Joachim Glaubitz war Statist am Görlitzer Theater, studierte bei Ernst Bloch in Leipzig und ging dann in den Westen. Er leitete das Goethe-Institut in Tokio und beriet nach seiner Rückkehr deutsche Politiker und Industrielle wie Berthold Beitz. Seit 1996 lebt der Japanologe in Chemnitz-Euba – und feierte kürzlich seinen 85. Geburtstag.
EUBA. Der Historiker Eberhard Jäckel hat das 20. Jahrhundert als das deutsche bezeichnet – in seiner ganzen Tragik, gekennzeichnet durch zwei Weltkriege und am Ende des Kalten Kriegs durch die Überwindung des Eisernen Vorhangs auch in der deutschen Wiedervereinigung. Der Eubaer Joachim Glaubitz erlebt diese Tragik, all die Spannungen dies- wie jenseits der Elbe und vom Ausland aus mit. Geboren 1929 unweit von Görlitz, will er zunächst Schauspieler werden. Sein Entschluss steht fest, schon während der Schulzeit. Jahrelang arbeitet er als Statist am Görlitzer Theater. Nach Schauspielunterricht und Abitur erfüllt sich sein Jugendtraum: mit einem Engagement am Glauchauer Stadttheater. Doch zuvor, noch in den letzten Kriegswochen, droht ihm, dem damals Sechzehnjährigen, der Fronteinsatz. Dass es dazu nicht kommt, ist eine eigene Geschichte. Glaubitz hatte Glück. Der Arzt hingegen, der ihn und andere vom Frontdienst freistellt, verschwindet spurlos nach Sibirien.
Das Theater jedoch bleibt Episode, Glaubitz will es so: „Ich merkte doch schnell, das ist nichts für mich“, sagt er knapp. Und wird stattdessen Lehrer. Glaubitz lernt in einem Intensivkurs Russisch, zunächst in Meißen, dann in Leipzig. Abermals kommt es zu einer Wende: Obwohl schon ausgebildet zum Russischlehrer, fasziniert ihn nun die chinesische Schrift derart, dass er sich für ein Studium der Sinologie entscheidet. Das arrangiert ein Professor des Fachs, den Glaubitz zufällig in Leipzig während seiner Russischkurse kennenlernt. Nun ist es also China, dem er sich widmet – und dessen Schrift und Sprache. Bis Januar ´53 hört er aber auch den Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907–2001) in Leipzig, der mit Brecht in Kontakt steht und später im Westen mit Marcel Reich-Ranicki im Fernsehen auftritt. Niemand geringeres als Ernst Bloch (1885–1977) prüft ihn schließlich im obligatorischen Fach Marxismus-Leninismus. Wobei er durchfällt. Das räumt er ein.
Nicht aber deshalb will Glaubitz Anfang ´53 weg aus der DDR. Sondern wegen der einseitigen Politisierung des Studiums an der Leipziger Uni und des Lebens im Lande allgemein. „Das SED-Regime bestand aus Lüge und Gewalt. Wer die Lüge nicht akzeptierte“, beschreibt er das Dilemma, „bekam die Gewalt zu spüren.“ Die von ihm in der Anfangszeit als „noch recht offen“ beschriebene Diskussionskultur in den Seminaren weicht mehr und mehr ideologischer Verbohrtheit. Wer anders denkt als es die SED vorgibt, hütet sich entweder, darüber offen zu sprechen oder muss mit Konsequenzen rechnen. Oder: sie selbst ziehen. Das tut Glaubitz dann, gerade 23 Jahre alt. Wie 13 der 15 Schüler seiner Abiturklasse verlässt er die DDR. Über Berlin geht es in den Westen. Seine Eltern bleiben in Görlitz; Jahr für Jahr besucht er sie nun in der alten Heimat, während er in Hamburg Japanologie studiert.
Mit den Reisen in den Osten ist es bald aber vorerst vorbei. Seit 1958 verweigert der SED-Staat sogenannten Republikflüchtlingen wie ihm die Einreise. Glaubitz ist nun Wissenschaftler, ein Ostasienfachmann, er wird in Japanologie promoviert. Fünf Sprachen beherrscht er mittlerweile: Neben seiner Muttersprache sind dies Mandarin, Englisch, Japanisch und Russisch. Die Zeit, in der er sich in Hamburg zunächst als Tellerwäscher verdingt, aber auch die Schauspielerlegende Gustaf Gründgens als Mephisto am Theater erlebt, sie ist vorüber, als Glaubitz sich bei Industriegiganten wie Höchst oder Bayer bewirbt. Während es dort nicht klappt, tut sich am Goethe-Institut in München eine andere Perspektive auf. Die 1951 gegründete Sprach- und Kultureinrichtung sucht Ende der 50er-Jahre händeringend nach Personal. Gastarbeiter, die seinerzeit tausendfach in die Bundesrepublik strömen, sollen Deutsch lernen. Glaubitz ist einer von denen, die sie fortan unterrichten, bis er 1962 die Zelte abbricht. Und ins Schiff steigt. Von Genua aus beginnt eine achtwöchige Reise nach Japan. Die Fahrt selbst ist eine Geschichte für sich und gerät ihm und seiner Familie zu einer heute selten gewordenen Entschleunigungserfahrung in einer schon damals hektischen Welt. Mit Frau und Tochter in Tokio angekommen, ist ihm, dem Japanologen, sagt er, zunächst „alles neu“. Glaubitz leitet für drei Jahre das Goethe-Institut in der japanischen Hauptstadt. Eine Art sprachkultureller Botschafter seiner Heimat ist er.
