Mehr Geld, Weiterbildung und Reisen nach Norwegen – Unternehmen in Ostdeutschland müssen um jeden Lehrling kämpfen. Denn sie leiden besonders stark unter dem demographischen Wandel.
Im Osten Deutschlands drohen die Lichter auszugehen. Nicht jetzt, aber bald. Die Einwohnerzahl schrumpft. Unternehmen, die noch vor wenigen Jahren aus Dutzenden Bewerbungen ihre Auszubildenden wählen konnten, suchen nun händeringend Nachwuchs – und finden ihn immer seltener. Betroffen sind vor allem Kleinbetriebe jenseits der Leuchttürme. Ein Teufelskreis beginnt, denn finden Unternehmen keine Lehrlinge, ziehen sie fort oder machen dicht. Wer bleibt, hat das Nachsehen, neue kommen nicht.
Firmen, Kammern, Verbände, die Politik – sie alle überlegen, wie junge Leute angelockt und zum Bleiben bewegt werden können. Pfiffige Ideen sind gefragt. Die Handwerkskammer (HWK) Leipzig geht voran. Ihr Beispiel könnte Schule machen, holt sie doch seit 2010 jedes Jahr norwegische Lehrlinge in die Messestadt und schickt deutsche nach Skandinavien. Zehn hin, zehn her – jeweils für drei Wochen. „Am Anfang stand ein Ausbilderaustausch, heute geht es darum, unseren Lehrlingen den Blick in die Welt zu öffnen“, sagt Thomas Böttcher, der das Programm, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, an der HWK Leipzig betreut. Ziel sei es dabei nicht, Norweger nach Ostdeutschland abzuwerben, um die wachsende Lehrstellenlücke wieder zu schließen. Es gehe vielmehr darum, Kontakte zwischen Firmen herzustellen und Azubis mit fremden Arbeitsabläufen vertraut zu machen. Handwerk sei nichts Altbackenes, Langweiliges, wo nur die unterkommen, die keinen warmen Bürojob gefunden haben. Das soll die Botschaft sein.
Bindung durch Belohnung
Ein vergleichbares Projekt gibt es in den neuen Ländern nur im brandenburgischen Cottbus, deutschlandweit sind jedes Jahr 200 Azubis an Bord. Nicht jedem Unternehmen fällt es dabei leicht, Lehrlinge freizustellen. Vor allem kleine Betriebe haben Schwierigkeiten – und tun es doch. Mitfahren darf nur, wer einen Auswahlprozess absolviert; meist sind es so die Besten einer Branche oder eines Jahrgangs: Zimmerleute, Tischler, Steinmetze, Elektroniker. Die Absicht der teilnehmenden Firmen ist es nicht nur, Geschäftskontakte ins Ausland zu knüpfen oder den Horizont der Lehrlinge zu weiten. Es gehe auch darum, sie an sich zu binden, um eine Art Belohnung also. „Die Neunziger Jahre“, sagt Böttcher, „in denen nur jeder Vierte eine Lehrstelle im dualen System bekam und die Hälfte eines Jahrgangs nach der Schule direkt in den Westen ging, ein Viertel aber in überbetriebliche Maßnahmen, diese Zeiten sind vorbei.“
Die Eckdaten geben ihm recht: Zählte allein der sächsische Handwerkskammertag 2008 noch 21.000 Ausbildungsverhältnisse, war es 2011 schon ein Drittel weniger – vor allem, weil (geeignete) Bewerber fehlen, bleiben immer häufiger Lehrstellen unbesetzt. Im Ausbildungsjahr 2010/11 meldete die Bundesagentur für Arbeit knapp 91.000 junge Leute in ganz Ostdeutschland, die eine Lehrstelle suchten, gegenüber mehr als 94.000 Stellen, die Unternehmen angeboten hatten. Auch wenn sich das Verhältnis im Folgejahr noch einmal drehte, dürfte das künftig die Ausnahme bleiben. Verursacht wird dies durch die ebenfalls rückläufigen Schülerzahlen, die in Sachsen bis Mitte des nächsten Jahrzehnts nach dem rapiden Einbruch infolge der Wiedervereinigung zwar vielerorts steigen – jedoch nur vorübergehend und von zu niedrigem Niveau aus. Danach setzt sich der Sinkflug fort. Politiker und Unternehmen stehen längst unter Handlungsdruck. Der Telekommunikationsdienstleister Kommunikation Sachsen AG (Komsa) zum Beispiel, mit 1400 Mitarbeitern und 60 Auszubildenden eines der Zugpferde im Chemnitzer Umland, fährt vielgleisig, um Nachwuchs zu gewinnen und langfristig zu binden. „Wir bieten regelmäßige Unternehmensführungen an, Ferienjobs, schon in der Schulzeit Praktika, haben Patenschaften übernommen, in denen Komsa einzelne Klassen vom achten Schuljahr an bis zum Realschulabschluss oder Abitur begleitet“, sagt Unternehmenssprecherin Katja Förster. In Projektwochen könnten Jugendliche überdies selbst Hand anlegen und beispielsweise in die Handyreparatur hineinschnuppern. In einem Internetblog berichten Azubis für Gleichaltrige über ihre Erfahrungen aus dem Arbeitsalltag. Und dennoch: Seit etwa drei Jahren sinke die Bewerberzahl für ausgeschriebene Lehrstellen. Das Unternehmen hat deshalb jüngst die Ausbildung in bestimmen kaufmännischen Berufen etwa für Dialogmarketing für Absolventen mit Realschulabschluss geöffnet, bislang hatte man ein Abitur verlangt. Die eigenen Ansprüche aufweichen wolle man damit nicht, sagt Förster. „Es kommt auf den Einzelfall an, wir setzen weiter auf Fertigkeiten und Charakter.“
