per­son, Fami­lie, Par­tei meist das Gegen­teil schafft: gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt unter­gräbt, Recht außer Kraft setzt – und damit aktu­ell bleibt für alle Zei­ten. Sowas kommt von sowas.

Ent­stan­den ist eine Art His­to­rien­ge­mäl­de – tech­nisch kein Fres­ko, da nicht auf feuch­ten Putz auf­ge­tra­gen -, das eine zwar abs­trak­te Geschich­te einer Stadt zeigt, genau­so aber, wie die­se kon­kret durch Gerech­tig­keit befrie­det wird und was sie gefähr­det: Betrug, Ver­rat, Geiz, Auf­ruhr … Zu sehen ist ein Gemein­we­sen im fort­lau­fen­den Wan­del, ein poli­ti­sches, sozia­les, tech­ni­sches, kul­tu­rel­les Labo­ra­to­ri­um – etwa mit der ers­ten Dar­stel­lung einer Sand­uhr (sei­ner­zeit High­tech) oder dort, wo ein Mann einem jün­ge­ren auf die Geni­ta­li­en weist (als War­nung vor Sex zwi­schen Männern).

Eine Regie­rung, so deu­tet Bou­che­ron Loren­zet­tis Werk, sei nicht des­halb gut, weil sie von Gott ein­ge­setzt wor­den ist. Sie sei es, wenn sie gute Effek­te erzielt. Das Kunst­werk legt Zeug­nis ab von der Macht der Bil­der, davon, dass eine poli­ti­sche Idee nicht nur mit Waf­fen ver­tei­digt wird – schon damals: Dar­um wird in der Stadt im Krie­ge die Gerech­tig­keit als Gefes­sel­te dar­ge­stellt. Wo die öffent­li­che Sicher­heit wie­der­um gewähr­leis­tet ist – zu sehen als Blon­di­ne mit ent­blöß­ten Brüs­ten im ers­ten posi­tiv gedeu­te­ten west­li­chen Akt –, in der befrie­de­ten Stadt näm­lich, hängt in der Bild­spra­che der Zeit der Ver­bre­cher am Gal­gen. Jeder kön­ne nun, so sagt es die Inschrift, „sen­za pau­ra“: „ohne Angst“ wandeln. 

Es wird getanzt, Bil­dung hoch­ge­hal­ten, der Han­del flo­riert. Davon pro­fi­tiert auch das Umland. Stadt und Land sind auf­ein­an­der ver­wie­sen – in der einen Welt, lan­ge vor dem Inter­net­zeit­al­ter. Die gute Ord­nung bleibt dabei stets ange­foch­ten. Nichts ein­mal Errun­ge­nes, lässt sich laut Bou­che­ron das Bild inter­pre­tie­ren, sei end­gül­tig gesi­chert. Die Geschich­te schrei­tet vor­an. Auch Sie­na geriet bald in eine Kri­se: Der Hun­dert­jäh­ri­ge Krieg brach aus, die öffent­li­chen Schul­den wuch­sen, Wirt­schafts­be­rei­che wur­den ver­nach­läs­sigt. Spä­ter zog die Pest übers Land, der auch der Künst­ler zum Opfer fiel.

Bou­che­rons frisch geschrie­be­ne Ana­ly­se deco­diert, auch anhand eines umfas­sen­den far­bi­gen Bild­teils, nicht nur ein trotz man­cher Schä­den weit­hin über­lie­fer­tes Kunst­werk von Welt­rang unter Ein­be­zie­hung der dama­li­gen nord­ita­lie­ni­schen Poli­tik – einem euro­päi­schen Hot­spot. Der Autor weckt Tos­ka­na-Sehn­sucht und hält uns den Spie­gel vor beim Blick auf die poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart und die Bil­der, in denen wir sie deuten.

Patrick Bou­che­ron: Gebann­te Angst – Sie­na 1338. Essay über die poli­ti­sche Kraft der Bil­der, Wolff-Ver­lag, Ber­lin 2017, 270 Sei­ten, 14,90 Euro.

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