Nun sind auch sie tot: die Zeitdeuter und Weltversteher Günter Grass und Fritz Joachim Raddatz. Es bleibt eine Leerstelle, sagen Wissenschaftler – trotz des Altkanzlers und Ersatzintellektuellen Helmut Schmidt.
Chemnitz. Die meisten namhaften Intellektuellen aus Deutschland, die streitbaren Welterklärer – sie sind tot oder sehr alt: Marion Gräfin Dönhoff etwa, die einstige Herausgeberin der Wochenzeitung „Die Zeit“, starb 2002. In diesem Jahr folgten ihr der Essayist Fritz J. Raddatz – 1958 hatte er die DDR gen Westen verlassen – und der Nobelpreisträger Günter Grass. Die Schriftsteller Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger oder Jürgen Habermas, Deutschlands berühmtester lebender Philosoph, gehen auf die 90 zu.
Endet also das Zeitalter der Intellektuellen? Hat sich die Rolle derer überlebt, die sich seit Entstehung der Massenmedien wissenschaftlich, künstlerisch, literarisch oder journalistisch in aktuellen Fragen an die Öffentlichkeit wenden, ohne selbst politisch aktiv zu werden? Gern jenseits ihres ureigenen Fachgebiets, das eine Mal kritisch-differenziert, das andere plakativ – politisch, ideologisch, moralisch durchaus beweglich. So jedenfalls lautet eine gängige Definition davon, was Intellektuelle tun und wie.
Politiker mit Scharnierfunktion
„Die Sehnsucht nach dem genialen Halbgebildeten, dem Spezialisten für das Allgemeine besteht hierzulande nach wie vor“, beantwortet Axel Schildt die Frage. Er ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte an der Uni Hamburg und Sprecher des angesehenen Historiker-Kollegiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Derzeit bereitet er eine groß angelegte Studie über die Rolle der Intellektuellen in der frühen Bundesrepublik vor. Mit Blick auf die Gegenwart sagt der 64-Jährige: „Die Welt wird komplizierter, die großen und kleinen Zusammenhänge für den Einzelnen immer undurchschaubarer.“ Und spätestens seit den Pegida-Demonstrationen hätten die politischen Debatten hierzulande wieder an Schärfe gewonnen. Auch, weil die Erklärer, die Übersetzer komplexer gesellschaftlicher oder technischer Fragestellungen mit Mut zu spitzer Zunge, Provokation und Vereinfachung fehlten? Ja, auch deshalb. „Das zeigt die hohe Popularität von Ersatzintellektuellen wie Altkanzler Helmut Schmidt“, sagt Schildt über den SPD-Politiker, dessen einstige jahrzehntelange politische Tätigkeit ihn per definitionem zu einem Parteiintellektuellen macht.
Zu dieser Sonderkategorie zählt auch Erhard Eppler (SPD), ebenso Kurt Biedenkopf oder Heiner Geißler (beide CDU), die teils hohe Parteiämter innehatten, auf Minister- oder Ministerpräsidentensesseln saßen. Zu Wort meldeten sie sich auch jenseits der Parteipolitik und der tonangebenden SPD- oder CDU-Linie: in religiösen oder zu Bildungsfragen etwa, zur Demografie oder mit Globalisierungskritik. Auch diese Parteiintellektuellen bedienen den Wunsch vieler Bürger nach Orientierung und eingängiger medialer Vermittlung. Wegen ihres Alters kommen sie geradezu großväterlich daher, bieten Geborgenheit. „Sie leisten für ihre Parteien eine Art Scharnierfunktion zu Wählerschichten, die den jeweiligen politischen Gruppierungen vormals nicht unbedingt zugeneigt waren“, sagt Alexander Gallus, Professor für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz (siehe Interview). Die Kehrseite: Leute wie der Nachwende-Gründungsrektor der Uni Erfurt, Peter Glotz (1939 bis 2005, SPD), hatten es als Bildungsbürger eher schwer, im klassischen SPD-Milieu – unter Arbeitern – zu punkten.
„Diesen totalen Übertritt in die aktive Politik, den auch Glotz als Berliner Senator mitmachte“, sagt Gallus, „haben klassische Intellektuelle wie Grass nicht vollzogen, obwohl dieser von 1982 an zehn Jahre der SPD angehörte.“ Der Schriftsteller beschränkte sich darauf, Willy Brandts Wahlkampf zu unterstützen, kommentierte öffentlichkeitswirksam dessen Warschauer Kniefall, wandte sich gegen die Wiedervereinigung. Auch an der Asylpolitik nach 1990 nahm er Anstoß und forderte von der Türkei, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Grass tanzte so streitbar wie umstritten auf vielen Bühnen, etwa als ihm nach Veröffentlichung des Gedichts „Was gesagt werden muss“ nicht nur aus Israel Antisemitismus vorgeworfen wurde.
