ZWICKAU. Erst Horch, dann Trabi, schließlich Golf: In Zwickau ist die Autoproduktion seit Jahrzehnten zu Hause. Die Stadt in Sachsen ist auch für Studenten interessant – nicht nur aus China.
Das Büro liegt auf einer Anhöhe im Grünen, und doch reicht der Blick ins Tal hinein bis zur Barockhaube der Zwickauer Marienkirche. Hinter dem weißgetünchten Funktionsbau aus Glas und Beton steht ein Holzkohlegrill, freitags wird er angeworfen, wenn das Wochenende eingeläutet wird. Der kleine Springbrunnen im Gartenteich plätschert friedlich vor sich hin. Hier, in einem Gewerbegebiet des Stadtteils Marienthal, betreibt Josef Schütz seine Strategie- und Unternehmensberatung. Zwölf Leute arbeiten für ihn. Aufwärts gehe es, was auch für die Unternehmen gelte, die er berät. „Beachtlich“ nennt Schütz die Aufholjagd, die Stadt und Region auch wirtschaftlich in den letzten Jahren zurückgelegt haben. In den Osten gelockt hat den gebürtigen Niederbayer kurz nach der Wende die „Abenteuerlust“, wie er lächelnd einräumt. Seine Eltern hätten das zuerst nicht verstanden und ihn „für verrückt erklärt“. Später seien sie von seiner neuen Heimat begeistert gewesen.
Der 44-Jährige, der eine Sächsin heiratete, wohnt seit 1996 mit Frau und drei Kindern im Zwickauer Vorort Gospersgrün, der seinem Namen alle Ehre macht. „Wir fühlen uns wohl auf dem Land, und sind doch ganz nah an der Stadt“, sagt Schütz. Als er nach Zwickau kam, sei er mit offenen Armen empfangen worden. An seinem nach wie vor hörbaren Dialekt habe sich kaum jemand gestoßen, schließlich seien auch die Sachsen für ihr einschlägiges Idiom hinlänglich bekannt. Bei den Zwickauern spürt er starke Heimatgefühle, eng verbunden fühlten sie sich mit ihrer Stadt. Schütz erinnert das an seine bayerische Herkunft. „Landschaftlich“, sagt er. „Habe ich mich sowieso kaum umstellen müssen.“ Sanfte Berge und Täler wechseln sich um Zwickau herum ab wie rund um den Straubinger Gäuboden, wo er herstammt.
Die mächtige Donau hat er gegen die kleinere Mulde getauscht, den Bayerischen Wald mit dem nahen Erzgebirge. Will er es etwas größer, fährt Schütz nach Erfurt, Dresden oder Leipzig. Höchstens anderthalb Stunden sind das über die Autobahn. Bleibt Zeit nach der Arbeit oder an Wochenenden, geht es im Winter zum Skifahren ins nahe Gebirge, im Sommer auf den Neun-Loch-Platz zum Golf, der mit Panoramablick bis zum Fichtelberg wirbt.
Die gute Wirtschaftsentwicklung seit Anfang der neunziger Jahre verdankt Zwickau freilich vor allem einer Branche. Einst stand die Stadt für Horch, später Audi – das Unternehmen wurde 1910 hier gegründet – und die Autounion, dann für das DDR-Kultauto Trabi. Seit mehr als zwei Jahrzehnten nun baut der Volkswagen-Konzern in seinem größten ostdeutschen Werk Golf und Golf Variant, die Passat-Limousine, Phaeton-Karosserien und Bentley-Continental-Pressteile. 7000 Menschen haben in der Zwickauer Dependance Arbeit gefunden, im nahe gelegenen VW-Motorenwerk in Chemnitz sind es noch einmal 1500. Dutzende mittelständische Zulieferer zogen allein in Zwickau nach, die mindestens 15.000 Stellen mit sich brachten. „Die Zulieferfirmen, die nach 1990 der ehemaligen Trabantschmiede Sachsenring entwuchsen oder sich seither ansiedelten, arbeiten längst nicht mehr nur für Volkswagen“, sagt Stadtsprecher Mathias Merz. Die Produktpalette reiche von „A wie Abgassysteme über S wie Sitze bis Z wie zukunftsweisende Antriebstechnologien“. So ließen sich beispielsweise die Batteriehersteller Johnson Controls und Hoppecke in Zwickau nieder, Tower Automotive baute ein großes Presswerk, mit Wesoma, Astra oder Ilkazell kamen Maschinen- und Anlagenbauer in die Stadt, Siebenwurst brachte den Werkzeugbau.
Im Zwickauer Umland nahmen die Spindel- und Lagerungstechnik Fraureuth, die Umformtechniker von Salzgitter Hydroforming oder Magna ihr Domizil, dazu der Verdichterhersteller ZM Borsig, der Verteilerfahrzeugproduzent Saxas oder Linamar, wo Antriebstechniken entwickelt werden, sagt Torsten Spranger, Geschäftsführer der IHK-Regionalkammer Zwickau. Für ihn ist die Automobilindustrie zwar die weiterhin „prägende Säule“ der gesamten Region.
Längst aber sind in Stadt und Nachbargemeinden Gewerbestandorte auch deshalb rar geworden, weil man über die Autobranche wirtschaftlich hinausgewachsen ist. Zur örtlichen chemischen Industrie zählen zum Beispiel eine Niederlassung des britischen Arzneimittelherstellers Aesica Pharmaceuticals oder der Bauchemiehersteller Bornit. Seit Jahren wird in Zwickau eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten Sachsens gemessen, binnen dreier Jahre sank sie von 12,5 auf 7,9 Prozent. Die Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit von 51,6 Prozent vor vier Jahren auf 58,1 Prozent Mitte 2012. Zum Vergleich: In Köln sind es im vergangenen Jahr 50,1, in München 56,0 Prozent gewesen.
