Dresden, 26. Juni 2020

Bei­des: Aus­bruch und Inne­hal­ten, ein­mal mehr – Don­ners­tag, 4. Janu­ar 2024. Die Eier­spei­se wird noch ser­viert. Foto: Micha­el Kunze

„Frei­tag­mor­gens zu ‚Gra­del‘“ lau­te­te bald nach dem Umzug nach Dres­den Woche für Woche die selbst­er­teil­te Wei­sung, die schnell Sehn­sucht wur­de und logi­sche Kon­se­quenz aus der Erkun­dung des nähe­ren Wohn­um­felds – bis das Coro­na­vi­rus das öffent­li­che Leben vor­der­hand zum Still­stand brach­te, auch Cafés oder Restau­rants einst­wei­len schlos­sen. Dann wur­den Baum­ku­chen – saf­tig und nicht zu süß –, eine Spe­zia­li­tät des Hau­ses, in alle Him­mels­rich­tun­gen per Post auf den Weg gege­ben, um Freun­de und Ver­wand­te zu grü­ßen und dem ver­trau­ten Haus an der Weh­le­ner Stra­ße 28 ander­wei­tig nahe zu sein und von sei­nen Erzeug­nis­sen zu zehren.

Was wäh­rend­des­sen fehl­te, wog den­noch schwer: der Aus­bruch aus der All­tags­rou­ti­ne, für eine oder andert­halb Stun­den, dazu das „gro­ße Früh­stück“, zu dem ein Känn­chen Kaf­fee, Sala­mi- und Käse­aus­wahl, die eine Woche die­se, die ande­re jene Bröt­chen, Mar­me­la­de und die zusätz­lich geor­der­te Por­ti­on Rühr­ei mit Schin­ken gereicht wer­den, oft noch eine wei­te­re Tas­se Kaf­fee und, weil ich bei der Bezah­lung an der The­ke nicht vor­bei­kom­me, ein, zwei kugel­run­de haus­ge­fer­tig­te Pra­li­nés als Fina­le. Zu die­sem „Pro­gramm“ gehört auch eine der ört­li­chen Tages­zei­tun­gen, die Seni­or­che­fin Moni­ka Gra­del stets – nach anfäng­li­chem Fra­gen, bald ohne – direkt aus dem Brief­kas­ten, doch mit immer glei­cher Bit­te um Nach­sicht her­bei­schafft, dass sie noch nicht im Café liegt: Man kom­me selbst kaum zum Lesen, jeden­falls nicht vor dem Abend, wenn das Tag­werk verrichtet.

Das Zei­tungs­an­ge­bot ist spär­lich. Die Nach­fra­ge fehlt. Alles fließt. Papier­ne Pres­se­er­zeug­nis­se, die einst zum Inven­tar von Kaf­fee­häu­sern zähl­ten, gera­ten aus der Mode wie ihre frü­he­ren Her­ber­gen. Doch die gerin­ge Anzahl mor­gend­li­cher Gäs­te, die hier an ihrer Tas­se Kaf­fee nippt, speist, mit­ein­an­der gedämpft plau­dert, hat ihr Gutes für den Unge­stört­heit suchen­den Stamm­gast, auch wenn die Haus­lei­tung hart dar­an trägt, nicht vom Tou­ris­ten­strom zu pro­fi­tie­ren, der sich täg­lich durch die Alt­stadt wälzt. Denn bei der raren Anzahl Gleich­ge­sinn­ter, die dem Café die Auf­war­tung macht, wäh­rend der Laden schon stär­ker fre­quen­tiert ist, han­delt es sich meist ledig­lich um eini­ge Leh­rer aus dem nahen Schul­kom­plex – oder Trau­ern­de. Letz­te­re brin­gen hier man­che Stun­de war­tend zu, bis sie auf dem gegen­über­lie­gen­den Fried­hof mit der von Reichs­tags­ar­chi­tekt Paul Wal­lot mäch­tig über­kup­pel­ten Kapel­le von ihren Lie­ben Abschied neh­men – oder erst im Anschluss, um die Mit­tags­stun­de, zu „Gra­del“ wech­seln. So hat der Besu­cher den lan­gen Schlauch, der sich wie der senk­rech­te Bal­ken des Buch­sta­bens „L“ an das Laden­ge­schäft schmiegt, oft als Gast­raum für sich. Einst befand sich hier die Back­stu­be, die in ein Sei­ten­ge­bäu­de auf dem Grund­stück umge­zo­gen ist.

