Wohin die Reise der Zunft geht, lässt sich gut in einer Nutzwert (Ex-„Ratgeber“)-Redaktion beobachten. Viele waren schon vorher da – während meines Gastspiels tauchten aber weitere, recht grundsätzliche Fragen auf.
DRESDEN. Der Journalismus der Zukunft wird entweder für Leser, Hörer, Zuschauer von Nutzen sein – und zwar auf Euro und Cent bezifferbar. Oder er wird nicht mehr sein. So hat das meine Chefin kürzlich nicht gesagt. Sie hat überhaupt nicht gesagt, welche Zukunft sie für den Journalismus sieht, in welcher Form, mit welchem Gestus. Danach hatte ich sie auch nicht gefragt.
Deutlich, sehr deutlich gemacht hat sie mir aber zu Beginn meiner letzten Ausbildungsstation im Volontariat, wo sie keine Perspektiven erkennt – zumindest für ihr Metier, das Printmedien-Lesern einst als „Ratgeber“ in der Kopfzeile der jeweiligen Zeitungsseite angekündigt wurde. Gaaanz laaange her ist das. Da gab es Tipps für den Garten, Kochrezepte, Kolumnen von Weinliebhabern, Hundefreundinnen, Paartherapeuten. Die gibt’s heute immer noch. Sie werden gelesen! Nur steht da nun „Leben und Stil“ drüber oder „Rat & Leben“ (da ist der Trennungsschmerz gegenüber alten Zeiten noch spürbar) oder einfach nur: „Leben“.
Früher Ratgeber, heute Mordor
Was jedenfalls gar nicht mehr geht – das soll die geänderte Beschriftung des Seitenkopfes kundtun –, ist der erhobene Zeigefinger, Oberlehrerhaftes, das „Aufgemerkt“ – im schlimmsten Fall nicht nur mit einem imaginären, sondern einem realen Ausrufezeichen versehen. Nach dem Motto: Leser, tue dies! Lass jenes! Du musst! Niemals aber! Für meine Chefin ist das Mordor. „Herr der Ringe“-Fans wissen: Schwarzes Land. Diese Art Ratgeber-Journalismus sei passé, während die Zeiten für freundschaftliche Tipps (die mit dem Arm über der Schulter) nie besser waren.
Warum? Was also zeichnet Journalismus mit Nutzwert aus? Schlaumeier könnten einwenden: Aufklärung, Information, Fakten einzuordnen usw. – das hat schließlich (auch) Nutzen. Ist unabhängig vom Themenfeld seit jeher Bestandteil journalistischen Selbstverständnisses. Sollte es sein. Nach dem Chefin-Exkurs wusste ich ja zunächst nur, was Nutzwert-Journalismus nicht ist. Besser: wie er nicht daherkommen soll. Was ihn sonst hervorhebt? Fehlanzeige. Aber, nochmal, ich hatte sie auch nicht danach gefragt.
Stattdessen im Nachgang selbstständige – oberflächliche – Indiziensuche: Andreas Eickelkamp schrieb (sah ich auf Wikipedia) vor fünf Jahren in seinem Buch „Der Nutzwert-Journalismus. Herkunft, Funktionalität und Praxis eines Journalismustyps“: „Die Themenauswahl […] bezieht sich auf den Rezipienten“ – also Leser, Hörer, Zuschauer. Soweit, so unspektakulär. Passt zu jedem andern Themenfeld auch, dachte ich: Politik wie Wirtschaft, Sport oder Feuilleton … Aber jetzt, jetzt kommt es: Sie, die Auswahl der Themen also, erfolge „stets handlungsorientiert, umsetzungsorientiert oder ergebnisorientiert“. Für Eickelkamp steht die Frage im Mittelpunkt: „Was kann der Leser tun, wie und mit welchem Ziel?“ Anders formuliert: Es geht darum, individuelle Vorteile zu bieten, die helfen, den Lebensalltag zu bewältigen. Denn der ist insgesamt komplexer geworden – nicht nur die Technik. Dass dieser sich weiter beschleunigende Wandel nicht banal ist (von wegen: war schon immer so) wie auf den ersten Blick etwa für Digital Natives zu vermuten, verdeutlicht die Tatsache, dass noch vor 15, jedenfalls 20 Jahren Handys – Smartphones gab es noch nicht – im Alltag eine ziemliche Seltenheit waren. Das Internet galt als Tummelplatz für Freaks.