Er reist viel – nicht nur in Japan, sondern auch nach Korea. 1964 steht er dann erstmals in China vor der Großen Mauer. Doch – verkehrte Welt: Alles ist anders als heute. „Es gab keine Touristen. Ich war ein einsamer Besucher, keine Autos, aber Fahrräder, keine Elektrizität jenseits weniger großer Städte“ – während er Hongkong, die britische Kronkolonie, als „brodelnde, funkelnde, kapitalistische Großstadt“ erlebt. Shenzhen, heute eine 10-Millionen-Einwohner-Metropole, liegt stattdessen als „winziges Örtchen“ in der Landschaft.
1966 kehrt er aus Japan nach Deutschland zurück. Der 37-Jährige geht nach Köln an das Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus. Zwei Jahre nur bleibt er, wechselt dann nach München, da er unzufrieden ist mit der inhaltlichen Enge der Behörde. Seine neue Station ist anders – anregender, vielseitiger: die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). An der größten Einrichtung ihrer Art in Europa berät er Bundestag und Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Glaubitz liefert Analysen zur politischen Lage im sowjetischen Machtbereich und in Fernost, habilitiert sich 1973 mit einer Arbeit über die chinesisch-russischen Beziehungen und wird Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität. Längst ist er ein Fachmann, der gehört wird an höchster Stelle. Von Politikern zum Beispiel oder in der Essener Villa Hügel, wo er dem Thyssen-Krupp-Patriarchen Berthold Beitz (1913–2013) persönlich vorträgt.
Schließlich, 1992, wird er pensioniert. Deutschland ist da längst wiedervereinigt. Wie viele, so hat auch er auf „dieses Glück“ kaum mehr zu hoffen gewagt. Vielmehr erscheint ihm Honeckers Staatsbesuch in Bonn fünf Jahre zuvor wie „eine Besiegelung der Zweistaatlichkeit“. Dass er nach 1981, als er für eine wissenschaftliche Konferenz erstmals ins damalige Karl-Marx-Stadt fährt, noch einmal dahin zurückkehren würde, gar auf Dauer, steht zunächst nicht zur Debatte. Doch kaum zwei Jahre nach seiner Pensionierung erhält seine zweite Ehefrau, die Politologin Beate Neuß, eine Professur an der TU Chemnitz. Auch Glaubitz erteilt hier anfangs noch Seminare. Gar nicht so weit weg von Glauchau, der kurzzeitigen Wirkungsstätte als Schauspieler, bauen beide ein Haus. Und ziehen 1996 nach Euba. Seither, sagt er, „hat sich Chemnitz dramatisch zum Besseren verändert“. Glaubitz schätzt die „interessante Kunstszene, Ausstellungen, das Theater“. Und die „wunderbare Stille“. In Euba. Seit Jahren spielt er Schach im TSV Ifa Chemnitz und sagt von sich doch, dass er „kein großer Schachspieler“ sei. „Die Qualität meiner Niederlagen hat sich aber verbessert“, schiebt er nach, mit einer für ihn typischen Mischung aus Bescheidenheit und Ironie.
Joachim Glaubitz ist ein stiller Arbeiter, ein Gelehrter alter Schule, einer, der zuhört und noch immer aufmerksam das Weltgeschehen verfolgt. Aus dem Russischen ins Deutsche überträgt er noch im Jahr 2011 knapp 140 Dokumente Michail Gorbatschows und seiner Berater zur deutschen Frage; in Heft 2 (2014) der Jenaer Zeitschrift „Gerbergasse 18“ erscheint nun abermals eine Übersetzung von ihm, diesmal die eines Beitrags von Roman Boldyrew zum Thema „Alltagsleben sowjetischer Militärangehöriger in Dokumenten der politischen Verwaltung der SMAD“.
Lesetipp: Alexsandr Galkin/Anatolij Tschernjajew (Herausgeber): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, übersetzt von Joachim Glaubitz, erschienen im Oldenbourg-Verlag, München 2011, 640 Seiten, 69,80 Euro.
Nachtrag vom 23. November 2021: Joachim Glaubitz ist am 9. November 2021 gestorben.
toll!! ich bin überwältigt, gratuliere.
ein wirklich wunderschönes Portrait … selbst für Verwandte erhellend!
Ich habe Herrn Glaubitz dieser Tage anläßlich seines hervorragenden Vortrags über Gorbatschow in Leipzig erlebt und bin sehr erfreut, hier ein so umfassende Biografie lesen zu können.
Vielen Dank für Ihren Zuspruch! Eine gekürzte Version erschien im Sommer in der Chemnitzer „Freien Presse“.