Mit der Revolution im Dezember 2010 in Tunesien nimmt der Arabische Frühling mit Aufständen in anderen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrika seinen Anfang. Die Proteste richten sich gegen die autoritär herrschenden Regime.
TUNIS. Er rüttelte die Massen wach, der 26-jährige tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi. Weil er keine Lebensperspektiven mehr sah, übergoss er sich am 17. Dezember 2010 mit Benzin, dann steckte er sich in Brand. Anfang Januar dieses Jahres erlag er seinen schweren Verletzungen. Der Tod Bouazizis aber wurde zum Fanal – gegen Unterdrückung, Willkürherrschaft und Perspektivlosigkeit in einer ganzen Region, die in Nordafrika vom Atlantik bis in den Nahen Osten reicht. Der Arabische Frühling begann noch im Winter. Und schon in Tunesien war die Bewegung breit aufgestellt: „Von der Jugend der Mittelschicht initiiert, und von breiten Teilen der Zivilgesellschaft wie den Gewerkschaften und Berufsvereinigungen mitgetragen“, schreibt Muriel Asseburg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik in der Fachzeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“.
Jahrzehntelang regierende Despoten wurden vom Sockel gestürzt: Am 14. Januar flüchtete der tunesische Präsident Ben Ali vor dem Volkszorn nach Saudi-Arabien. Dann ging es Schlag auf Schlag: Kaum einen Monat später, am 11. Februar, wurde Husni Mubarak nach 30 Jahre dauernder Regierungszeit in Ägypten zum Rücktritt gezwungen. Von den eigenen Leuten, nachdem die Proteste vom Kairoer Tahrir-Platz und in vielen anderen Städten das Überleben der gesamten politischen Kaste in Gefahr brachten. Von Marokko bis Saudi-Arabien fassten vor allem junge Menschen den Entschluss, „den Unmut über ihre Lebensbedingungen auf die Straße zu tragen und nicht länger vor der Regimegewalt zurückzuweichen“, schreibt Asseburg. Am 22. August stürzte der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi, der kurz zuvor noch in Europa unterstützt wurde – von Großbritannien über Frankreich bis Italien. Kurz nach seiner Gefangennahme im Oktober wurde er umgebracht.
Dort, wo jetzt Wandel erzwungen wurde, ging er vielfach mit wichtigen Teilen der bisherigen Elite einher. Wo aber auf Unmut stößt, dass alte Seilschaften weiter Posten und Macht untereinander aushandeln, kommt die „Straße“ nicht zur Ruhe. Wie derzeit in Ägypten, wo mit Feldmarschall Mohammed Tantawi noch immer eine der wichtigsten Stützen Mubaraks die Fäden in der Hand hat. „Vom Himmel gefallen ist er nicht, der Arabische Frühling“, sagt Hardy Ostry, Fachmann für Nordafrika und den Nahen Osten bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Drei Gründe nennt er für den Ausbruch der Proteste Ende des vergangenen Jahres.
Erstens: Obwohl viele Länder in Nordafrika und im Nahen Osten zuletzt einen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung erlebten, profitierten davon nur wenige. Nie ging es den Herrschern ernsthaft um politische und wirtschaftliche Reformen. Sie wollten den Status quo – und damit ihre Machtbehaupten. Die Masse ging leer aus. Darum reißt der Flüchtlingsstrom von Afrika nach Europa nicht ab, sagt Ostry.
Zweitens: Unzählige Staatsunternehmen nordafrikanischer Länder wurden zwar privatisiert. Es waren aber die alten Eliten, die sich den Zugriff auf Gewinne und Posten sicherten. Während wichtige Teile des Mittelstands an der Macht beteiligt und damit ruhiggestellt wurden: in den Staatsparteien und in der Armee (allein die Partei Ben Alis zählte zwei Millionen Mitglieder – und damit etwa jeden fünften Einwohner des Landes), steht die breite Masse der Bevölkerung schlecht da.
Die dritte Ursache resultiert aus den beiden anderen: Viele Menschen rechneten nach Jahren der Unterdrückung nicht mehr damit, dass sich noch etwas zum Besseren wenden könnte. Frust und Not siegten über die Angst vor Repression.
Denn 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung in Nordafrika und im Nahen Osten sind unter 25 Jahre alt. Sie wollen Angebote für ihre Zukunft, für „ein Leben in Würde“. Um „Würde“ ging es deshalb bei den Protesten zuallererst – und um „Freiheit“; demokratische Strukturen werden vor allem als Weg aufgefasst, um dahin zu gelangen. Dass es den Initiatoren der Proteste vielerorts gelang, schnell zehntausendfach Anhänger zu mobilisieren, lag in den entwickelteren Ländern wie Ägypten, Tunesien und Marokko auch an der wachsenden Bedeutung sozialer Netzwerke im Internet. Facebook & Co. ermöglichten oftmals erst, die Schar der Unzufriedenen zueinander zu bringen. Zuvor legte die Enthüllungsplattform Wikileaks geheime Dokumente von US-Regierungsstellen im Nahen Osten offen.
Der vorerst Letzte, der seinen jahrelangen Unwillen zu Reformen mit dem Verlust seiner Macht bezahlen dürfte, ist der autoritär regierende jemenitische Präsident Ali Abdullah Salih. Nach langem Ringen mit der Opposition steht sein Rücktritt anscheinend bevor. Er regiert das bitterarme Land im Süden der Arabischen Halbinsel seit 1990. Schon im Februar nächsten Jahres könnten Neuwahlen stattfinden.
Wie aber geht es weiter im Nahen Osten, in Nordafrika? Für Ostry hilft „westliche Arroganz“ nach den Wahlergebnissen in Tunesien und besonders Ägypten nicht weiter. Europa und Amerika müssten konstruktive Hilfe anbieten; dazu zählt, dass Wahlresultate, auch wenn sie besorgniserregend sind, zunächst einmal hingenommen werden.
Der große Unbekannte im Mächte-Konzert des Nahen Ostens bleibt weiterhin Syrien, sagt der Publizist und Nahost-Fachmann Carsten Wieland, der jetzt wie Ostry zu einer Tagung der Chemnitzer Politikwissenschaftlerin Beate Neuß in Lichtenwalde über die Situation in Nahost informierte. Seit Monaten lässt Assad die Opposition brutal verfolgen. Ein blutiger Bürgerkrieg tobt, der bis Mitte Dezember – so schätzt es die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, – etwa 5000 Tote gefordert haben soll.
China und besonders Russland hielten bisher im UN-Sicherheitsrat die Hand über das Land. Syrien ist vor allem für Russland von ökonomischer und strategischer Bedeutung: Moskau exportiert seit Jahren Waffen in den Nahost-Staat und plant im syrischen Tartus seine einzige Marinebasis im Mittelmeerraum, sagt Wieland. So dürfte nicht nur aus Sicht der Syrer selbst und der israelischen Nachbarn der alte Leitspruch des früheren amerikanischen Außenministers Henry Kissinger für den Nahen Osten weiterhin gültig bleiben: „Kein Krieg ohne Ägypten, kein Frieden ohne Syrien.“