Dresden, 26. Juni 2014

Bald vier­zehn Jahr ist es her, da haben wir uns ken­nen­ge­lernt. Es war der 2. Novem­ber des Jah­res 2000. Bei­na­he unser hal­bes, noch immer jun­ges Leben lang kann­ten wir uns. An die­sen ers­ten Tag erin­ne­re ich mich des­halb so genau, weil ich mei­nen Grund­wehr­dienst nicht am katho­li­schen Fest Aller­hei­li­gen anzu­tre­ten hat­te, in Bay­ern ein Fei­er­tag, son­dern erst einen Tag spä­ter, an Aller­see­len. An Allerseelen. 

Wäh­rend ich mit der Bahn aus Sach­sen im Nord­os­ten anreis­te, fuhr er mit dem eige­nen Wagen aus süd­li­cher Rich­tung in den Feld­kir­che­ner Orts­teil Mit­ter­hart­hau­sen. Wie Dut­zen­de ande­re kamen wir an die­sem Tag in der Gäu­bo­den­ka­ser­ne an, nur einen Stein­wurf ent­fernt von der Römer­sied­lung Strau­bing. Nach und nach tru­del­ten die Wehr­pflich­ti­gen ein, wur­den den Aus­bil­dungs­kom­pa­nien zuge­teilt, den Zügen, Grup­pen, Stu­ben. In einer Vier­mann­stu­be der zwei­ten Grup­pe des zwei­ten Zugs der sie­ben­ten Kom­pa­nie des gemisch­ten – also Män­nern und Frau­en offen­ste­hen­den – Laza­rett­re­gi­ments 12 fan­den sich wie­der: der Nie­der­bay­er, von dem hier die Rede ist, und drei Sach­sen. Einer von ihnen wie­der­um war ich. Kei­ner von uns vie­ren tat sich leicht mit der neu­en Wirk­lich­keit des doch recht wider­spruchs­lo­sen Gehor­chens und Aus­füh­rens des­sen, was von uns ver­langt wur­de. Alle vier waren wir weder Sports­ka­no­nen noch Waf­fen­nar­ren, son­dern jun­ge Män­ner, für die es noch vor nicht all­zu lan­ger Zeit gehei­ßen hat­te, sie wür­den gera­de durch ihren Dienst in der Armee vor allem zu einem, näm­lich zu rich­ti­gen Kerlen. 

Chris­ti­an war in unse­rem Vie­rer­ge­spann der soge­nann­te Stu­ben­äl­tes­te. Das Wort erklärt sich von selbst. Damit ver­bun­den war die Auf­ga­be, dem Grup­pen­füh­rer Mel­dung zu machen, wenn die Stu­ben inspi­ziert wur­den, die Aus­rüs­tung, die Bet­ten, die Spin­te. Chris­ti­an war der schwer­ge­wich­tigs­te und größ­te von uns vie­ren und der ein­zi­ge, der bereits eine Aus­bil­dung absol­viert und schon über Feri­en­jobs hin­aus eige­nes Geld ver­dient hat­te. Wir drei Sach­sen hat­ten im Som­mer das Abitur bestan­den, wäh­rend er nach dem Real­schul­ab­schluss zu den Baye­ri­schen Moto­ren-Wer­ken gegan­gen war, die einen Stand­ort in Din­gol­fing unter­hal­ten, unweit von Chris­ti­ans Wohn­ort. Nun begann für uns die zwei­mo­na­ti­ge Grund­aus­bil­dung im Sani­täts­dienst, von der es heißt, sie sei locke­rer, weni­ger schweiß­trei­bend, leich­ter bekömm­lich jeden­falls als die der Fall­schirm­jä­ger, Gre­na­die­re oder Pan­zer­auf­klä­rer im Heer. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Auch wir übten den Ein­satz unter ABC-Schutz­klei­dung, schlepp­ten Kame­ra­den auf Tra­gen durch den Wald, hoben Stel­lun­gen aus, schos­sen, robb­ten über Wie­sen und Hin­der­nis­se, übten „Kar­te & Kom­pass“, also die Ori­en­tie­rung in frem­dem Gelän­de ohne die Hil­fe Orts­kun­di­ger, ohne Ver­kehrs­schil­der oder Goog­le Maps. 