Wer schließt die Lücke?
Derart umtriebige wie präsente Vertreter fehlen in jüngeren Generationen in größerer Anzahl. Eine Ausnahmeerscheinung war, so Schildt, der Journalist Frank Schirrmacher (1959 bis 2014). Als einer der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ öffnete er deren Feuilleton wie kein Konkurrenzblatt für aktuelle Debatten – oder griff mit Streitschriften wie „Payback“ gleich selbst ein. Das Buch handelt von den Herausforderungen des Internetzeitalters; in „Das Methusalem-Komplott“ widmete er sich der alternden Gesellschaft, mit „Ego“ legte er eine Kapitalismuskritik vor.
Doch ist da noch wer? Schildt erklärt das weitgehende Fehlen bekannter Jüngerer auch mit dem Medienwandel: „Komplexe Zusammenhänge können nicht in anderthalbminütigen Talkshow-Statements erörtert werden. Die großen Streiter von einst hatten Platz in Zeitschriften, Zeit im Radio.“ Zudem kommen die Themen des Computerzeitalters auf den ersten Blick unideologisch daher – die Frage etwa, ob Google & Co. dem Gläsernen Menschen Vorschub leisten, mehr als es die Stasi je hätte vermocht. „Und wir machen mit. Dies aber“, sagt Gallus, „ist eine zutiefst politische Angelegenheit.“ Es bleibe abzuwarten, ob Jüngere wie der Blogger und Internetkritiker Sascha Lobo die derzeitige Lücke schließen.
Interview: „Von der Straße überholt“
Alexander Gallus, geboren 1972 in Berlin, ist Inhaber der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Chemnitz. Ein Gespräch über die Rolle Intellektueller in Deutschland bis zur Wiedervereinigung.
In den 60er- und 70er-Jahren galten Intellektuelle in der Bundesrepublik noch etwas. Warum?
Günter Grass etwa engagierte sich in Willy Brandts Wahlkampf, weil der als ehemaliger Journalist und Emigrant nach dem Krieg wie wenige ein neues Deutschland verkörperte. Diese Unterstützung war vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich viele, die in den 30er- und 40er-Jahren geboren wurden, von der Adenauer-Ära abgrenzen wollten. Von ihm und der CDU erhofften sie sich wenig, etwa im Umgang mit der Zeit vor 1945.
Wie war die Lage in der DDR?
Während zunächst kritische Fragen gestellt werden konnten, auch an Hochschulen, legte sich die staatliche Kontrolle bald wie Mehltau über das Land. Selbst wichtige Zeitschriften wie „Sinn und Form“ oder „Weltbühne“ ließen Kritik höchstens noch zwischen den Zeilen zu. Reihenweise verließen Intellektuelle daher die DDR, selbst wenn sie Sozialisten waren. Leute wie Rudolf Bahro, Ernst Bloch oder Alfred Kantorowicz stellten für die Politik ein Problem dar, da sie verschiedene Wege zum Sozialismus diskutieren wollten – nicht nur den einen, von oben vorgegebenen.
„Freischwebende“ Intellektuelle, die sich in Anlehnung an den Soziologen Karl Mannheim jenseits vom „Klassenstandpunkt“ zu Wort melden, waren suspekt?
Genau. Oberwasser hatte das Konzept der Intelligenzija, das aus Russland und der Sowjetunion kam, und bürgerliche Intellektuelle kritisch sah. Nicht „freischwebend“ sollten sie sein, sondern „klassengebunden“. Auch handelte es sich bei ihnen nicht vorrangig um Schriftsteller und Publizisten. Auch Ingenieure oder sonstige Experten waren darunter – und viel mehr Kleinbürger. Sie sollten die neue Ordnung nicht kritisieren, sondern legitimieren – auch wenn manche davon abgewichen sind.
Welche Rolle spielten Intellektuelle im Umbruchjahr 1989/90?
Diese Zeit gilt in Osteuropa als Sternstunde der Intellektuellen. Vertreter wie Václav Havel gelangten in höchste Staatsämter. In der DDR war es zunächst anders. Viele wollten diese zwar reformieren, doch keine Wiedervereinigung. Sie verfolgten Gerechtigkeit als eher abstraktes Ziel und wurden von der politischen und der Entwicklung auf der Straße überholt.