Frau Gra­del, frü­her eine begeis­ter­te Thea­ter­gän­ge­rin, seit Jah­ren aber ganz vom Betrieb gefor­dert, hat­te mit ihrem Mann Wolf­gang, Kon­di­tor­meis­ter und Sohn der vor­he­ri­gen Inha­ber, in drit­ter Genera­ti­on, 1977, das Haus von des­sen Eltern Ger­hard und Anni über­nom­men. Ger­hards Vater, der Kon­di­tor- und Pfef­fer­küch­ler­meis­ter Max, und Mut­ter Olga waren es, die es 1919 zunächst an der Strie­se­ner Stra­ße eröff­ne­ten. Dort war das Geschäft im Zwei­ten Welt­krieg aus­ge­bombt wor­den. Der Neu­an­fang gelang, „trotz der Wir­ren des Sozia­lis­mus“, wie die Fami­lie über die Nach­kriegs­zeit schrieb, stadt­aus­wärts: in Tol­ke­witz, Stra­ßen­bahn­li­nie 4, Hal­te­stel­le „Johan­nis­fried­hof“. Vom frü­he­ren Laden und dem Café ist auch am nun­meh­ri­gen Stand­ort kaum noch etwas zu ahnen. Nach 1989 wur­de grund­le­gend moder­ni­siert, doch das Inte­ri­eur hat längst lie­bens­wür­dig Pati­na angesetzt.

Das ist kein Cof­fee­shop, will auch kei­ner sein. Hier darf der Gast ankom­men, ras­ten – muss nicht davon­has­ten, mit dem „Cof­fee to go“, den es im Laden für Eili­ge den­noch gibt. Das Haus zollt der Zeit Tri­but und ist sich doch unter der Regie der vier­ten Genera­ti­on mit Jens und Syn­ke Gra­del treu­ge­blie­ben. Sie haben im April 2012 den Staf­fel­stab über­nom­men und einen Online­shop für die Kon­di­to­rei- und Pâtis­se­rie-Spe­zia­li­tä­ten des Hau­ses ein­ge­rich­tet, die natio­nal und inter­na­tio­nal Aner­ken­nung ein­tru­gen – von der Gold­me­dail­le beim Culi­na­ry World­cup 2002 in Luxem­burg als Ange­hö­ri­ge der Natio­nal­mann­schaft der Köche Deutsch­lands bis zum Gewinn des „Batt­le for the Lion“ in Sin­ga­pur, vier Jah­re spä­ter, mit Jens Gra­del als Chef-Pâtis­sier eben­je­ner Equi­pe. Dresd­ner Christ­stol­len, Baum‑, Honig- und alle Arten sons­ti­ger Kuchen und Tor­ten oder Petit Fours muss des­halb bei „Gra­del“ nie­mand mis­sen. Dass hier Schrift­stel­ler oder Künst­ler zu Stamm­gäs­ten wur­den, ist den­noch nicht über­lie­fert. Nach­voll­zie­hen lässt sich das schwer.

Irgend­wann ist das Café im „Coro­na-Jahr“ wie­der auf­ge­sperrt, der Stamm­gast kehrt zurück, ordert – noch an der Aus­la­ge, schon aber strah­lend – ein Stück Dresd­ner Eier­sche­cke und eines von der Sacher­tor­te. „Sie kämp­fen wei­ter, Frau Gra­del?“ „Na, hilft doch nüscht“, sagt die Seni­or­che­fin. Doch, hilft!

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