Nur in homöopathischen Dosen, bitte!
„Nutzwertig“ arbeiten Journalisten dabei am besten in homöopathischen Dosen. Denn – merke (unbedingt ausnahmsweise mit Ausrufezeichen) – den Leser niemals überfordern! Niemals! Sonst springt er ab – gleich einem scheuen Rehlein. Deshalb die Lehre, siehe Wikipedia: Nur etwa fünf Prozent des Umfangs sollten sich in einem derartigen Beitrag mit für den Leser Neuem befassen. Wer das auf Prozent genau hingeschrieben hat, meint es ernst. Viel wichtiger ist nämlich etwas anderes: Dreimal so viel vom Umfang sei laut dem mit „Nutzwertiger Journalismus“ betitelten Wikipedia-Eintrag im Schnitt dafür aufzuwenden, „dass die Leser spüren, dass sie und ihre Bedürfnisse dem Autor wichtig sind“. Daher wird auch so oft das Label „Leben“ aufgepappt – soll heißen: näher dran am Leser geht wirklich nicht. Das Ziel sei nämlich – Obacht: in An- und Ausführungszeichen – „‚Nähe‘ zu vermitteln“. Steht dort so, mit Extra-Strichchen. Der Rest, immerhin vier Fünftel des journalistischen Beitrags, ist dafür gedacht, Nutzen „auszustrahlen“. Ohne An- und Ausführungszeichen.
Die geneigte Leserin, auch der weniger geneigte Leser darf annehmen: Das ist kein Zufall. Wo welche Satzzeichen stehen, wo keine. Hat fast etwas Selbstironisches, wüsste man nicht, dass es um knallhartes Geschäft, um Kunden geht. Denn Nutzwert-Journalismus ist ein Einfallstor – für alle Arten von Interessenvertretern. Auch das ist nicht neu. Nichts Besonderes für Journalisten. Sie werden von allen möglichen Lobbyisten umgarnt. Ob nun „Stil“ auf dem Seitenkopf steht oder „Technik und Motor“, „Reise“, „Wohnen“. Auch wenn es um Politik geht, Wirtschaft, Kultur.
Überall versuchen Findige, sich anzupreisen – oder ein Produkt, eine Dienstleistung, whatever. Das Ausmaß aber hat mich überrascht: Kein Tag verging, keine Stunde fast, an dem, in der nicht bei alteingesessenen Kollegen während meines Intermezzos in der Redaktion das Telefon klingelte oder Mails anbrandeten, die „Innovationen“ feilboten wie auf einem Jahrmarkt. Ob man da nicht was drüber bringen könne – klar, gedrechselter, wohlklingender war das formuliert. Man denke an die Vorzüge eines neuen Telefonmodells – Samsung wird sich vermutlich demnächst wieder bemerkbar machen (müssen), kürzlich war Apple an der Reihe. Oder an Fachleute für Traditionelle Chinesische Medizin, die ihr Behandlungsspektrum und die Methoden dazu empfehlen („weit mehl als Akupunktul! Das wissen bislang noch viel zu wenige Leute hiel in Deutschland“) bis hin zu Hotelketten. Die laden dann gern mal zu Pressereisen ein mit „privaten Führungen“ unter dem Titel „Süßes Aachen“ oder zum „Dinner“ in einem ihrer Häuser, in dem „Sie als einer der ersten Gäste die neue Vintage-Design-Bar“ auf der zwölften Etage testen können. Eindrücke vom unteren Ende der Nahrungskette – da ist Luft nach oben.
