Kapsel auf mittelsächsischem Dorfkirchturm gibt ideellen Schatz preis

Die Hohl­ku­gel unter­halb des Turm­kreu­zes in Erd­manns­dorf ist bei der gegen­wär­ti­gen Sanie­rung geöff­net wor­den. Offen­bar wur­de dabei auch eine spre­chen­de Erin­ne­rung an die poli­ti­schen Ver­hält­nis­se der frü­hen DDR-Jahre.

ERDMANNSDORF. Nur weni­ge Tage ist es her, als Dach­de­cker, Ange­hö­ri­ge der evan­ge­lisch-luthe­ri­schen Kirch­ge­mein­de und Pfar­rer Uwe Wink­ler einen klei­nen Schatz aus der Kap­sel unter dem Kirch­turm­kreuz in Erd­manns­dorf zogen. „Eigent­lich war ich zunächst ein biss­chen ent­täuscht über den Inhalt“, sag­te Wink­ler im Nach­gang. Die Kap­sel barg eine bis­lang unda­tier­te gedrech­sel­te Holz­kar­tu­sche, eine wei­te­re glat­te, schma­le­re aus Kup­fer von 1959, dazu eine Glas­fla­sche und ein grö­ße­res Papier­stück, des­sen Beschrif­tung durch Wit­te­rungs­ein­flüs­se weit­ge­hend unkennt­lich gewor­den ist. Als Wink­ler vor Jah­ren an einer Kirch­sa­nie­rung im erz­ge­bir­gi­schen Städt­chen Thum mit­wirk­te, habe ein ähn­li­cher Behäl­ter gar alte Mün­zen beinhaltet.

Der­ar­ti­ge Stü­cke sind in Erd­manns­dorf (Kreis Mit­tel­sach­sen) nicht aus der etwa 80 Zen­ti­me­ter Durch­mes­ser auf­wei­sen­den Kap­sel gerollt, dafür ein sechs­sei­ti­ger Bericht zur Instand­set­zung des Turms der Tri­ni­ta­tis­kir­che vom Juni 1959. Die­ser offen­bart einen sel­ten plas­ti­schen Ein­druck von der Nach­kriegs­zeit unter DDR-Bedin­gun­gen. Aus dem vom dama­li­gen Pfar­rer Wer­ner Balt­zer unter­zeich­ne­ten Doku­ment spricht sehr offe­ne Kri­tik an den poli­tisch-wirt­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen und an der deut­schen Tei­lung. So klar wie sie aus­fällt, wäre es ihren Urhe­bern wohl schlecht ergan­gen, hät­ten offi­zi­el­le Stel­len davon Wind bekommen.

Doku­ment eines unglei­chen Kampfes

Etli­che Pas­sa­gen aus dem Text schil­dern eine Art Kir­chen­kampf auf loka­ler Ebe­ne, der für Wal­ter Ulb­richts ers­te Regie­rungs­jah­re seit 1949 DDR-weit nach­weis­bar ist: „Schie­fer war und ist auch noch jetzt Man­gel­wa­re, obwohl er in dem nahen Thü­rin­gen gebro­chen wird“, schreibt Pro­to­kol­lant Johan­nes Irm­scher. Der war sei­ner­zeit laut Hob­by­his­to­ri­ker Sieg­fried Kem­pe Mit­glied im Kir­chen­vor­stand der Gemein­de. Und wei­ter: „Durch­weg wird der gute Schie­fer ins Aus­land expor­tiert (wozu gegen­wär­tig auch der west­li­che Teil Deutsch­lands gerech­net wird), bezie­hungs­wei­se nur für von staat­li­chen Regie­rungs­stel­len wich­ti­ge Bau­pro­jek­te frei­ge­ge­ben.“ Da Zink­blech, Kup­fer­nä­gel oder halt­ba­re Far­be für die Turm­uhr­zif­fern­blät­ter in der DDR nicht zu haben waren, soll­ten sie aus West­deutsch­land ein­ge­führt wer­den. „Die öst­li­chen staat­li­chen Behör­den waren aber zunächst nicht bereit, einem Ein­fuhr­an­trag statt­zu­ge­ben. Poli­ti­sche und über­haupt Pres­ti­ge­grün­de hin­der­ten sie dar­an“, so Irm­scher. „Rund zwei Jah­re muß­ten wir als Kir­che war­ten, bis die Unter­schrif­ten zur Zustel­lung der Bau­stof­fe gege­ben waren. Sol­che Ein­fuhr von 15 Zink­blech­ta­feln – die noch vor 15 Jah­ren jeder Klemp­ner­meis­ter am Lager hat­te – bedurf­te der Geneh­mi­gung durch die Stel­len des Minis­te­ri­ums der Regie­rung von Ostdeutschland.“

