Warum Jesús im Tal der Müglitz arbeitet

Aus Katalonien ins Müglitztal: Jesús Zapata an einer CNC-Drehmaschine im Dohnaer Gewerbegebiet.
Aus Kata­lo­ni­en ins Müg­litz­tal: Jesús Zapa­ta an einer CNC-Dreh­ma­schi­ne im Doh­na­er Gewer­be­ge­biet. Foto: Micha­el Kunze.

Was macht ein säch­si­scher Unter­neh­mer, der kaum noch Mit­ar­bei­ter fin­det? Er stellt jun­ge Spa­ni­er ein und küm­mert sich um deren Inte­gra­ti­on. Dabei spie­len Umar­mun­gen und Fahr­rä­der eine Rolle.

DOHNA. Um das Jahr 1400 durch­zog eine Blut­spur das Tal der Müg­litz. Es war die Zeit der Doh­nai­schen Feh­de, an deren Schluss­punkt sich die Mei­ße­ner Mark­gra­fen den Land­strich von den ört­li­chen Burg­her­ren ein­ver­leib­ten. Längst ist Ruhe ein­ge­kehrt in das 6000-Ein­woh­ner-Städt­chen, süd­öst­lich von Dres­den. Und allein mit idyl­li­scher Land­schaft und his­to­ri­schen Epi­so­den las­sen sich vor allem jun­ge Leu­te nur noch sel­ten in die Regi­on locken. Nach ihnen aber suchen mit­tel­stän­di­sche Fir­men längst händeringend.

Eine davon ist die von Peter Schie­kel. Als der 60 Jah­re alte Unter­neh­mer 1992 mit sei­nem Bru­der Gert die SPS Schie­kel Prä­zi­si­ons­sys­te­me GmbH grün­de­te, „war Fach­kräf­te­man­gel kein The­ma“, sagt er. „Im Gegen­teil. Wir beka­men auf jede aus­ge­schrie­be­ne Stel­le 20 bis 30 Bewer­bun­gen.“ Heu­te ist es mit­un­ter nur eine.

Das brach­te den Wachs­tums­kurs des Unter­neh­mens, das auf die mecha­ni­sche Bear­bei­tung von Edel­stahl in Klein- und Mit­tel­se­ri­en spe­zia­li­siert ist, ernst­haft in Gefahr. Immer schwie­ri­ger wur­de es für die Doh­na­er, geeig­ne­te Bewer­ber zu fin­den. Dabei sind aus anfangs zwölf mitt­ler­wei­le 100 Mit­ar­bei­ter gewor­den. Wenn es bei der Erfolgs­ge­schich­te blei­ben soll­te, muss­ten neue Wege in der Rekru­tie­rung von Mit­ar­bei­tern beschrit­ten wer­den. Stand­ort­nach­tei­le quä­len den Mit­tel­stand in der gan­zen Regi­on: die nied­ri­gen Gebur­ten­ra­ten der neun­zi­ger Jah­re, eine trotz der Nähe zu Dres­den sehr länd­li­che Struk­tur, die man­che Jugend­li­che abschre­cke, das für Schie­kel zu Unrecht „schlech­te Image der Blau­mann-Beru­fe“ und eine gegen­über der Indus­trie gerin­ge­re Bezah­lung. „Dabei haben gute Fach­ar­bei­ter, Meis­ter und Inge­nieu­re in klei­ne­ren Fir­men gro­ße Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten, kön­nen viel selbst­be­stimm­ter arbei­ten“, sagt er.

Auf die Idee, es im wirt­schaft­lich gebeu­tel­ten Spa­ni­en zu ver­su­chen, brach­te den Mit­tel­ständ­ler das Dia­ko­ni­sche Werk. Der evan­ge­li­sche Wohl­fahrts­ver­band in der nahen Ober­lau­sitz beschäf­tigt längst Dut­zen­de aus­län­di­sche Arbeits­kräf­te, unter ihnen vie­le Spa­ni­er. Schie­kel such­te den Erfah­rungs­aus­tausch. Denn: „Vom Kli­schee des Süd­eu­ro­pä­ers“, räumt er klein­laut ein, „der sich mit­tags zur Sies­ta zurück­lehnt, war auch ich vor­her nicht ganz frei.“

