Hier wird das Rad nicht neu erfunden. Wie andere Notiz- oder Tagebücher, so ist auch dieses zunächst der Ort, an dem Gedanken, Ideen, Zitate, Reflexionen in unregelmäßigen Abständen niedergeschrieben werden, kurz: der Ort für Erlebnisse jedweder Art des Schreibers, die es seiner Meinung nach verdienen, über den Tag hinaus „gerettet“, erinnert zu werden. Notizbuch führt er, wie andere, zunächst und zuerst: für sich. Warum dann diese Prostitution? Nicht Anbiederung steht im Vordergrund, sondern: Auseinandersetzung, auch Selbstvergewisserung. Anders als beim analogen Äquivalent führt der Schreiber sie hier nicht nur mit sich selbst oder er vergewisserte sich bloß seiner, indem er das Notierte nochmals und dann vielleicht anders läse oder bedachte. Besonders, wenn auch nicht neu zu nennen wäre vielmehr die Möglichkeit des Ein‑, des Wider– und des Zuspruchs, die sich dem Leser bietet. Nicht egoistisch ist das, eher eine Form des Teilens aus verschiedenen Perspektiven unter besonderen Umständen.
Notizbuch
Dresden, 29. Januar 2023
Wer? Was? Wann? Wo? Wie? lauten die fünf W des Nachrichtenjournalismus – früh habe ich sie mir eingeprägt. Aus den Antworten kredenzt der Rechercheur die Seelenspeise der News-Junkies. Halbwertszeit, vielfach: weniger als einen Tag lang. – Weit mehr interessierte mich früh ein sechstes W, das sich mit Warum ausbuchstabieren lässt. Journalistenschulen sehen es gern Reportagen, Kommentaren, Berichten „Dresden, 29. Januar 2023“ weiterlesen
Dresden, 24. Januar 2021
Dresden, 26. Juni 2020
„Freitagmorgens zu ‚Gradel‘“ lautete bald nach dem Umzug nach Dresden Woche für Woche die selbsterteilte Weisung, die schnell Sehnsucht wurde und logische Konsequenz aus der Erkundung des näheren Wohnumfelds – bis das Coronavirus das öffentliche Leben vorderhand zum Stillstand brachte, auch Cafés oder Restaurants einstweilen schlossen. Dann wurden Baumkuchen – saftig und nicht zu süß –, eine Spezialität des Hauses, in alle Himmelsrichtungen per Post auf den Weg gegeben, um Freunde und Verwandte zu grüßen und dem vertrauten „Dresden, 26. Juni 2020“ weiterlesen
Wien, 5. August 2017
Der Wiener Naschmarkt ist ein Tummelplatz für die, die Bionade in ausgefallenen Geschmacksrichtungen suchen, das beste Hummus der Stadt, Süßkartoffeln und rote Oliven, Türkischen Honig, Schalentiere, Champagner. Der Claim von Wohlstandsjugend, Genuss-Touristen, Flaneuren. Auch ich saß heute kurz in einem der Hotspots der Premium-Fressmeile, bei „Neni“, trotz Markise in brüllender Hitze, und „Wien, 5. August 2017“ weiterlesen
Dresden, 14. Juli 2017
Ich komme aus der Provinz. Wem das Geständnis nicht genügt, der kann hier nachlesen. Dabei ist es überflüssig, „Provinz“ in An- und Ausführungszeichen zu setzen, nur um darauf hinzuweisen, dass es diese oder jene Art gibt, sie zu denken, verschiedene Deutungsweisen, Dimensionen einer „Grenzziehung“ – der Geografie nach oder mit Blick auf das, was man den Habitus der Leute nennt, das Weltbild, süffisanter: den Horizont derer, die „da“, besser, weil über das Geografische hinausweisend: in ihr leben. „Dresden, 14. Juli 2017“ weiterlesen
Dresden, 18. April 2017
„Die Priorität von Alltäglichkeit war unerträglich geworden“, schreibt der Publizist und Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer in seiner nun erschienenen autobiografischen Arbeit „ ‚Jetzt‘. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ (Berlin 2017) und charakterisiert sich als „gewissermaßen asozial begabt“. Und an anderer Stelle: „Wenn Cervantes‘ Held gegen die Windmühlen anrennt, dann nicht einfach deswegen, weil er durch die Lektüre „Dresden, 18. April 2017“ weiterlesen
Dresden, 14. November 2016
