„Ich habe kein Verständnis für eine Neiddebatte“

Herr Ober­bür­ger­meis­ter Jung, in den ver­gan­ge­nen Wochen haben Bür­ger­meis­ter aus dem Ruhr­ge­biet, durch­weg mit SPD-Par­tei­buch, die bis­he­ri­ge Finan­zie­rung des Auf­baus Ost in Fra­ge gestellt. Kön­nen Sie die Kri­tik nachvollziehen?

Burk­hard Jung: Einer­seits stimmt: Dort­munds Ober­bür­ger­meis­ter Ull­rich Sier­au hat sich im Ton ver­grif­fen. Zum ande­ren habe ich auch Ver­ständ­nis für die Lage der nord­rhein-west­fä­li­schen Kom­mu­nen, die seit Jahr­zehn­ten über Kas­sen­kre­di­te ihre Haus­hal­te finan­zie­ren. Wir ken­nen die finan­zi­el­len Nöte nur zu gut: Stra­ßen und Brü­cken kön­nen nicht repa­riert, die Kin­der­ta­ges­stät­ten und Schu­len nicht saniert wer­den. Ich habe aber über­haupt kein Ver­ständ­nis für eine Neiddebatte.

Sie ken­nen bei­de Sei­ten – Sie sind im west­deut­schen Sie­gen auf­ge­wach­sen und 1991 nach Leip­zig gekom­men. Was lernt man daraus?

In Sie­gen hat­ten wir auch Pro­ble­me. Die Stadt war in einer schwe­ren Umbruch­si­tua­ti­on, die der Nie­der­gang der Stahl­in­dus­trie her­vor­rief. Vie­le Men­schen rutsch­ten in Arbeits­lo­sig­keit, Schwimm­bä­der konn­ten nicht saniert wer­den, 20 Jah­re wur­de auf ein Thea­ter gewar­tet. Aber ange­sichts der wahn­sin­ni­gen — und die­ses Wort ver­wen­de ich ganz bewusst —, ange­sichts der wahn­sin­ni­gen Situa­ti­on, vor der man 1990 im Osten stand, als eine kom­plett unzu­rei­chen­de Infra­struk­tur erneu­ert und aus­ge­baut wer­den muss­te, soll­ten wir doch die Maß­stä­be nicht ver­schie­ben. Allein in Leip­zig sind in den frü­hen neun­zi­ger Jah­ren 110.000 Indus­trie­ar­beits­plät­ze weg­ge­fal­len. Die­ses Pro­blem anzu­ge­hen war und ist nicht mög­lich ohne soli­da­ri­sche Hil­fe Gesamt­deutsch­lands. Die Her­aus­for­de­run­gen hier ste­hen in kei­nem Ver­hält­nis zu den Chan­cen und Pro­ble­men West­deutsch­lands, die dort über Jahr­zehn­te wuchsen.

Wirk­lich neu sind doch aber die Her­aus­for­de­run­gen nicht, vor denen man­che Städ­te im Wes­ten stehen.

Genau. Und beson­ders die psy­cho­lo­gi­sche Situa­ti­on müs­sen wir jen­seits des Wahl­kampf­ge­plän­kels beden­ken. In Leip­zig geht es auf­wärts, Schritt für Schritt wird es bes­ser. Das Ruhr­ge­biet aber schrumpft seit 40, 50 Jah­ren. Wir hat­ten das nur zehn, 15 Jah­re, jetzt sind wir wie­der im Wachstum.

Kön­nen Sie die psy­cho­lo­gi­sche Kom­po­nen­te kon­kret machen?

Ja, das kann ich. Vor eini­ger Zeit hielt ich einen Vor­trag in Bochum. Da saß ein Mann mit einem T‑Shirt im Publi­kum, auf dem stand: „Anders­wo is’ auch schei­ße!“ Das ist zwar der typi­sche Ruhr­pott­witz. Aber die Bege­ben­heit zeigt auch, dass es oft­mals an Selbst­ver­trau­en und Zuver­sicht fehlt. Die Stim­mung ist völ­lig anders als bei uns, manch­mal depressiv.

Tra­gen die West­städ­te, die es ver­passt haben, Struk­tu­ren anzu­pas­sen, ihre Ver­säum­nis­se auf dem Rücken der neu­en Län­der aus?