Meist war Chris­ti­an es dabei, der uns auf­mun­ter­te, wenn wir nicht mehr woll­ten oder konn­ten, mit Wit­zen aus sei­nem schier uner­schöpf­li­chen Reser­voir. Er war es, der scherz­te, der unse­re Grup­pen­füh­rer nach­ahm­te und so das zackig Mili­tä­ri­sche, mit­un­ter über Gebühr Vul­gä­re und Mar­tia­li­sche ihrer Wor­te und Ges­ten als das bloß­stell­te, als was sie gera­de nicht bloß­ge­stellt wer­den durf­ten in den Augen der Aus­bil­der: näm­lich als unfrei­wil­lig komi­sche, aber aus­sa­ge­kräf­ti­ge Refe­ren­zen zum Cha­rak­ter der Befehls­ge­ber selbst. 

Zu Weih­nach­ten schließ­lich hat­ten wir die Aus­bil­dung hin­ter uns, wur­den ver­streut auf Ein­hei­ten inner- und außer­halb der Kaser­ne. Der Kon­takt zwi­schen Chris­ti­an und mir riss aber nicht ab, obwohl ich in eine Kaser­ne im Baye­ri­schen Wald wech­sel­te. Ein hal­bes Jahr spä­ter kehr­te ich zurück. Nun fuh­ren wir wie­der wie in der Grund­aus­bil­dung zum Schwim­men nach Strau­bing, mit Kame­ra­den zum Abend­essen oder tra­fen ein­an­der in der Kaser­ne. Chris­ti­an war im Stab der ers­ten Kom­pa­nie ein­ge­setzt, ich im Sani­täts­zen­trum. Im August 2001 ende­te sein Dienst, und Chris­ti­an woll­te wie­der arbei­ten, ordent­li­ches Geld ver­die­nen, sich bei BMW wei­ter­qua­li­fi­zie­ren. Ich jedoch blieb in Feld­kir­chen, noch unsi­cher dar­über, wie es nach dem Wehr­dienst wei­ter­ge­hen soll­te, ver­län­ger­te erst bis Janu­ar des Fol­ge­jahrs und schließ­lich bis März. Wir rie­fen ein­an­der an, tausch­ten Kurz­nach­rich­ten aus, hiel­ten uns auf dem Laufenden. 

Oft habe ich mich gefragt, aller­dings erst viel spä­ter, was das Fun­da­ment die­ser Freund­schaft aus­mach­te, die ein­fach da war und wei­ter hielt, auch als ich im Früh­jahr 2002 mein Stu­di­um in Sach­sen antrat und sich die Ent­fer­nung zwi­schen uns merk­lich ver­grö­ßer­te. Wir waren, in vie­lem jeden­falls, grund­ver­schie­den und wuss­ten das, schöpf­ten dar­aus viel­mehr das Inter­es­se für Gesprä­che und Unter­neh­mun­gen. Wir besuch­ten ein­an­der, er kam nach Sach­sen. Wir fuh­ren gemein­sam auf die Fes­tung König­stein, hoch gele­gen über dem Tal der Elbe süd­öst­lich von Dres­den. Dort gefiel es ihm. Fast auf den Tag genau sie­ben Jah­re ist das her. Chris­ti­an war damals schon krank, schwer krank eine Kühl­box mit wich­ti­gen Medi­ka­men­ten, die er im Auto ver­stau­te, wich nie von sei­ner Sei­te. Ein ander­mal besuch­te ich ihn in sei­nem Hei­mat­ort. Stolz prä­sen­tier­te er mir sei­ne geräu­mi­ge Woh­nung im Dach­ge­schoss des Eltern­hau­ses. Wir fuh­ren ins „Vul­ca­no“ mit sei­nen Freun­den, in eine Dis­ko, die damals „in“ war. Dann tra­fen wir uns im Bäder­drei­eck süd­west­lich von Pas­sau, wo ich mei­nen Urlaub ver­brach­te. Wenn er anrief, dann nie ohne mich auf den Arm zu neh­men, zu fop­pen. Was haben wir gelacht! Ein will­kom­me­nes Objekt für sei­ne Spä­ße war ich ihm, denn immer wie­der fiel ich auf sie her­ein. Dann haben wir uns – mit­un­ter stun­den­lang – am Tele­fon ausgetauscht. 