„Respekt gebietet Abstand, nicht Identifikation.“ Wer Respekt mit Harmonieerwartung verwechsele, habe die Grundlagen des liberalen Denkens missverstanden, schreibt Christian Geyer heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im Nachgang zum Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen, der bis gestern in Münster zusammengekommen war. „Gemünzt auf den Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten, von ethnischen bis hin zu solchen der sexuellen Orientierung, bedeutet dies: Wir brauchen eine Kultur des Respekts, die gerade nicht an der „Dresden, 14. November 2016“ weiterlesen
Bad Füssing, 6. August 2016
Die sozialen Online-Netzwerke scheinen den Kurs der Stunde seit Jahren vorzugeben: Wer heute dazu gehören will, muss dort möglichst viele Erlebnisse, Gedanken, Erfahrungen mit anderen teilen. Das führt nicht nur bei Prominenten wie Kelly Osborne zu Blüten wie: „Memo an mich selbst: Keine Rüben mehr essen, davon muss ich furzen“, berichtet Evelyn Röll in der „Süddeutschen Zeitung“. Sie liefert auch die Einordnung „Bad Füssing, 6. August 2016“ weiterlesen
Dresden, 21. Juni 2016
Ohne Furcht anders („verschieden“) sein können – das hatte Theodor W. Adorno in seiner Schrift „Minima Moralia“ als „besseren Zustand“ beschrieben. Ein ambitioniertes Ziel? Zweifellos, denn Adorno schrieb: „Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst „Dresden, 21. Juni 2016“ weiterlesen
Dresden, 1. März 2016
Frei nach Gilbert Keith Chesterton (1874 bis 1936) gibt es zwei Wege, mit dem In-die-Welt-geworfen-Sein umzugehen: „der eine ist, am Platz zu verharren“, hat der englische Schriftsteller, der zum Katholizismus konvertierte, in seiner Apologie „Der unsterbliche Mensch“ geschrieben. „Der andere ist, die ganze Erde zu umkreisen, bis man zu der gleichen Stelle zurückkehrt „Dresden, 1. März 2016“ weiterlesen
Dresden, 5. Februar 2016
„Die Flüchtlingsdebatte setzt inzwischen jede Art von freihändigem, durch keine Lektüre, Forschung, empirische Erfahrung oder auch nur durch zweites Nachdenken gebremstem Meinen frei“ – so hat es Herausgeber Jürgen Kaube heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über einen Vorschlag von Thomas Strothotte geschrieben. Dieser ist Präsident der „Kühne Logistics University“ in Hamburg. Der als Computergrafiker zur sachkundigen Äußerung Prädestinierte forderte gestern in der Wochenzeitung „Dresden, 5. Februar 2016“ weiterlesen
Dresden, 3. Dezember 2015
Wie viele „Krisen“ hat das 20. Jahrhundert gebracht? Unzählige – unabhängig davon, wie sie definiert, auf welchem Feld sie unter die Lupe genommen werden. Welche sind vor allem aus dessen ersten 80, 90 Jahren im Gedächtnis geblieben, jedenfalls noch immer oder immer wieder Gesprächsgegenstand? Die Kubakrise von 1962, gewiss. Letztlich aber: abgehakt, wenngleich ähnliche Bedrohungen nach wie vor denkbar sind. Auch die beiden Ölkrisen „kennt man noch“. Doch sonst? Lange vorher die Marokkokrisen – was wir davon wissen, sind ausschließlich vermittelte (Er-) Kenntnisse, nichts aus erster Hand -, ähnlich wie bei der Sudetenkrise, der sich heute nur mehr die sterbende Erlebnisgeneration erinnert. Durchweg handelt es sich um außenpolitische, zwischenstaatliche Phänomene – anders als die Weltwirtschaftskrise. Doch taugt sie als Omen in unseren Tagen? Die letzten 15, 20, 25 Jahre „Dresden, 3. Dezember 2015“ weiterlesen
Dresden, 7. Oktober 2015
Dass sich Deutschland verändert – jetzt, von Grund auf, tiefgreifend – davon wird in diesen Tagen viel geschrieben. Was nichts Besonderes wäre, weil der Lauf der Dinge, erweist sich seit Monaten als Nährboden für Frohlocken auf der einen, Angst aber auf der anderen Seite – und viel Unsicherheit dazwischen. Mal schlägt sie zur einen aus, dann zur anderen Seite, kann noch ausschlagen. Um nichts Geringeres als die Wahreit geht es – jedenfalls, was dafür gehalten wird. Anders ist das Diktum von fehlender Objektivität in den „Systemmedien“, von der „Lügenpresse“ nicht zu verstehen. Was ist Lüge, „Dresden, 7. Oktober 2015“ weiterlesen