Nur bedingt. Man muss sich jeden Ein­zel­fall anschau­en. Es gibt Unter­schie­de zwi­schen Dort­mund und Ober­hau­sen, Düs­sel­dorf und Wup­per­tal. Die Trans­for­ma­ti­ons­her­aus­for­de­run­gen sind schon inner­halb Nord­rhein-West­fa­lens unter­schied­lich, erst recht, wenn man sich die Lage in West­deutsch­land ins­ge­samt anschaut. Es gilt aber auch, dass wir fair mit­ein­an­der umge­hen müs­sen. Die Situa­ti­on vor allem im Ruhr­ge­biet ist nicht das Resul­tat einer Poli­tik der letz­ten 20 Jah­re, wo Soli­dar­pakt­mit­tel durch Aus­gleich­me­cha­nis­men in den Osten geflos­sen sind, son­dern sie ist das Ergeb­nis einer end­lo­sen Geschich­te, manch­mal über sei­ne Ver­hält­nis­se zu leben — und/oder finan­zi­ell nicht ver­nünf­tig von Bund und Län­dern aus­ge­stat­tet wor­den zu sein. Gera­de Nord­rhein-West­fa­len hat sei­ne Kom­mu­nen über Jahr­zehn­te im Stich gelas­sen. Und dabei ist fast neben­säch­lich, wer im Land regiert.

Wie kann es Leip­zig schaf­fen, bis 2019, wenn der Soli­dar­pakt II aus­läuft, auf eige­nen Füßen zu stehen?

Dazu müs­sen wir wie bis­her eine Wirt­schafts- und Indus­trie­po­li­tik machen, die auf Ansied­lun­gen und Bestands­pfle­ge setzt. Ich weiß aber auch, dass wir in den nächs­ten Jah­ren ohne Hil­fe der Län­der und des Bun­des sowie eine Umschich­tung von Finan­zie­rungs­strö­men hin nach Ost­deutsch­land flä­chen­de­ckend nicht erfolg­reich sein kön­nen. Im säch­si­schen Ver­gleich, das müs­sen wir ein­ge­ste­hen, waren Chem­nitz und Dres­den in punc­to Arbeits­lo­sig­keit und Wirt­schafts­kraft lan­ge Zeit bes­ser als Leip­zig. Aber wir holen deut­lich auf. Als ich 2006 Ober­bür­ger­meis­ter wur­de, hat­ten wir 22 Pro­zent Arbeits­lo­sig­keit, jetzt sind es 11 Pro­zent. Trotz der guten Ergeb­nis­se der letz­ten Jah­re brau­chen wir den­noch wei­ter die gesamt­deut­sche Soli­da­ri­tät, um das Erreich­te nicht zu gefährden.

Wie soll es Ihrer Mei­nung nach von 2019 an mit dem Auf­bau Ost weitergehen?

Wir wis­sen ganz genau: 2019 müs­sen wir auf eige­nen Bei­nen ste­hen. Da muss ein Haus­halt der Stadt Leip­zig ohne Soli­dar­pakt­mit­tel aus­kom­men. Kein Mensch glaubt dar­an, dass es einen Soli­dar­pakt III nur für den Osten geben wird. Und doch brau­chen wir auch nach 2019 wei­ter Finanz­aus­gleich­me­cha­nis­men je nach Betrof­fen­heit und Ver­schul­dungs­grad, aller­dings unab­hän­gig von der Him­mels­rich­tung. Da bin ich bei den Kol­le­gen in NRW. Jetzt aber unse­re gesam­te Finanz­po­li­tik in Fra­ge zu stel­len, die dar­auf aus­ge­rich­tet ist, 2019 auf eige­nen Füßen zu ste­hen, hal­te ich für grund­falsch. Und auf abseh­ba­re Zeit wer­den wei­ter­hin die meis­ten Kom­mu­nen im Osten lie­gen, die beson­ders geför­dert wer­den müssen.

Füh­len Sie sich in Sach­sen in Ihren Anstren­gun­gen aus­rei­chend von der schwarz-gel­ben Staats­re­gie­rung in Dres­den gewürdigt?

Lei­der nicht in dem Maß, wie wir uns das wün­schen und wie es der Grö­ße der Stadt ent­spre­chend ange­mes­sen wäre. Für die Dres­de­ner Poli­tik ist das mit­tel­deut­sche Zen­trum oft weit weg.

Wo steht Leip­zig heu­te im deutsch­land­wei­ten Vergleich?