Größere Unternehmen werden so wohl auch künftig Bewerber abweisen können, die sie nicht für geeignet halten. In Sachen „Eignung und Qualifikation bleiben wir bei den bisherigen Anforderungen“, sagt auch Cornelia Ehrler vom Unternehmen Jenoptik, das mit 1300 Mitarbeitern und knapp 40 Auszubildenden in Jena gemeinsam mit Schott und Carl Zeiss schon 1991 ein Bildungszentrum ins Leben gerufen hat. Dort werden Schnupperlehren, Ausbildungstage oder mehrtägige Infocamps zur Berufsorientierung angeboten. Dies alles dient dem Ziel, Interessierten nicht nur Berufsfelder im kaufmännischen Bereich vorzustellen, sondern auch in der feinmechanisch-optischen und in der Glasindustrie. Potentielle Lehrlinge können in den verschiedenen Angeboten den Umgang mit Werkzeugen, Werkstoffen, Geräten oder Maschinen erproben und bekommen Tipps zum Bewerbungsverfahren. Geeigneten Nachwuchs zu gewinnen, will hier keiner dem Zufall überlassen. Die Kehrseite: Größere und bekannte Firmen saugen die besten Kräfte weit um ihren Standort ab, kleine müssen die nehmen, die übrig bleiben.
„Mundpropaganda ist das A und O“
Friedrich Piehler, langjähriger Obermeister der Zwickauer Fleischerinnung und selbst Inhaber eines Betriebes mit 14 Mitarbeitern, sieht Unternehmen mit fünf, zehn oder 15 Mitarbeitern vor diesem Hintergrund schnell an ihre Grenzen stoßen. Viele seiner Kollegen hätten in den letzten Jahren schon dichtgemacht, weil nicht nur steigende Energiekosten und Billigkonkurrenz das Geschäft drückten, sondern auch Nachfolger für die Unternehmensführung und geeigneter Lehrlingsnachwuchs fehlten. „Viele Jugendliche wollen ‚saubere Berufe’“, sagt er und spielt damit an auf Ausbildungen zum Verwaltungsfachangestellten oder zur Bürokauffrau. Im eigenen Unternehmen wappnet er sich gegenüber der rückläufigen Bewerberzahl – im Vergleich zu den neunziger Jahren um etwa 50 Prozent – mit einer verbesserten Ausbildung seiner Azubis. „Noch immer ist für kleine Betriebe wie unseren Mundpropaganda das A und O“, sagt er. Man müsse den Leuten heute dennoch mehr bieten und solche, die man halten will, über Tarif bezahlen. Geld allein sei aber nicht entscheidend.
“Unserem letzten Lehrling habe ich nach der Fleischerlehre angeboten, noch eine zweijährige Ausbildung zum Verkäufer anzuschließen. Probiert haben wir das vorher nie. Das bringt ihm was – und uns auch“, sagt Piehler, in dessen Innungsbezirk die Zahl der Azubis von 25 vor 15 Jahren auf acht im vergangenen Jahr zurückging, die Zahl der Betriebe sank im gleichen Zeitraum von 39 auf 16. Aus der Kreishandwerkerschaft hört er immer wieder Klagen über dürftige Zeugnisse und schlechtes Benehmen vieler Lehrstellenbewerber, Umstände, mit denen auch die größeren mittlerweile umgehen lernen müssen. „Wir können nicht ausbügeln, was zu Hause und in der Schule versäumt worden ist“, gibt er den Ball an Eltern und Politik zurück. Personal aus dem Ausland anzuwerben, wie es in großen Fleischfabriken Niedersachsens längst üblich sei, ist in seiner Innung bislang kein Thema. Dass das so bleibt, darauf möchte sich der 60-Jährige aber nicht festlegen.
Gruppen unterstützen, die es am Arbeitsmarkt schwer haben
Die Politik setzt indes auf verschiedene Ansätze. Einerseits, sagt Florian Schaefer vom sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit, verzeichne Sachsen seit zwei Jahren Wanderungsgewinne (während weiterhin viel mehr Menschen sterben, als geboren werden). Andererseits gehe es längst auch darum, Gruppen zu unterstützen, „die es am Arbeitsmarkt schwer haben“. Schaefer meint Langzeitarbeitslose und junge Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss. Die schwarz-gelbe Staatsregierung in Dresden habe darum vergangenes Jahr eine „Fachkräftestrategie 2020“ verabschiedet, um dem sich abzeichnenden Mangel ressortübergreifend zu begegnen.
Auch wenn darin die Rede ist von „gesteuerter Zuwanderung und Ansiedlung von Fachkräften“, herrscht in Unternehmerkreisen branchenübergreifend Skepsis, ob eine bloße Bestandsaufnahme, garniert mit längst bekannten Forderungen, ausreichen wird. Aus eigener Kraft kann keines der Ostländer den sich mehr als im Westen schon jetzt abzeichnenden Fachkräftebedarf decken, selbst wenn alle örtlichen Reserven mobilisiert werden.