Dresden/Stollberg, 6. September 2015
„Kriegen die mich?“ Diese Frage geht mir seit heute Mittag nicht mehr aus dem Kopf, nach einer Premiere. Von Dresden aus, kurz vor der Autobahnauffahrt Altstadt, hatte ich einen Tramper mitgenommen – und fand mich ziemlich mutig dabei. Lachen Sie nicht! „Man weiß ja nie, wer da ins Auto steigt“, damit konnte ich 15 Autofahrer-Jahre lang jeden noch so sehnsuchtsvollen Blick vom „Dresden/Stollberg, 6. September 2015“ weiterlesen
Bad Füssing, 24. Juli 2015
In Dresden wurden heute, wie ich den Nachrichten entnahm, Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes angegriffen, während sie eine Zeltstadt für Flüchtlinge errichteten. Vom DRK hieß es: „erstmals in einem zivilisierten Land“. Wohl von zwei Dutzend Rechtsextremisten, die der „Asylschwemme“, wie es seit Wochen in sozialen Netzwerken heißt, Einhalt gebieten wollen. „Zeit für Taten“ gewissermaßen – einst ein Wahlslogan der CDU. Wieder viele Blicke auf die Neuen Länder, Sachsen, Dresden. Nun ist es soweit (bin Spätzünder): Ich schäme mich, Dritten gegenüber meinen aktuellen Wohnort „Bad Füssing, 24. Juli 2015“ weiterlesen
Bad Gastein, 23. Juli 2015
Rückkehr nach elf Jahren auf der Durchreise. Meine Erinnerung bestätigt sich: aus der Zeit gefallene Märchenwelt (im 16. Jahrhundert wegen beträchtlicher Goldvorkommen die zweitreichste Stadt des Landes nach Salzburg). Heute: An die Steilhänge über mehrere Ebenen geschmiegte Ruinenpracht, geteilt von einem gewaltigen Wasserfall. Seit Jahren wird im Blätterwald von Auferstehung gemunkelt, seit neue „Art“- oder „Design-Hotels“ mit viel Hipster-Chic entstanden, einige wenige „Bad Gastein, 23. Juli 2015“ weiterlesen
Castel Gandolfo, 17. Juli 2015
Benedikt XVI. ist erst vor drei Tagen aus der päpstlichen Sommerresidenz zurück nach Rom gefahren, während ich heute zufällig in der Kleinstadt oberhalb des Albaner Sees Zeuge einer Hochzeit wurde, in Berninis gar nicht so kleiner Kuppelkirche San Tommaso da Villanova, schräg gegenüber dem Villenkomplex. Zuerst schlugen die Fotografen auf. Dann trudelte die Gesellschaft ein, zuletzt die Braut, die von ihrem Vater zum Altar geleitet wurde. Soweit, so gewöhnlich. Vor dem Café gegenüber, auf der Piazza della Libertà sitzend, konnte ich all das sehen. Der Hitze wegen stand die Kirchentür die ganze Zeit offen. Kaum nahm indes „Castel Gandolfo, 17. Juli 2015“ weiterlesen
Rom, 12. Juli 2015
Premiere – das erste Mal in der Ewigen Stadt. Schon nach wenigen Stunden – das Apartment, 250 Meter vom Petersplatz entfernt, ist gerade erst bezogen – stellt sich ein eigenartiges Gefühl ein, eine Art Aus-der-Zeit-gefallen-Sein, ein die Jetztzeit-Zeugenschaft Hinter-sich-lassen, besser: ein Herausgenommen‑, Herausgezogen-werden aus der Gegenwart. Hinein in größere (historische, philosophische, religiöse, architektonische) Zusammenhänge. Trotz so gegenwärtiger, zudringlicher Erscheinungen wie des Massentourismus, viel Hundert Meter langer Warteschlangen vor Sankt Peter oder den Vatikanischen Museen, „Rom, 12. Juli 2015“ weiterlesen
Chemnitz/Langenhessen, 10. Juli 2015
Gestern an der Wursttheke: Die Dame vor mir in hohen Schuhen, gertenschlank und in bestem Alter, sie ordert „eine Scheibe Lachsschinken“ und „eine Wiener, aber kein ganzes Paar, bitte“. Schließlich „80 Gramm Hackepeter“ – für „meinen Mann“, schiebt sie beinahe entschuldigend nach. Prompt erinnere ich mich an meine Kindheit, 25 Jahre her ist das, als ich beim Fleischer anstand, wo der Chef selbst bediente. Um „zwei Pfund Schweinemund“ bat damals eine Frau in gesetztem Alter. „Mir hättn och drey!“, antwortet „Chemnitz/Langenhessen, 10. Juli 2015“ weiterlesen