Nun aber ver­stär­ken sie­ben Spa­ni­er sei­ne Mann­schaft. Inse­ra­te im Inter­net, Rei­sen nach Spa­ni­en und Bewer­bungs­ge­sprä­che, Hil­fe zur Woh­nungs­su­che, Dol­met­sche­rin und Sprach­kur­se – sei­ne Kos­ten dafür ver­an­schlagt Schie­kel auf 30 000 bis 40 000 Euro. Gut ange­leg­tes Geld sei das, ist er über­zeugt. Nach sechs Mona­ten Pro­be­zeit hat er alle Neu­an­kömm­lin­ge im April unbe­fris­tet über­nom­men. „Zu den glei­chen Kon­di­tio­nen wie ihre deut­schen Kol­le­gen und ohne Hil­fe von außen“, sagt der Unter­neh­mer. Schie­kel ist von Poli­ti­kern und Behör­den ent­täuscht: „Die reden nur.“ So schei­ter­ten Zuschüs­se für Sprach­kur­se an den büro­kra­ti­schen Vor­ga­ben. Jene Berufs­bil­der, nach denen er expli­zit fragt, stün­den zudem nicht auf der soge­nann­ten Man­gel­be­rufs­lis­te der Bun­des­agen­tur für Arbeit. Die­se wird laut Bea­te Raa­be von deren Zen­tra­ler Aus­lands- und Fach­ver­mitt­lung in Bonn zwei­mal jähr­lich aktua­li­siert, um Ver­än­de­run­gen im Bedarf der Fir­men zu berücksichtigen.

Schie­kel braucht Dre­her und Frä­ser, für die es kei­ne Zuschüs­se gibt; sie ste­hen nicht auf der Lis­te. Such­te er Mecha­tro­ni­ker, sähe es anders aus. Dann kön­ne Geld flie­ßen für Kur­se aus dem Pro­gramm für EU-Bür­ger. „Aller­dings nur, wenn bis zu 80 Pro­zent der Pflicht­stun­den in den ange­bo­te­nen Sprach­kur­sen geleis­tet wur­den, zu uto­pi­schen Unter­richts­zei­ten“, ärgert er sich. „Die Zei­ten“, stellt Raa­be klar, „hän­gen vom Ange­bot der Sprach­dienst­leis­ter ab.“

Jesús Zapa­ta lernt Deutsch, wenn auch ohne För­de­rung aus dem Pro­gramm. Er kommt aus Tar­ra­go­na in Kata­lo­ni­en. Der 29-Jäh­ri­ge ist einer der Neu­en in Schie­kels Team und wie sei­ne sechs Kol­le­gen im Alter von 25 bis 36 Jah­ren schon fest ins Drei-Schich­ten-Sys­tem des Betriebs inte­griert. Rou­ti­niert bedient Zapa­ta, der als ein­zi­ger sei­ner Lands­leu­te Maschi­nen­bau stu­diert hat, eine der CNC-Werk­zeug­ma­schi­nen. „Die Ein­ar­bei­tung ging recht schnell“, freut sich der jun­ge Mann. „In Spa­ni­en hat­ten wir die glei­chen Maschi­nen.“ Hier wie dort arbei­tet er acht Stun­den am Tag. „Die Phi­lo­so­phie“ der Deut­schen sei indes eine ande­re, meint er lächelnd. Und ergänzt: „Hier ist mehr Ord­nung, es gibt mehr Regeln. Und das Wet­ter, na ja.“ Dann ringt er nach Wor­ten. Eine Spra­che von Grund auf neu zu ler­nen braucht Zeit.

Acht­zu­ge­ben auf Men­ta­li­täts­un­ter­schie­de, das hat Schie­kel auch die Mit­ar­bei­te­rin einer Dres­de­ner Per­so­nal­agen­tur gera­ten. Wäh­rend er mit ihr im Som­mer ver­gan­ge­nen Jah­res besprach, wel­che Leu­te mit wel­chen Qua­li­fi­ka­tio­nen er sucht, nahm sie dem Sach­sen eini­ge Illu­sio­nen. „Ich war anfangs eini­ger­ma­ßen naiv“, räumt er ein. Doch wie an die Kan­di­da­ten kom­men? Wie Qua­li­fi­ka­tio­nen ver­glei­chen, wenn es in Spa­ni­en noch kein dem dua­len Modell in Deutsch­land ver­gleich­ba­res Aus­bil­dungs­sys­tem gibt?

Schie­kel heu­er­te eine Stu­den­tin an, die das Inter­net nach spa­ni­schen Job­por­ta­len durch­fors­te­te, in denen inse­riert wer­den soll­te. Gleich der ers­te Ver­such war ein Fehl­schlag. Auf sei­ne Aus­schrei­bung kam kei­ne ein­zi­ge Reak­ti­on. Bes­ser lief es über die zwei­te Stel­len­bör­se: „Auf ein­mal hat­ten wir vier­zig Bewer­bun­gen“, freut sich der Inge­nieur noch Mona­te später.

Vier­zehn Bewer­ber wähl­te er mit der Dol­met­sche­rin aus, lud die Kan­di­da­ten in ein Madri­der Hotel zum Vor­stel­lungs­ge­spräch ein. Zwölf erschie­nen, von denen sie­ben einen Arbeits­ver­trag bekamen.

