Seit rund 100 Tagen regiert die Partei Recht und Gerechtigkeit in Polen – und ist dabei, die Institutionen umzubauen. Heute kommt die neue Regierungschefin Beata Szydlo zum Antrittsbesuch nach Berlin. Warum aber kritisiert die polnische Führung seit Monaten alte Eliten im eigenen Land, dazu die EU und Deutschland?
CHEMNITZ. Sandra Kranich hat der Wahlsieg von Recht und Gerechtigkeit (PiS) nicht gewundert. Seit 2007 lebt sie in Deutschland, wurde jedoch in Polen geboren, wo sie als Angehörige der deutschen Minderheit aufwuchs. Die Ziele der streng konservativen Partei, die nun in Warschau das Sagen hat, lehnt sie ab. Nachdem aber acht Jahre lang die liberale Bürgerplattform regiert hatte, war die Wechselstimmung mit Händen zu greifen, sagt die 30-Jährige. Vor allem, seit das Zugpferd der Liberalen, Donald Tusk, als EU-Ratspräsident nach Brüssel gegangen war.
PiS schlägt neue Töne an, hat nun eine Justizreform auf den Weg gebracht, bei der die Staatsanwaltschaft von der Politik an die Kandare genommen wird. Diese wie schon veranlasste Veränderungen rechtfertigen führende PiS-Politiker mit einem seit Jahren erhobenen Vorwurf: dem der Elitenkontinuität seit der kommunistischen Herrschaft. Die Rede ist von einem nach wie vor bestehenden Netzwerk einst kommunistischer, heute sozialdemokratischer oder liberaler Kader mit Zugriff auf wesentliche Schaltstellen quer durch die Gesellschaft: in Politik, Wirtschaft, Gerichten, Medien, Hochschulen. Dagegen vorzugehen, hat sich die neue Regierung zur Aufgabe gemacht. Ganz aus der Luft gegriffen ist dabei die PiS-Kritik nicht, auch wenn sie das Ausmaß des aktuellen politischen Umbaus nicht rechtfertigen kann.
Juristische Aufarbeitung der kommunistischen Herrschaft fehlt
Eine vor allem juristische Aufarbeitung von Polens kommunistischer Vergangenheit fehlt indes laut Stefan Garsztecki, Professor für Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas an der TU Chemnitz, tatsächlich. Selbst für Verbrechen wie die brutal niedergeschlagenen Proteste vom Dezember 1970, bei denen nach offiziellen Angaben 45 Menschen starben – andere Quellen nennen doppelt so viele –, haben hohe Funktionäre nach 1989 keine Konsequenzen ziehen müssen. Bei Demonstrationen gegen drastische Preiserhöhungen griffen seinerzeit Militär und Polizei in Gdingen, Danzig und Stettin durch. Während Wojciech Jaruzelski, später Präsident Polens, seinerzeit Verteidigungsminister, nie verurteilt wurde, so Garsztecki, musste etwa SED-Mann Egon Krenz für das DDR-Grenzregime Mitverantwortung übernehmen und bis 2003 für knapp vier Jahre ins Gefängnis.
Anders als in der DDR kam es 1989/90 auch nicht zu einem Bruch in Polen, einem weitreichenden Elitenwechsel; kein Westen entsandte Verwaltungsfachleute, Polizisten, Richter oder Hochschullehrer für Fächer, die vorher der Indoktrinierung mit kommunistischer Ideologie dienten. Viele Funktionäre machten in Polen einfach weiter; bis in höchste Ämter hinein blieben sie zunächst an der Macht beteiligt. „Netzwerke bestanden in Politik, Bildung und Wirtschaft vor allem in den 1990ern fort“, bestätigt Garsztecki. 1993 bis 1997 und 2001 bis 2005 waren die Sozialdemokraten auch an der Regierung. Die Partei speiste sich maßgeblich aus der alten kommunistischen Staatspartei. Dieser hatte auch Alexander Kwasniewski angehört, 1995 bis 2005 Präsident des Landes. Ökonomisch seien die neuen Sozialdemokraten indes liberal ausgerichtet gewesen. Anders als in den Neuen Bundesländern mauserten sich in Polen jedoch da und dort findige Geschäftsleute zu Oligarchen, etwa der 2015 verstorbene Milliardär Jan Kulczyk. Dass er sich während des Umbruchs ungebührlich bereichert hat, ist laut Presseberichten nie bewiesen worden.