Wie oft hat­te ich im Anschluss eine Gän­se­haut, seit die Krank­heit vor­an­schritt! Ich zit­ter­te, wäh­rend er Froh­sinn ver­brei­te­te und hoff­te, wie sich nur hof­fen lässt. Lan­ge, lan­ge Zeit ging das so. Fehl­ten mir die Wor­te, dann rede­te er. Berich­te­te von sei­nem Haus, das er nun bau­en ließ und in das er auch ein­zog, von Tref­fen mit Freun­den oder von Aus­flü­gen, denn arbei­ten konn­te er lan­ge schon nicht mehr. Wor­un­ter er litt. Stets aber neu­gie­rig blieb mein Freund für das, was ich gera­de trieb, was ich mach­te. Er schmie­de­te Plä­ne, auch für ein nächs­tes Tref­fen, und war dabei wie ein Kind im bes­ten Sinne. 

Die The­ra­pie zog sich hin über Jah­re. Es gab Licht­bli­cke und immer wie­der Wol­ken. Dun­kel­heit. Für mich brach sie an – nicht zum ers­ten Mal – um das letz­te Weih­nachts­fest. Eini­ge Mona­te lang hat­ten wir nichts von­ein­an­der gehört. Nun, Ende Dezem­ber, tausch­ten wir Kurz­nach­rich­ten aus und Chris­ti­an schrieb von Kom­pli­ka­tio­nen. Wie man­ches Mal zuvor nur in vagen Andeu­tun­gen. Aber der Duk­tus sei­ner Nach­richt war ein ande­rer als frü­her. Auch nicht durch einen Witz wur­de sie ein­ge­lei­tet, wie sonst fast immer. Und doch  oder gera­de des­halb: Ich trau­te mich nicht, danach zu fra­gen, wie es um ihn steht. Ob der Tumor im Kopf, der ihm längst das Licht eines Auges abge­trotzt hat­te, wie­der wuchs? Hilf­los fühl­te ich mich – und schlecht. Die Hilf­lo­sig­keit betrifft ja bei­de Sei­ten, dach­te ich. Ihn, der von Pon­ti­us zu Pila­tus gegan­gen war, um Hil­fe zu fin­den. Und mich – für den Ver­gleich schä­me ich mich noch, wäh­rend ich ihn nie­der­schrei­be, doch man wird ihn ver­ste­hen – und mich, weil ich nichts tun konn­te, außer an ihn den­ken, für ihn beten. Immer­hin. Dabei hat­te ich kei­ne Ahnung, hät­te er davon gewusst, ob gera­de das ihm etwas bedeu­te­te. Doch kommt es dar­auf an? 

Nie haben wir über gro­ße Fra­gen gespro­chen, über den Tod, was danach kommt oder Gott, nicht als er noch bei Kräf­ten war, noch spä­ter. Im April aber nahm ich allen Mut zusam­men und rief ihn an zu sei­nem Geburts­tag. Nur einen Augen­blick war ich irri­tiert, weil die Stim­me am Tele­fon anders klang als sonst. Es war sein Vater, der abhob, wäh­rend ich dach­te, es sei Chris­ti­an, nur mit ver­stell­ter Stim­me. Das tat er gern, oft und über­zeu­gend – und ich atme­te durch. Doch der Vater klär­te mich auf, sag­te, Chris­ti­an schla­fe, er müs­se sich scho­nen. Und schob nach, lei­se, schick­sals­er­ge­ben: „Es geht zu Ende.“ Die star­ken Medi­ka­men­te, mit denen Chris­ti­ans Tumor behan­delt wur­de, ohne dass sie das gewünsch­te Ergeb­nis brach­ten, sie hat­ten wei­te­re Orga­ne schwer geschä­digt. Die­ser Geburts­tag, schluss­fol­ger­te ich, wür­de sein letz­ter sein. Und bete­te nach dem Anruf, nur anders als sonst, für ihn. Ist das nicht komisch? Vor­her fleh­te ich um Gene­sung, um Wie­der­her­stel­lung sei­ner Gesund­heit. Nun, in ganz ande­ren Dimen­sio­nen, um sein Heil, um das sei­ner See­le. Schließt sich so ein Kreis, wenn auch ein all­zu enger? Vol­ler Scham frag­te ich mich das in Erin­ne­rung an den Tag, an dem wir uns ken­nen­lern­ten. Nur weni­ge Wochen nach mei­nem Gespräch mit sei­nem Vater, ist mein Freund gestor­ben, kurz nach sei­nem 33. Geburtstag. 

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