Die Insolvenzen in der deutschen Solarindustrie reißen nicht ab und der Osten ist besonders betroffen: Nach Q‑Cells und Sovello aus Bitterfeld hat das Berliner Unternehmen Inventux Insolvenzantrag gestellt, der Solarzulieferer Roth & Rau mit Stammsitz im sächsischen Hohenstein-Ernstthal will Hunderte Mitarbeiter entlassen. Auch First Solar schließt sein Werk in Frankfurt an der Oder. Welchen Einfluss dieser Niedergang auf den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland hat, ist allerdings umstritten.
Der stellvertretende Geschäftsführer des Dresdner Ifo-Instituts, Joachim Ragnitz, sieht die neuen Länder nicht am Abgrund: „Wir haben dort mittlerweile eine breit aufgestellte Wirtschaft. Was wir jetzt erleben, ist eine hysterische Debatte, denn die Solarbranche ist über einzelne, wirklich eng gefasste Regionen hinaus nicht systemrelevant“, sagt er. In den neuen Ländern hätten sich viele Zentren herausgebildet, die für unterschiedliche Branchen stünden: Jena für eine erfolgreiche optische Industrie, der Raum Chemnitz-Zwickau für Maschinen- und Automobilbau, die Ostseeküste für attraktiven Tourismus, Sachsen-Anhalt und Brandenburg neben der Solarbranche für Windenergie und die chemische Industrie.
„Auch im Westen starke Unterschiede“
Matthias Brachert, Solarfachmann vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH), pflichtet Ragnitz bei: Die Solarindustrie komme auf 12.000 bis 15.000 Beschäftigte in Ostdeutschland, die zwar forschungsintensive und gutbezahlte Stellen hätten. Bei 7,5 Millionen Erwerbstätigen entspricht das aber nur einem Anteil von 0,2 Prozent. Bracherts einstiger Chef, der frühere IWH-Präsident Ulrich Blum, hatte auf die aus seiner Sicht herausragende Bedeutung der Solarindustrie hingewiesen: „Ich sehe nicht, wo der Osten mit einer anderen modernen Technologie auf dem Weltmarkt mitspielen könnte.“ Für Brachert dagegen ist selbst ein Zusammenbruch der Solarbranche in den neuen Bundesländern keinesfalls gleichbedeutend mit dem wirtschaftlichen Kollaps der Region.
Ifo-Forscher Ragnitz benennt ein Grundproblem in der Wahrnehmung: Die Politik habe „fatalerweise“ den Ostdeutschen eingebleut, die vollständige Angleichung an das Westniveau sei realistisch, anstatt den internationalen Vergleich mit ähnlich strukturierten Regionen zu suchen. Erschwerend komme hinzu, dass alle mit „dem Westen“ die Länder Baden-Württemberg, Bayern oder Hessen meinten, obwohl diese eher Ausnahmefälle darstellten. „Baden-Württemberg ist nicht typisch. Auch im Westen sehen wir von der Nordsee bis an die Alpen starke Unterschiede“, sagt Ragnitz.
Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums erreichte Brandenburg 2010 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner von 22.300 Euro, in Sachsen waren es immerhin 22.900 Euro. Rheinland-Pfalz und Niedersachsen lagen mit jeweils rund 27.000 Euro nicht weit davon entfernt. Baden-Württemberg, Bayern und Hessen stachen hingegen unter den Flächenländern mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 34.000 bis 37.000 Euro deutlich hervor. In Ostdeutschland stieg das Pro-Kopf-Einkommen von 1991 bis 2010 von 43 auf 73 Prozent des Westniveaus. Polen, Tschechien und Ungarn erreichten 2010 nach Angaben von Eurostat hingegen nur Werte von 15.300, 19.400 und 15.800 Euro. Diese Länder befanden sich 1990 in einer ähnlichen Ausgangslage wie die untergegangene DDR, mussten aber ohne den reichen Westen auskommen.
Dass es mit dem Osten zuletzt aufwärtsging, zeigt auch das Bruttoanlagevermögen je Erwerbstätigen, das deutlich anschwoll. Es stieg von 1991 bis 2010 von 46 auf 85 Prozent des Westniveaus. Zum Bruttoanlagevermögen zählen alle Vermögensgüter, die länger als ein Jahr in der Produktion eingesetzt werden – zum Beispiel Gebäude, Straßen, Fahrzeuge, Maschinen und Software.
Trotz hoher Exportzuwächse sei jedoch die außenwirtschaftliche Verflechtung des Ostens nach wie vor gering, sagt IWH-Forscher Götz Zeddies. Sie aber gilt als wichtiger Gradmesser internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Der Anteil des Warenexports am ostdeutschen BIP stieg nach IWH-Angaben von 1995 mit 5 Prozent auf 23 Prozent im Jahr 2010. Der ostdeutsche Anteil an der gesamtdeutschen Ausfuhr nahm von 3 Prozent im Jahr 1995 auf 7 Prozent im Jahr 2010 zu. Während im Westen freilich 2011 46 Prozent des Exports auf das wichtige Feld der Investitionsgüter entfiel, kommt der Osten nur auf etwas mehr als 32 Prozent.
Dass die Exportquoten ostdeutscher Betriebe gering seien, liege an ihrer nach wie vor kleinteiligen Struktur, sagt Zeddies. Auch sei das traditionell exportorientierte verarbeitende Gewerbe weiter unterrepräsentiert. Nur auf sehr lange Sicht könne der Osten zu den alten Ländern aufschließen. „Durch die starke Spezialisierung auf Vorleistungsgüter, die in großem Umfang nach Westdeutschland geliefert werden und dort in die Endmontage fließen, sind die neuen Bundesländer in nicht unerheblichem Maß indirekt an den westdeutschen Exporterfolgen beteiligt“, sagt Zeddies.
Eigenständige Innovationsfähigkeit
Freilich weist gerade dieser Umstand auf die vielfach kritisierten „verlängerten Werkbänke“ hin, denen Wertschöpfungstiefe sowie Forschungs- und Entwicklungskapazitäten fehlen. Die Forscher Jutta Günther und Philipp Marek schrieben deshalb 2011 in einer IWH-Analyse, die Unternehmen im Osten dürften nicht mehr nur Westkonzepte imitieren. Eigenständige Innovationsfähigkeit sei gefragt. Kleinen Betrieben mit zehn bis 49 Mitarbeitern gelinge dies sogar; sie seien in den neuen Ländern viel öfter darin erfolgreich, innovative Produkte auf den Markt zu bringen als die größeren Betriebe.
Die Ostbetriebe machen dabei aus der Not eine Tugend. Weil große Unternehmen fehlen, fällt der Beitrag der kleinen besonders ins Gewicht: „Wenn die Kapazitäten dieser innovationsfreudigen kleinen Unternehmen wachsen und sie ihre technologische Leistungsfähigkeit weiterentwickeln, können sie einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern leisten“, schreiben Günther und Marek.