Trotz des Beschäftigungsmotors Fahrzeug- und Maschinenbau, der auf Industrieschlote und Fabrikhallen schließen ließe, ist das Stadtbild harmonisch. In einer weiten Talaue gelegen, als Tor zu Vogtland und Erzgebirge, ist Zwickau mit 92 000 Einwohnern zudem gerade groß genug, um alle wichtigen Kultur- und Freizeiteinrichtungen vorzuhalten, die urbanes Leben interessant machen: Kinos, Gewandhaus, Stadt- und Konzerthalle, Schwimmbäder, darunter das historische Johannisbad im Jugendstil, üppig grüne Parkanlagen, oder der weite Schwanenteich, treffender: ‑see, der im Sommer Gondelfahrer anlockt, Jogger und Flaneure. Zwickau ist aber klein genug, um Vertrautheit, Nähe, Überschaubarkeit auszustrahlen. Zwischen der früheren Wettinerresidenz Osterstein, einem prachtvollen Renaissanceschloss, in dem – vorübergehend zum Gefängnis umfunktioniert – einst Karl May, August Bebel oder Rosa Luxemburg einsaßen, und dem Hauptmarkt mit dem Rathaus aus dem Jahr 1404 entspannt sich ein sternförmiges Straßen- und Gassengewirr. Restaurants, Cafés, Fach- und Einzelhandel wechseln einander ab in sanierten Gründerzeitbauten. Auf den mittelalterlichen Domhof zulaufend, zeugen sie vom einstigen Reichtum der Stadt aus langer Bergbautradition.
Dank Zwickaus berühmtestem Sohn, dem Komponisten Robert Schumann, wird nicht nur klassische Musik in der Stadt besonders gefördert. Am Hauptmarkt steht Schumanns Geburtshaus, alle vier Jahre findet der nach ihm benannte, international für Aufsehen sorgende Wettbewerb für Klavier und Gesang statt. Im Robert-Schumann-Konservatorium – mit einem Internat für Elf- bis Achtzehnjährige – werden alle wichtigen Stile und Musikinstrumente unterrichtet. Nur wenige hundert Meter sind es von dort bis zur evangelischen Marienkirche, die im Volksmund selbstbewusst „Dom“ genannt wird, obwohl hier nie ein Bischofsstuhl stand.
Selbstbewusst tritt die Stadt auch in weit gegenwartsbezogeneren Fragen auf. Die direkt im Zentrum gelegene Fachhochschule wirbt dazu mit modernen Unterrichts- und Forschungsräumen, günstigen Wohnheimen und einem ungewöhnlichen Mix an Studienfächern. Zu Klassikern wie Maschinenbau oder Informatik kommen Gebärdensprache, ein deutsch-chinesischer Kombinationsstudiengang mit einem obligatorischen Auslandssemester an einer chinesischen Partnerhochschule, Musikinstrumentenbau für Bogen‑, Geigen- und Zupfinstrumente sowie Textil- und Ledertechnik.
Auch in Sachen Kinderfreundlichkeit will man in Zwickau nichts anbrennen lassen, denn trotz Wanderungsgewinnen verliert die Stadt wegen zu weniger Geburten noch immer Einwohner. Mit einer Betreuungsquote von 78 Prozent in Kindertageseinrichtungen liegt sie weit oberhalb des Durchschnitts in Deutschland. Auch ein Begrüßungsgeld für Neugeborene wird gezahlt. Zwickau will junge Leute anziehen, lockt mit geschmackvollen Gründerzeit- und Jugendstilhäusern in der Nord- oder Bahnhofsvorstadt wie dörflicher Idylle in den ländlichen oder jedenfalls besonders begrünten Arealen.
Dorthin hat es auch Maria Ettl mit ihrer Familie gezogen. Mit Mann und beiden Kindern wohnt die 30 Jahre alte Frau in einem Haus im waldnahen Stadtteil Weißenborn. Ettl ist in Zwickau geboren und aufgewachsen. Zu ihrem Medizinstudium zog sie nach Halle an der Saale, wo sie ihren späteren Mann kennenlernte. Wie sie hat er Medizin studiert, stammt aber aus dem oberbayrischen Altötting. Trotzdem sei er gerne mit ihr nach Zwickau gegangen, sagt seine Frau. Beide, er angehender Anästhesist, sie Gynäkologin, haben Stellen im städtischen Krankenhaus und schätzen die Nähe zu Ettls Eltern. Sie sind in der katholischen Kirchgemeinde aktiv und finden „Zwickau sehr familiär“, sagt Maria Ettl. Die Leute seien freundlich und offen, die Größe der Stadt „gerade richtig“.
Wenn neben Familie und Beruf noch Zeit bleibt, gehen sie auf einen Cocktail oder Cappuccino mit Freunden in die im Neobarock errichtete „Moccabar“ am Schumannplatz. Oder ins Kino. Früher stand das „Nachtwerk“ hoch im Kurs, die größte Disko weit und breit. Das freilich hat mit Kindern ein natürliches Ende genommen. Dann schon eher im Winter ins Eisstadion im Nachbarort zum Schlittschuhlaufen. Im Sommer ist der Mulderadweg sehr beliebt. Nur Fernbahnfahrten sollten genau überlegt werden – seit zehn Jahren ist die Muldestadt ganz vom ICE-Netz abgekoppelt.