Von unse­rem Anspruch her gehö­ren wir natür­lich zu den Top Ten der Bun­des­re­pu­blik — und vom Poten­ti­al her ist das auch so. Von der gefühl­ten Bedeu­tung sind wir sogar euro­päi­sche Metro­po­le. Im Hin­blick auf die Wirt­schafts­kraft sind wir aber oft ver­län­ger­te Werk­bank und abhän­gig von Sub­ven­tio­nen. Denn: Wir sind eine wach­sen­de Stadt mit 530.000 Ein­woh­nern, haben jedoch nur ein Gewer­be­steu­er­auf­kom­men von knapp 200 Mil­lio­nen Euro. Da lacht man in Stutt­gart, Han­no­ver, Düs­sel­dorf, ja sogar in Duis­burg. Wir müs­sen uns immer wie­der klar­ma­chen, wie die Wirt­schafts­kraft tat­säch­lich ver­teilt ist. Dabei gehört Leip­zig zu den Leucht­tür­men im Osten. Wir müs­sen unser Gewer­be­steu­er­auf­kom­men bis 2019 ver­dop­peln, um über­haupt eine Chan­ce zu haben, auf eige­nen Füßen zu stehen.

Wie wol­len Sie das schaffen?

Alles geht nur Stück für Stück. Ich glau­be, gro­ße Neu­an­sied­lun­gen wer­den in den nächs­ten Jah­ren kaum mög­lich sein. Inso­fern set­zen wir auf den Aus­bau des Bestands. Wir sind stolz, dass BMW und Por­sche so sehr auf Leip­zig set­zen. Die Ent­wick­lung der bei­den Stand­or­te hat ja im Hin­blick auf die Fir­men­ren­ta­bi­li­tät, auf die volks­wirt­schaft­li­chen Effek­te, im Hin­blick auf wei­te­re Arbeits­plät­ze enor­me Bedeu­tung. Im Umfeld der gro­ßen Ansied­lun­gen muss nun der Mit­tel­stand vor­an­ge­bracht wer­den, im Bereich der Zulie­fe­rer, der Logis­tik, über DHL wol­len wir wei­te­re Ansied­lun­gen schaf­fen. Wenn die Tele­kom ent­schei­det, ihr Dienst­leis­tungs­zen­trum für Mit­tel­deutsch­land wei­ter aus­zu­bau­en – es kommt der zwei­te Bau­ab­schnitt -, wenn Ama­zon, Küh­ne-Nagel, Schen­ker sich für Leip­zig ent­schie­den haben, zeigt das, wir sind auf dem rich­ti­gen Weg.

Dabei fehlt der so wich­ti­ge Mit­tel­stand als Stand­bein so vie­ler süd­deut­scher Regio­nen in Ost­deutsch­land noch weit­ge­hend. Haben Sie zu sehr auf die Gro­ßen gesetzt?

Die Rea­li­tät in punc­to Mit­tel­stand ist tat­säch­lich, dass rar gesä­te Unter­neh­men wie der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­dienst­leis­ter Kom­sa etwa, der sei­nen Sitz nörd­lich von Chem­nitz hat, bei uns weit­ge­hend feh­len – also der wirk­li­che Mit­tel­stand, von dem es im Süd­wes­ten Deutsch­lands in jedem Land­kreis meh­re­re gibt. 28.000 Unter­neh­men in unse­rer Stadt haben weni­ger als zehn Mit­ar­bei­ter. Über die­se Betrie­be freu­en wir uns sehr, denn sie schaf­fen das Gros der Arbeits­plät­ze. Ich kann aber die Fir­men mit der Hand zäh­len, die in den letz­ten Jah­ren Grö­ßen erreicht haben, wie wir sie aus dem Schwarz­wald ken­nen. Und den­noch: Es gibt eine neue Krea­tiv­wirt­schaft, Unter­neh­men aus dem Inter­net­sek­tor, Dienst­leis­ter, Zulie­fe­rer, Fir­men aus der Alu­mi­ni­um­in­dus­trie, Gie­ße­rei­en, zum Teil mit bis zu 500, 600 Mit­ar­bei­tern. Noch fehlt Eigen­ka­pi­tal, aber es ent­wi­ckelt sich.

Wel­che Rol­le spielt in die­sem Zusam­men­hang eine gute Ver­kehrs­an­bin­dung für Leip­zig? Wie beur­tei­len Sie die Nacht­flug­mög­lich­keit des Flughafens?