Für sie folg­ten über meh­re­re Wochen täg­lich Deutsch-Inten­siv­kur­se. Und noch immer pau­ken sechs der Neu-Sach­sen sams­tags die für alle ganz und gar neue Spra­che. Auch Wohn­ge­mein­schaf­ten als ers­te Blei­be orga­ni­sier­te das Fami­li­en­un­ter­neh­men in den umlie­gen­den Gemein­den. Deut­sche Kol­le­gen stell­ten Fahr­rä­der bereit, Behör­den­gän­ge wur­den gemein­sam gemeis­tert. „Sie dür­fen die Leu­te nicht allein las­sen, vor allem in den ers­ten Wochen. Sonst sind sie schnell wie­der weg, weil vie­les neu und unge­wohnt ist. GEZ, Kran­ken­kas­se, Mel­de­we­sen, Tele­fon, Ren­ten­ver­si­che­rung, Müll­tren­nung – ein wei­tes Feld, dazu kul­tu­rel­le Eigenheiten.“ 

Schie­kel weiß von dem abwei­chen­den Ver­hält­nis von Nähe und Distanz in bei­den Län­dern zu berich­ten, auch gegen­über Vor­ge­setz­ten: „Zum Bei­spiel bei Begrü­ßun­gen“, sagt er. „In Deutsch­land umar­men sich Kol­le­gen und Chef nicht mor­gens bei Arbeits­an­tritt, son­dern hal­ten – auch kör­per­lich – Abstand.“ Umge­kehrt in Spa­ni­en: Dort wür­de sich „das Gegen­über fra­gen, ob es ein Pro­blem gibt“, wenn das übli­che Begrü­ßungs­ri­tu­al aus­bleibt. Wegen sol­cher Irri­ta­tio­nen klin­gel­te anfangs oft das Tele­fon, erin­nert sich der Unter­neh­mer schmunzelnd.

Der­art vie­le Aus­län­der zu inte­grie­ren – im Ver­trieb beschäf­tigt Schie­kel auch eine Fach­kraft aus Russ­land –, will gut vor­be­rei­tet sein in einer Fir­ma von über­schau­ba­rer Grö­ße. „Da gab es zunächst ein gewis­ses Frem­deln bei man­chen deut­schen Kol­le­gen. Wich­tig ist dabei, alle mit­zu­neh­men und gut zu begrün­den, war­um wir das machen“, erklärt er sein Vor­ge­hen. So bezahlt er auch Spa­nisch-Kur­se für deut­sche Mit­ar­bei­ter, weil Inte­gra­ti­on kei­ne Ein­bahn­stra­ße sei. Heu­te freut er sich: „Mitt­ler­wei­le sind Freund­schaf­ten ent­stan­den, über Natio­na­li­tä­ten hinweg.“

Jesús Zapa­ta mie­te­te eine Woh­nung in der Nach­bar­stadt Hei­denau, nur weni­ge S‑Bahn-Minu­ten vom Dres­de­ner Haupt­bahn­hof ent­fernt. In die Elbe­stadt zieht es ihn seit eini­gen Wochen häu­fi­ger: Dort hat er eine jun­ge Deut­sche als Part­ne­rin ken­nen­ge­lernt. Der 29-Jäh­ri­ge will am in Kür­ze sein Auto aus Spa­ni­en nach­ho­len, um mobi­ler zu sein in der länd­li­chen Regi­on. „Noch neh­me ich das Fahr­rad, auch wenn ich zum Fuß­ball­spie­len fah­re mit zwei Kol­le­gen aus der Firma.“

Dank sei­nes Stu­di­ums hat er beson­de­re Plä­ne, die auch sein Chef kennt. Zapa­ta will wie alle zunächst Deutsch ler­nen und natür­lich Geld ver­die­nen. Danach jedoch könn­te er sich vor­stel­len, einen Maschi­nen­bau-Mas­ter an einer deut­schen Hoch­schu­le anzu­hän­gen. „Und ich will nach Ber­lin und nach Hameln fah­ren“, schiebt er, einen Flö­ten­spie­ler mimend, nach. Auch in Spa­ni­en sei die Sage vom Rat­ten­fän­ger aus Hameln populär. 

Las­sen sich jun­ge Leu­te etwa heu­te noch mit his­to­ri­schen The­men in die Pro­vinz locken? Im mit­tel­al­ter­li­chen Doh­na jeden­falls hat­ten die Mei­ße­ner Mark­gra­fen – so wie in die­sen Tagen Zapa­ta und Schie­kel – hand­fes­te wirt­schaft­li­che Inter­es­sen: Die streit­lus­ti­gen Doh­na­er Burg­her­ren, gegen die sie damals vor­gin­gen, bedroh­ten den Han­del zwi­schen Böh­men und Sach­sen. Doch die Zei­ten ändern sich. Längst geht der kul­tu­rel­le und öko­no­mi­sche Aus­tausch im Müg­litz­tal fried­lich und über die nahen Gren­zen hin­aus vonstatten.

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