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass alte Seilschaften in Polen heute weit weniger Anlass für Kritik bieten als etwa in Rumänien, Bulgarien. Die politische Linke ist heute bedeutungslos, scheiterte 2015 gar am Wiedereinzug in den Sejm, das polnische Parlament. Wer daher aus dieser Richtung eine staatsgefährdende Bedrohung skizziere, liegt falsch, sagt Garsztecki. Der Forscher spricht von „einer Propaganda-Lüge der Regierung“. Im Übrigen pflege diese mit der Vergangenheit selbst eher lockeren Umgang: In das Verfassungsgericht hat PiS nämlich Henryk Cioch gewählt. Zwar lange schon mit ihr verbunden, war jedoch auch er einst Mitglied der kommunistischen Arbeiterpartei. Derartige Widersprüche und der laut Garsztecki von PiS weit übertrieben dargestellte Einfluss alter Seilschaften haben selbst Vertreter der deutschen Minderheit bei der letzten Wahl nicht davon abhalten können, für die Kaczynski-Partei zu stimmen. Dabei täten sich gerade deren Angehörige traditionell schwer mit dem antideutschen Kurs, sagt Sandra Kranich. Doch auch ihr gegenüber hätten Familienmitglieder eingeräumt, für PiS gestimmt zu haben, „weil Sicherheit versprochen wurde“. Überzeugt habe auch das Ziel, „Korruption und Postenschieberei unabhängig von Qualifikationen zu bekämpfen“, sagt die in Ratibor (Racibórz) geborene studierte Kommunikationswissenschaftlerin, die an der TU Dresden am Institut für Massivbau arbeitet. Dass es vor allem aktuelle Fragen waren, die PiS zum Sieg verhalfen, sieht auch Garsztecki so. Noch immer, sagt er, kämpfe das Land mit den Folgen der Transformation nach 1989, die in Polen trotz EU-Unterstützung im Gegensatz zu Ostdeutschland ohne vergleichbare Hilfe gestemmt werden müssen. Die sozialen Probleme sind unübersehbar – sie drücken sich auch aus in der Wahlenthaltung vieler Menschen, die von der Politik nichts mehr erwarten. Im Oktober lag die Beteiligung an der Parlamentswahl bei „vergleichsweise hohen“ 52 Prozent, so Garsztecki. Folglich wählte dennoch fast die Hälfte nicht. So hätten nur 19 Prozent der Berechtigten für PiS votiert, die sich als Kleine-Leute-Partei ausgibt. Denn „obwohl das Land wirtschaftlich vergleichsweise gut dasteht und die internationale Staatsschuldenkrise und ihre Folgen ‚trockenen Fußes‘ überstanden hat, fühlen sich viele Menschen abgehängt“, so Christian Schmitz, Leiter des Warschauer Büros der Adenauer-Stiftung, in einer Wahlanalyse. Dies gelte vor allem für junge Erwachsene, die oft über „Müllverträge“ verfügten, so Garsztecki. Das ist die umgangssprachliche Bezeichnung für prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Zudem plane PiS ein Kindergeld von umgerechnet 120 Euro für Familien ab zwei Kindern.
Neben der Innenpolitik sorgten zuletzt außenpolitische Ziele von PiS für Kritik. Manch schrille Äußerung überdeckt dabei, dass Kaczynskis Leute keinen EU-Austritt planen – im Gegenteil. Sie lehnen aber das zumindest in der deutschen Politik populäre Ziel ab, mehr Rechte nach Brüssel zu übertragen. „Stattdessen will PiS eine Art Europa der Vaterländer“, sagt Garsztecki. In der Energiepolitik wird wiederum auf Deutschland und die EU gesetzt – um ein Gegengewicht zu Russland zu bilden. Schmitz sieht es ähnlich: PiS sei nicht „europafeindlich“. Mit Blick auf Klimaschutz oder Ukraine-Politik macht er überdies „starke Gemeinsamkeiten“ mit der liberalen Bürgerplattform aus.
Etwa 400.000 Ukrainer leben seit Kriegsausbruch in Polen
Wenig bekannt ist hierzulande schließlich, dass Polen durchaus Migranten ins Land lässt. „Man kann nicht sagen, dass niemand aufgenommen wird“, so Garsztecki über den Konflikt in der EU in der Zuwanderungsfrage. 2014 seien 800.000 polnische Visa für die von Krieg geplagten Ukrainer ausgestellt worden – für Studium, Arbeit in der Pflege oder im Handwerk. Da Mehrfachanträge möglich sind, sei laut Schätzungen von 400.000 Ukrainern auszugehen, die derzeit in Polen leben. „Das klappt auch deshalb gut, da das Polnische dem Ukrainischen ähnlich ist.“ In der Frage der Aufnahmekapazität sei zwar zu bedenken, dass Polen finanziell geringere Möglichkeiten hat als Deutschland, jedoch wohlhabender ist als etwa Moldawien. Auch Rumänien oder Bulgarien kommen auf ein geringeres Bruttoinlandsprodukt je Kopf. Namhafte Stimmen, die öffentlich dafür werben, Flüchtlinge aufzunehmen, gibt es trotz schriller Töne aus der Politik ohnehin – etwa in der katholischen Kirche. Die monatelang herrschende Euphorie vieler Menschen in Deutschland mit Blick auf die Zuwanderung, jedenfalls bis zu den Vorfällen in Köln, war aber einem Großteil der polnischen Bürger von Anfang an fremd, so Garsztecki.
Sandra Kranich ist vorerst weiterhin zuversichtlich. Sie hat Silvester in Breslau verbracht – mit Freunden aus Polen, Amerika, Schweden. Der deutsche Zeigefinger – nicht nur in der Flüchtlingspolitik –, komme im Land zwar nicht gut an. Die Neugier auf Deutschland oder die EU bestehe jedoch besonders bei gut ausgebildeten Leuten weiter fort.