Dass die Ein­schüch­te­rung von Gläu­bi­gen selbst in klei­nen Ort­schaf­ten weit über die Erschwe­rung der­ar­ti­ger Sanie­rungs­maß­nah­men hin­aus­ging, belegt der Bericht anhand­des­sen, wie der Staat einen Keil zwi­schen Kir­che und Jugend zu trei­ben such­te. „Von direk­ter Het­ze des Staa­tes gegen die All­macht Got­tes ist weni­ger der Got­tes­dienst als viel­mehr der Unter­richt unse­rer Chris­ten­leh­re­kin­der und ganz beson­ders der Kon­fir­man­den bedroht“, notiert Irm­scher. „Die Kin­der sol­len durch soge­nann­te wis­sen­schaft­li­che Auf­klä­rung dem Evan­ge­li­um ent­frem­det wer­den und statt der hei­li­gen Tau­fe der welt­li­chen Namens­ge­bung und statt der jahr­hun­der­te­al­ten Kon­fir­ma­ti­on der sozia­lis­tisch-mate­ria­lis­ti­schen Jugend­wei­he zuge­führt wer­den, was den Athe­is­mus zur Fol­ge haben dürf­te.“ Sonn­tags, berich­ten Pfar­rer Balt­zer und Pro­to­kol­lant Irm­scher, erschei­nen – Stand: Som­mer 1959 – durch­schnitt­lich 100 Gemein­de­glie­der in der Kir­che. Mitt­ler­wei­le ist es ein Bruchteil.

„Oft auch nur … Pfennigbeträge“

Die Sanie­rung dräng­te 1959 jeden­falls, da sie schon zwan­zig Jah­re vor­her hat­te umge­setzt wer­den sol­len, doch wegen Krieg und Pfar­r­erwech­sel unter­blie­ben war. Trotz­dem hät­ten staat­li­che Stel­len über drei Jah­re hin­weg „kein Stück Mate­ri­al“ gebil­ligt. Mög­lich wur­de die dama­li­ge Instand­set­zung nur, da Hand­wer­ker aus eige­nen Bestän­den aus­hal­fen. Stän­dig aber fehl­te Geld. Um die finan­zi­el­len Belas­tun­gen „ver­kraf­ten zu kön­nen, gin­gen neun Gemein­de­glie­der … unter Lei­tung des Orts­pfar­rers mit Ver­kün­di­gungs­spie­len auf Fahrt durch die Umge­gend und erba­ten sich Kol­lek­ten­gel­der …“ Selbst arme Gemein­de­glie­der hät­ten „oft auch nur … Pfen­nig­be­trä­ge“ monat­lich gespen­det in einer Zeit, in der eins­ti­ge wich­ti­ge För­de­rer der Kir­che wie die letz­ten hier­le­ben­den Ver­wand­ten der Indus­tri­el­len-Dynas­tie Meis­ter „ihre Hei­mat Erd­manns­dorf schwe­ren Her­zens ver­las­sen“, um in den Wes­ten zu gehen. Die Nach­tei­le, mit denen die Kir­che von amt­li­cher Sei­te aus zu kämp­fen hat­te, gin­gen laut Pro­to­koll so weit, dass die Ver­put­zung des Kirch­turms ver­bo­ten wur­de – „obwohl bekannt war, daß das Gerüst für cir­ka 9000 DM bereits stand und aus­ge­nutzt wer­den mußte“.

Unter dem Ein­satz vie­ler Ehren­amt­li­cher, die in Fei­er­abend­ar­beit mit­hal­fen, konn­te die Sanie­rung schließ­lich umge­setzt wer­den. Dabei lesen sich die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Kir­che und Staat, die der Bericht wie­der­gibt, ein wenig wie jene, von denen die Don-Camil­lo-Rei­he berich­tet, die nicht zufäl­lig zur glei­chen Zeit gedreht wur­de. Die Rea­li­tät jener Jah­re, folgt man dem Erd­manns­dor­fer Doku­ment, bot dabei weit sel­te­ner Gele­gen­heit zu Kom­pro­mis­sen, als sie die Strei­fen aus Nach­kriegs­ita­li­en trotz der spiel­fil­mi­schen Behand­lung des The­mas nahe­le­gen: So schlie­ßen Johan­nes Irm­scher und Pfar­rer Balt­zer mit „der instän­di­gen Bit­te und mit hei­ßem Fle­hen, daß Gott uns bald ein wie­der­ver­ei­nig­tes, fried­li­ches Deutsch­land gebe“.

Wenn die Turm­kap­sel in zwei Mona­ten nach Sanie­rungs­ab­schluss wie­der in 53 Metern Höhe instal­liert wird, soll der Inhalt nach Vor­ga­ben der Lan­des­kir­che um eini­ge Stü­cke ergänzt wer­den, sagt Uwe Wink­ler. Dazu zäh­len ein Gemein­de­brief, um die Akti­vi­tä­ten der Pfar­rei zu doku­men­tie­ren, eine aktu­el­le Aus­ga­be der loka­len Tages­zei­tung, Mün­zen und Doku­men­te der Bau­fir­men. Selbst Papier­art und Stif­te, die für die Aus­fer­ti­gung der Unter­la­gen ver­wen­det wer­den dür­fen, sind vor­ge­schrie­ben – aus einem nahe­lie­gen­den Grund: „Dass ein Schrift­stück in Hun­dert Jah­ren nicht mehr les­bar ist, wie wir es nun ja erlebt haben, soll sich nicht wie­der­ho­len“, sagt er. Es darf daher nur beson­ders wit­te­rungs­be­stän­di­ges Mate­ri­al zum Ein­satz kommen.

Kap­sel auf mit­tel­säch­si­schem Dorf­kirch­turm gibt ideel­len Schatz preis: 1 Star2 Stars3 Stars4 Stars5 Stars
5,00 von 5 Punk­ten, basie­rend auf 6 abge­ge­be­nen Stimmen. 
Loading…
Share this: 
Share this page via Email Share this page via Facebook Share this page via Twitter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert