Sehnsucht nach Altaussee

Im Winter 2023/24 geht es still zu am Altausseer See - Schnee hält sich nur auf den Wipfeln der umliegenden Berge. Foto: Michael Kunze
Im Win­ter 2023/24 geht es still zu am Alt­aus­seer See – Schnee hält sich nur auf den Gip­feln der umlie­gen­den Ber­ge; vorn: das Hotel „See­vil­la“. Foto: Micha­el Kunze

Der klei­ne stei­ri­sche Teil des Salz­kam­mer­guts liegt ab vom Schuss. Doch der Ruf als eins­ti­ge Künst­ler-Som­mer­fri­sche trägt noch immer.

Der Schrift­stel­ler Raoul Auern­hei­mer ist ver­ges­sen. Er indes war es, der das Bild von der wei­ten, dunk­len Was­ser­flä­che präg­te, einem über­gro­ßen Tin­ten­fass gleich, in das die som­mer­fri­scheln­den Ver­tre­ter sei­ner Zunft von ihren Domi­zi­len am Ufer aus ihre Feder­kie­le tauch­ten. Spä­ter stell­ten sie, von Wien oder Salz­burg oder aus dem Aus­land zu Erho­lung oder kon­zen­trier­ter Arbeit her­auf­zie­hend, in den viel­fach herr­schaft­li­chen Häu­sern mit reich ver­zier­ten Veran­den ihre Schreib­ma­schi­nen auf, auf denen sie ihre Brie­fe, Feuil­le­tons, Roma­ne tippten.

Als öster­rei­chi­scher Kur­ort der Künst­ler und Intel­lek­tu­el­len spiel­te mit Alt­aus­see einst nur der Sem­me­ring in einer Liga. Vie­le waren hier. Das Gäs­te­buch des für die Anfän­ge des Frem­den­ver­kehrs weg­wei­sen­den „Hotel am See“ ver­zeich­net das Who is who des spä­ten 19. und der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts: die Her­män­ner Bahr und Broch, Hof­manns­thal, Emme­rich Kál­mán, Rudolf Kass­ner, Lehár, Schnitz­ler, Tor­berg, Jakob Was­ser­mann. 1911 kam der Lon­do­ner Bür­ger­meis­ter mit 60 Beglei­tern. Adel und Bür­ger­tum mach­ten dem Hoch­tal rei­hen­wei­se ihre Auf­war­tung, nach­dem der spä­te­re deut­sche Reichs­kanz­ler Chlod­wig zu Hohen­lo­he-Schil­lings­fürst 1858 erst­mals zur Jagd an den See gereist war. Bald dar­auf erwarb er mit sei­ner Frau ein Haus, in das sie regel­mä­ßig zurück­kehr­ten. Der Kom­po­nist Johan­nes Brahms erleb­te in der „See­vil­la“ meh­re­re Urauf­füh­run­gen sei­ner Wer­ke. Adal­bert Stif­ter kam ins Aus­seer Land. Jakob Was­ser­mann kauf­te ein Haus. Broch traf neben ihm und Tor­berg hier Gina Kaus, Frank Thiess, Robert Neu­mann. Über Jahr­zehn­te hin­weg ging es so dahin.

Der Alt­aus­seer See, am Nord­west­zip­fel der Stei­er­mark im Salz­kam­mer­gut gele­gen, von Ber­gen umzin­gelt, hat von sei­ner Anzie­hungs­kraft nichts ein­ge­büßt, der wir heu­er – Leid der einen, Freud‘ für and­re – leicht auf die Spur kom­men kön­nen. Denn ohne Schnee bleibt‘s ruhig auf den Pfa­den. „Sonst sieht es hier in die­ser Jah­res­zeit ganz anders aus“, sagt Mari­an­ne Goe­rtz, Inha­be­rin des alten Hotel-Gast­hofs „Vil­la Salis“ und Obfrau des Lite­ra­tur­mu­se­ums. Mit Buch­händ­le­rin Gud­run Such­anek, die ihren anspruchs­vol­len und für ein 1860-See­len-Dorf gewal­tig gro­ßen, traum­schö­nen Laden nur weni­ge Hun­dert Meter ent­fernt von der Wirt­schaft unter­hält, ist sie eine vor­züg­li­che Gesprächs­part­ne­rin, um sich mit dem lite­ra­ri­schen Erbe des Land­strichs ver­traut zu machen.

