Für die einen war er der Kanzler der Einheit, andere hat der Tod des Schauspielers Bud Spencer vor einem Jahr mehr berührt. Eine nicht-repräsentative Umfrage.
FLÖHA. Eigentlich redet Gunda Röstel, die frühere Bundessprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, seit ihrem Wechsel in die Wirtschaft vor 17 Jahren nicht mehr öffentlich über Politik. Bei Altkanzler Helmut Kohl, der am 16. Juni in Ludwigshafen starb und heute in Speyer beerdigt wird, macht die Mitgründerin des Flöhaer Neuen Forums und des sächsischen Bündnis 90 eine Ausnahme. „Weil Helmut Kohl die großen Linien verstanden hatte“, sagte sie auf Anfrage am Telefon.
„Die Details der Steuergesetzgebung, die ich für unser erstes persönliches Treffen um den Jahreswechsel 1996/97 auswendig gelernt hatte und über die ich mit ihm sprechen wollte, wischte er damals – leger in der Strickjacke im Bonner Kanzlerbungalow – vom Tisch. Stattdessen schüttete er mir sein europapolitisches Herz aus.“ Das habe ihr imponiert, so die 55 Jahre alte Mutter zweier Kinder, die vor 1990 in Flöha (heute Kreis Mittelsachsen) als Förderschullehrerin gearbeitet hatte, bevor sie einen Ausreiseantrag stellte und deshalb entlassen wurde. „Und ich war 1989 dankbar, dass es jemanden im Westen gab, der dieses nur kurz geöffnete Fenster der Geschichte nutzte und sich über die Zweifler, auch in anderen Parteien, hinwegsetzte“, sagte Röstel, die heute als Geschäftsführerin bei der Stadtentwässerung Dresden arbeitet. „Helmut Kohls Handeln zu dieser Zeit und seine Europapolitik waren große Leistungen, für die er sein ganzes politisches Gewicht einbrachte. Das wird bleiben“, so Röstel.
Ganz anderer Meinung ist ein Flöhaer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Kohl hat am allerwenigsten Anteil an der Wiedervereinigung. Auch die Bundesrepublik hat damit nichts zu tun; dort haben sich nur die Firmen gefreut, an die hiesige Betriebe gewinnbringend verkauft wurden“, sagte der 55-Jährige bei einer Umfrage unter Passanten im Geschäftshaus „Am Anger“ in Flöha. Und weiter: „Die Einheit ging vom Osten aus, vom Mut der Bürger, sich aufzulehnen.“ Ohne Gewalt geglückt sei sie schließlich, da DDR-Führung und Sowjetunion besonnen darauf reagiert haben.
Einen 18 Jahre alten Dittmannsdorfer hingegen hat nach eigenen Worten der Tod des italienischen Schauspielers Bud Spencer vor einem Jahr mehr berührt. „Ich wurde 1998 geboren. Wir haben die Wiedervereinigung zwar im Sozialkundeunterricht behandelt, aber da müsste ich in meinem Hefter nachschauen.“ Helmut Kohl sei für ihn ein Prominenter wie jeder andere. „Die Generation meiner Eltern sieht das vielleicht anders, hat aber womöglich heute auch andere Probleme“, so der junge Mann. Ähnliche Worte wie er findet Stefanie Ludwig aus Chemnitz. Die 28-Jährige hat zwar mitbekommen, dass der Altkanzler gestorben ist. „Aber ich habe nicht darüber nachgedacht; es hat mich nicht berührt“, sagte sie. 1989/90 sei sie überdies zu jung für Politik gewesen.
Bei Jens Hübner war das anders. Für den heute 52-Jährigen bleibt Helmut Kohl „ein ganz Großer“. Hübner sei im Jahre 1990 in Leipzig bei einer Veranstaltung mit dem damaligen Kanzler dabei- und sehr ergriffen gewesen. Der Niederwiesaer sieht in Kohl über dessen Tod hinaus einen wichtigen Wegbereiter der Einheit, der auch für Europa viel getan habe. Zu Kohls Schweigen in der Affäre über die Herkunft von Spendengeld 1999/2000 sagte Hübner: „Jeder macht Fehler.“
Auch für Frau Vogel überwiegt in der Erinnerung an den Pfälzer das Positive: „Er hat sich für die Belange der Bürger in Deutschland noch eingesetzt, hatte das Ohr am Volk. Den Eindruck habe ich bei unserer heutigen Regierung nicht“, so die Niederwiesaerin, die sich noch immer etwa über die Reisefreiheit freut, die es in der DDR nicht gab.
„Dem haben die Leute noch vertraut“, findet auch eine 50 Jahre alte Chemnitzerin. Als sie davon erfuhr, dass der Altkanzler gestorben ist, sei ihr erster Gedanke gewesen: „Oh Gott, wieder einer weg, der was konnte, der Charisma, aus dem Krieg gelernt und Achtung vor den Menschen hatte.“ Damals noch in Leipzig wohnhaft, sei auch sie 1989 auf dem dortigen Innenstadtring bei Demonstrationen dabei gewesen. Ihre Sicht auf die Zeit: Die Wiedervereinigung wurde zwar von DDR-Bürgern auf der Straße erkämpft. „Es ging keiner raus, der nicht wusste, was er wollte: Ein Kumpel meines damaligen Freundes wurde dabei um den 7. Oktober 1989 zusammengeschlagen“, sagte sie. Von „bewaffneten Organen“. „Es war für uns also klar, welches Risiko besteht.“ Helmut Kohl habe die Situation erfasst und mit dem bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) die Einheit politisch vollendet.