Konsumgüterindustrie hat Chance längst erkannt
Alltag für jeden Facebook-Nutzer, seit es Cookies gibt, mag der eine oder die andere denken, und damit weniger anstößig, als die Schilderung den Eindruck erweckt. Solange Ross und Reiter in einem journalistischen Beitrag genannt werden: wer lädt ein, wer zahlt was. Klar ist aber auch, dass, wenn derartiger Journalismus im Aufwind ist, das Einfallstor für Interessenvertreter gegenüber einzelnen Journalisten eher größer wird als kleiner. Immer schon beginnt das bei der Frage, was Thema wird, nicht erst dabei, wie darüber zu berichten wäre. Besonders gilt das in Zeiten wie diesen, da das Redaktionsbudget für selbstfinanzierte Recherchen und Reisen kontinuierlich schrumpft. Was wiederum jene wissen, die gern einladen.
Muss einem das das Metier vergällen? Mein Fazit: nein, gerade dem nicht, der „sauberbleiben“ will (anderen wohl erst recht nicht). Nutzwert-Journalismus – dass mir der Begriff keine glückliche Wahl zu sein scheint, müsste deutlich geworden sein, nur fehlt mir die Alternative; vielleicht: guter Journalismus? –, Nutzwert-Journalismus ist ein spannendes, abwechslungsreiches Feld. Die Themen sind aus dem Leben gegriffen, nah am Alltag – abhängig freilich von Geschmack und Interessen: etwa bei der Frage, ob in Milchbrötchen (noch) Milch ist, was den Unterschied macht zwischen veganem und konventionellem Duschbad, Deo, Kondomen; wie ich den Keller richtig lüfte. Ob OPs in kleinen Krankenhäusern gefährlicher sind als in großen oder schlechtes Unternehmensklima krankmacht; wie Online-Händler mit Retouren umgehen und welche Sucht wie gefährlich ist. Auf all diesen Gebieten konnte ich mich ausprobieren.
Ob deshalb Nutzwert-Redaktionen Zukunftslabore des Journalismus sind? Schwere Frage, nach wie vor. Plausibel aber ist, dass sie qua Arbeitsfeld Themen beackern, die Lesern, Hörern, Zuschauern meist von Natur aus näherliegen als Verästelungen einer Unternehmenssteuerreform. Oder anders: Ich muss nichts mehr auf den Einzelnen „runterbrechen“, wenn mich meine Chefin damit beauftragt, Vorzüge und Nachteile eines neuen Mobiltelefons zu testen. Als dann „zeitungsmachender Zeitungsleser“ (Bernd Ulrich) nehme ich das Gerät einfach zur Hand und teste es, um aufzuschreiben, wie es mir dabei ergangen ist. Ziemlich lesernah, oder? Über die Form – Text, Ton, Bild, alles zusammen – muss ich weiter nachdenken, müssen wir alle. Hängt etwa vom Inhalt ab, von meinen Fähigkeiten und der Zielgruppe.
Leser bloß nicht überfordern – vielleicht ein Teil des Problems?
Nutzwert-Journalismus jedenfalls, der das „Verbraucher“-Leitbild (über das Wort „Verbraucher“ sollte man auch mal nachdenken, riet mir meine Chefin ganz naheliegend, Sprache ist verräterisch) – Nutzwert-Journalismus also, der etwa das entsprechende Leitbild des Europäischen Gerichtshofs erstnimmt, in dem vom „informierten, selbstständigen und mündigen Verbraucher“ die Rede ist, hat Zukunft. Hoffe ich. Obwohl mich oft das Gefühl beschleicht, dass es mit der Mündigkeit des Einzelnen eher den Bach runtergeht (trotz oder wegen der seit Jahren inflationär auf den Markt drängenden Ratgeber-„Literatur“?). Klar, dass die auf Nutzwert-Redaktionen einstürmende Konsumgüterindustrie ein Interesse daran hat. Das mit dem Bach liegt womöglich aber auch daran – Frage an die eigene Zunft –, dass ich in den letzten Jahren ich weiß nicht, wie oft gehört habe, Lesern dürfe nicht zu viel zugemutet werden. Kein einziges Mal aber: Wir dürfen sie auch nicht unterfordern.