Rei­sen­de haben den alten Ort, des­sen Markt früh ins rund vier Kilo­me­ter süd­öst­lich gele­ge­ne Aus­see ver­legt wor­den ist, in die­sen Wochen nur weni­ge als Rast­statt gewählt. Ledig­lich in den letz­ten Faschings­ta­gen geht es zünf­tig zu, sind die Gast­stät­ten voll, zie­hen Kos­tü­mier­te unter Blas­mu­sik über die Stra­ßen, tönt bis in die Nacht Geläch­ter aus dem Volks­haus, dem schräg gegen­über an der Haupt­stra­ße im Kur- und Amts­haus 2005 das Lite­ra­tur­mu­se­um zuge­sellt wur­de. Gegrün­det wor­den war es 1970. Nach der Jahr­tau­send­wen­de von Schlie­ßung bedroht, zog es nach Inter­ven­ti­on der am See auf­ge­wach­se­nen Schrift­stel­le­rin Bar­ba­ra Frischmuth hier­her um. Die Alt­aus­seer pfle­gen ihr Erbe und das ihrer Gäs­te. Erst im Janu­ar wur­de das Muse­um nach gelun­ge­ner Reno­vie­rung wie­der­eröff­net und erin­nert nicht nur an die gro­ße Zeit der Lite­ra­ten, son­dern auch an den berühm­ten Hof­nar­ren des säch­sisch-pol­ni­schen Kur­fürst-Königs Augusts des Star­ken, Joseph Fröh­lich, der 1694 in Alt­aus­see gebo­ren wurde.

Die Aus­stel­lung des Alt­aus­seer Lite­ra­tur­mu­se­ums wur­de Anfang des Jah­res über­ar­bei­tet. Einem der treu­es­ten Gäs­te im Ort, dem Schrift­stel­ler Fried­rich Tor­berg, ist nach wie vor viel Raum gewid­met. Foto: Micha­el Kunze

Dank der lei­der ver­grif­fe­nen Bro­schü­re „Via Artis“, fällt es uns leicht, die Künst­ler­häu­ser im Ort anzu­steu­ern. Wir bege­ben uns vom Kur­haus zum 2007 geschlos­se­nen Café Fischer; es sind nur weni­ge Meter die Haupt­stra­ße ent­lang. Am Gebäu­de zweigt ein Stich in Rich­tung See ab, an dem die „Vil­la Königs­gar­ten“ steht. Bei­de Anwe­sen sind mit dem Schrift­stel­ler, Kri­ti­ker und Publi­zis­ten Fried­rich Tor­berg (1908–1979) ver­bun­den. Für Joa­chim Kai­ser war er „der [G]roße, [U]nvergessene“, für Mar­cel Reich-Rani­cki „eine Wie­ner Insti­tu­ti­on, ein öster­rei­chi­sches Wun­der“. Hier und in wei­te­ren Häu­sern im Ort arbei­te­te Tor­berg, der kon­ser­va­ti­ve Meis­ter der Pole­mik und Thea­ter­kri­tik, über Jahr­zehn­te hin­weg, wenn ihm Wien zu anstren­gend wur­de, nach­dem er aus dem ame­ri­ka­ni­schen Exil zurück­ge­kehrt war. Im „Fischer“ nahm er sei­ne Jau­se ein, wenn er wäh­rend einer Schreib­pau­se nicht beim nach wie vor im Bad Aus­seer Kur­haus betrie­be­nen Pen­dant „Lewand­of­sky“ Freun­de traf.

Von den Natio­nal­so­zia­lis­ten ob sei­ner jüdi­schen Her­kunft ins Aus­land gezwun­gen, schrieb er 1942 eines der schöns­ten Gedich­te der deutsch­spra­chi­gen Emi­gra­ti­on, sei­ne „Sehn­sucht nach Alt­aus­see“: „Gel­ten noch die alten Stre­cken?“, frag­te er dar­in von Kali­for­ni­en aus. „Stre­ben Gip­fel noch zur Höh‘? / Ruht im ber­gum­heg­ten Becken / noch der Alt­aus­seer See?“ Zehn Verse.

Am Ost­ufer des Sees ragt die Tris­sel­wand in die Höhe. Foto: Micha­el Kunze

Anders als die geschäf­ti­ge­ren Sied­lun­gen um Traun- oder Atter­see, das von Tou­ris­ten oft über­rann­te Hall­statt oder Bad Ischl, ist Alt­aus­see kein Durch­gangs­ort. Nur ein Pfad führt um das Was­ser zur „See­wie­se“ vor der steil­ab­fal­len­den Tris­sel­wand, einem Aus­läu­fer des Toten Gebir­ges. Auf der Land­zun­ge, die sich davor in den See schiebt, türmt sich vor der Fels­wand, von Nadel­bäu­men über­wach­sen, Geröll auf. Mit klei­nen Bächen und Tüm­peln fließt sie aus in bei­na­he kana­disch anmu­ten­des Gelän­de, auf dem sich in Ufer­nä­he, neben einem gewal­ti­gen Gesteins­bro­cken, eine Hüt­te erhebt. Das Jagd­haus war 2015 Dreh­ort für den James-Bond-Strei­fen „Spect­re“. Wir las­sen uns nie­der – und schau­en in süd­west­li­cher Rich­tung auf Alt­aus­see am gegen­über­lie­gen­den Ufer und das sich dahin­ter erhe­ben­de Dach­stein­mas­siv mit sei­nem Glet­scher. Es ist eine Kulis­se, wie sie sich Adal­bert Stif­ter hät­te aus­ge­dacht haben kön­nen, kei­ne Post­kar­ten­idyl­le. Der Wind bläst stark; Schaum­kro­nen tan­zen auf dem unru­hi­gen Was­ser unter bald regen­wol­ken­ver­han­ge­nem, bald strah­lend blau­em Him­mel – die Stim­mun­gen wech­seln schnell. „Alles ande­re als lieb­lich, eher gra­vi­tä­tisch, dra­ma­tisch“ hat – wie wir fin­den: tref­fend – ein frü­he­rer Beob­ach­ter die Umstän­de beschrie­ben. Näh­me der Mensch hier „gewis­se ‚Ver­schö­ne­run­gen‘“ vor, schrieb Peter Roseg­ger 1876, es wären „Sün­den gegen die Natur“.