Der Flug­ha­fen mit Nacht­flug­mög­lich­keit ist ein Rie­sen­pfund. Ganz ehr­lich: Ich freue mich über die Nacht­flug­op­ti­on. Dass Sie mich nicht falsch ver­ste­hen: Natür­lich gibt es Men­schen, die unter Flug­lärm lei­den. Wir haben Beein­träch­ti­gun­gen, aber ich muss das Gan­ze sehen und abwä­gen. Das DHL-Luft­dreh­kreuz und die Nacht­flug­op­ti­on sind ein zen­tra­ler Wett­be­werbs­fak­tor, die gute logis­ti­sche Lage am Auto­bahn­kreuz, die Infra­struk­tur über Glas­fa­ser­net­ze sind es ebenso.

Im Durch­schnitt geht es den Kom­mu­nen in Deutsch­land so gut wie lan­ge nicht mehr. Ein Grund zum Jubeln?

Die Finanz­la­ge der Kom­mu­nen hat sich ins­ge­samt ver­bes­sert, auch bei uns. Hät­te uns das größ­te Unter­neh­men Ost­deutsch­lands, die Ver­bund­netz Gas-AG, die Steu­ern erbracht, mit denen wir in den ver­gan­ge­nen Jah­ren rech­nen konn­ten, dann wären wir sehr, sehr gut unter­wegs gewe­sen. Aber auch so haben wir eine Stei­ge­rung. Das macht mich hoff­nungs­froh, dass wir 2020 einen aus­ge­gli­che­nen Haus­halt vor­le­gen kön­nen. Wir erwirt­schaf­ten aber noch immer kei­ne Über­schüs­se, um zu inves­tie­ren. Wir müs­sen die Stadt wei­ter kon­se­quent ent­schul­den – um Got­tes Wil­len kei­ne Neu­ver­schul­dung! Dafür haben wir auch eine Mehr­heit im Stadt­rat; der Haus­halt ist ver­ab­schie­det, mit einer zusätz­li­chen Schul­den­til­gung. Struk­tu­rell feh­len uns aber noch immer 200 Mil­lio­nen Euro Gewerbesteuer.

Und des­halb müs­sen Sie wie vie­ler­orts in Ost und West Schu­len und Kin­der­gär­ten schlie­ßen, bei den frei­wil­li­gen Auf­ga­ben im Sozi­al­be­reich kürzen?

Wir haben ein ganz ande­res Pro­blem: Leip­zig wächst. Bei uns wer­den so vie­le Kin­der gebo­ren wie auch zu DDR-Zei­ten nicht. Wir haben Zuwan­de­rung, müs­sen Kin­der­tags­stät­ten und Schu­len bau­en. Das ist viel, viel schö­ner als Schu­len zu schlie­ßen. Ich suche lie­ber das Geld, um eine Schu­le zu bau­en, anstatt eine zu schlie­ßen. Das habe ich auch hin­ter mir. Ich war sie­ben Jah­re Schul­bei­geord­ne­ter und habe noch in der Schrump­fungs­pha­se der neun­zi­ger Jah­re mehr als 25 Schu­len schlie­ßen müs­sen. Ich weiß, wovon ich spreche.

Also ist bei Ihnen zumin­dest was die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on angeht, die Stim­mung bes­ser als die Lage – und im Wes­ten ist es umgekehrt?

Natür­lich ist es eine ande­re Situa­ti­on, aus einer Auf­wärts­ent­wick­lung Schritt für Schritt Finanz­mit­tel zu suchen, um wei­ter auf­zu­bau­en. Die psy­cho­lo­gi­sche Grund­stim­mung ist bei uns posi­tiv. In man­chen Städ­ten West­deutsch­lands erle­ben die Men­schen hin­ge­gen: Bei uns geht es abwärts, wir schrump­fen, haben kaum Per­spek­ti­ven. Und dann schaut man auf den Osten, wo es mehr Kin­der­ta­ges­plät­ze gibt, eine Ärmel-Hoch-Stim­mung herrscht. Letzt­lich ist doch das, was wir in den zurück­lie­gen­den Tagen aus Nord­rhein-West­fa­len gehört haben, ein Schrei nach Hil­fe. Wir hat­ten hier in Leip­zig 2011 zum ers­ten Mal einen Zuwan­de­rungs­über­schuss aus West­deutsch­land. Mehr Leu­te sind von dort her­ge­zo­gen als von hier in den Westen.

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