Trotz der unbe­stän­di­gen Wet­ter­la­ge fül­len sich um Mit­tag die Wege mit Pas­san­ten. Wir sind am Nord­ufer ange­langt, unter­halb des 1837 Meter hohen Haus­ber­ges Loser mit sei­nem wuch­ti­gen Gip­fel. Kaum errei­chen wir die Aus­läu­fer Alt­aus­sees, sto­ßen wir ober­halb des Weges auf die eins­ti­ge Vil­la Jakob Was­ser­manns, die er, obgleich damals weit­hin mit­tel­los, erwer­ben und zum Wohn­sitz machen soll­te. Nur weni­ge Schrit­te in Rich­tung Kir­che, deren Inne­res unter Kai­ser Franz Joseph wenig glück­lich im Stil der Zeit „moder­ni­siert“ wur­de, fügt sich auf glei­cher Sei­te der Fried­hof an, auf dem Was­ser­mann wie ande­re Bür­ger, etwa Klaus Maria Bran­dau­ers ers­te Ehe­frau, begra­ben lie­gen. Der Schau­spie­ler ist in Bad Aus­see gebo­ren wor­den, wuchs jedoch bei sei­nen Groß­el­tern in Alt­aus­see auf. Noch immer hat er ein Haus im Ort und bringt sich ins Kul­tur­le­ben ein. „Auf zwei Din­ge kann ich um nichts in der Welt ver­zich­ten“, hat er ein­mal gesagt, „auf mei­nen Hei­mat­ort Alt­aus­see und auf die Büh­ne des Wie­ner Burgtheaters.“

Am Gra­be Jakob Was­ser­manns auf dem Alt­aus­seer Fried­hof. Foto: Micha­el Kunze

Andert­halb bis zwei­ein­halb Stun­den muss auf­brin­gen, je nach Tem­po, wer den See zu Fuß umrun­den möch­te. Wir woll­ten den Gang am liebs­ten täg­lich wie­der­ho­len, trotz wei­te­rer loh­nen­der Zie­le: der Grundl- oder der Toplitz­see etwa, an des­sen Ufer sich 1819 Erz­her­zog Johann und die Aus­seer Post­meis­ter­s­toch­ter Anna Plochl, spä­te­re Grä­fin von Meran, erst­mals begeg­ne­ten, um nach Über­win­dung des Wider­stands bei Hofe zu hei­ra­te­ten. Geschich­ten wie im Märchen.

Wer sie sich „erwan­dert“ und dar­auf­hin an den Ufern stär­ken möch­te, zie­he – ob geräu­chert oder in But­ter, Thy­mi­an, Knob­lauch gebra­ten – die vor­züg­li­chen Saib­lin­ge in Erwä­gung. „Wer nach Alt­aus­see kommt, will nir­gends­hin als nach Alt­aus­see und woll­te er’s, so könnt‘ er‘s nicht“, bekann­te Fried­rich Tor­berg, „Alt­aus­see ist ein Abschluss, ein krö­nen­der!“ Wir wüss­ten ihm nichts zu entgegnen.

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Ein Gedanke zu „Sehnsucht nach Altaussee

  1. Für mich als aus­ge­mach­ter Freund oes­te­rei­chi­scher Geschich­te, Spra­che und Lebens­art (des­halb auch, sooft es geht, ORF ein­ge­schal­tet) und zugleich als ger­ma­nis­ti­sches Leicht­ge­wicht ist Ihr Arti­kel zum Aus­seer Land in dop­pel­ter Hin­sicht ein Gewinn: Fin­de ich doch hier­in die mir ver­trau­ten Namen der klas­si­schen Moder­ne bezüg­lich Lite­ra­tur, ‑Kri­tik usw. in infor­ma­ti­ver Kom­bi­na­ti­on mit ihren Bezü­gen zu kon­kre­ten Plät­zen der Regi­on. Mein Sohn Ste­fan wies mich noch hin auf ein You­Tube-Video zur Geo­gra­fie… Danke!

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