Bald vierzehn Jahr ist es her, da haben wir uns kennengelernt. Es war der 2. November des Jahres 2000. Beinahe unser halbes, noch immer junges Leben lang kannten wir uns. An diesen ersten Tag erinnere ich mich deshalb so genau, weil ich meinen Grundwehrdienst nicht am katholischen Fest Allerheiligen anzutreten hatte, in Bayern ein Feiertag, sondern erst einen Tag später, an Allerseelen. An Allerseelen.
Während ich mit der Bahn aus Sachsen im Nordosten anreiste, fuhr er mit dem eigenen Wagen aus südlicher Richtung in den Feldkirchener Ortsteil Mitterharthausen. Wie Dutzende andere kamen wir an diesem Tag in der Gäubodenkaserne an, nur einen Steinwurf entfernt von der Römersiedlung Straubing. Nach und nach trudelten die Wehrpflichtigen ein, wurden den Ausbildungskompanien zugeteilt, den Zügen, Gruppen, Stuben. In einer Viermannstube der zweiten Gruppe des zweiten Zugs der siebenten Kompanie des gemischten – also Männern und Frauen offenstehenden – Lazarettregiments 12 fanden sich wieder: der Niederbayer, von dem hier die Rede ist, und drei Sachsen. Einer von ihnen wiederum war ich. Keiner von uns vieren tat sich leicht mit der neuen Wirklichkeit des doch recht widerspruchslosen Gehorchens und Ausführens dessen, was von uns verlangt wurde. Alle vier waren wir weder Sportskanonen noch Waffennarren, sondern junge Männer, für die es noch vor nicht allzu langer Zeit geheißen hatte, sie würden gerade durch ihren Dienst in der Armee vor allem zu einem, nämlich zu richtigen Kerlen.
Christian war in unserem Vierergespann der sogenannte Stubenälteste. Das Wort erklärt sich von selbst. Damit verbunden war die Aufgabe, dem Gruppenführer Meldung zu machen, wenn die Stuben inspiziert wurden, die Ausrüstung, die Betten, die Spinte. Christian war der schwergewichtigste und größte von uns vieren und der einzige, der bereits eine Ausbildung absolviert und schon über Ferienjobs hinaus eigenes Geld verdient hatte. Wir drei Sachsen hatten im Sommer das Abitur bestanden, während er nach dem Realschulabschluss zu den Bayerischen Motoren-Werken gegangen war, die einen Standort in Dingolfing unterhalten, unweit von Christians Wohnort. Nun begann für uns die zweimonatige Grundausbildung im Sanitätsdienst, von der es heißt, sie sei lockerer, weniger schweißtreibend, leichter bekömmlich jedenfalls als die der Fallschirmjäger, Grenadiere oder Panzeraufklärer im Heer. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Auch wir übten den Einsatz unter ABC-Schutzkleidung, schleppten Kameraden auf Tragen durch den Wald, hoben Stellungen aus, schossen, robbten über Wiesen und Hindernisse, übten „Karte & Kompass“, also die Orientierung in fremdem Gelände ohne die Hilfe Ortskundiger, ohne Verkehrsschilder oder Google Maps.
Meist war Christian es dabei, der uns aufmunterte, wenn wir nicht mehr wollten oder konnten, mit Witzen aus seinem schier unerschöpflichen Reservoir. Er war es, der scherzte, der unsere Gruppenführer nachahmte und so das zackig Militärische, mitunter über Gebühr Vulgäre und Martialische ihrer Worte und Gesten als das bloßstellte, als was sie gerade nicht bloßgestellt werden durften in den Augen der Ausbilder: nämlich als unfreiwillig komische, aber aussagekräftige Referenzen zum Charakter der Befehlsgeber selbst.
Zu Weihnachten schließlich hatten wir die Ausbildung hinter uns, wurden verstreut auf Einheiten inner- und außerhalb der Kaserne. Der Kontakt zwischen Christian und mir riss aber nicht ab, obwohl ich in eine Kaserne im Bayerischen Wald wechselte. Ein halbes Jahr später kehrte ich zurück. Nun fuhren wir wieder wie in der Grundausbildung zum Schwimmen nach Straubing, mit Kameraden zum Abendessen oder trafen einander in der Kaserne. Christian war im Stab der ersten Kompanie eingesetzt, ich im Sanitätszentrum. Im August 2001 endete sein Dienst, und Christian wollte wieder arbeiten, ordentliches Geld verdienen, sich bei BMW weiterqualifizieren. Ich jedoch blieb in Feldkirchen, noch unsicher darüber, wie es nach dem Wehrdienst weitergehen sollte, verlängerte erst bis Januar des Folgejahrs und schließlich bis März. Wir riefen einander an, tauschten Kurznachrichten aus, hielten uns auf dem Laufenden.
Oft habe ich mich gefragt, allerdings erst viel später, was das Fundament dieser Freundschaft ausmachte, die einfach da war und weiter hielt, auch als ich im Frühjahr 2002 mein Studium in Sachsen antrat und sich die Entfernung zwischen uns merklich vergrößerte. Wir waren, in vielem jedenfalls, grundverschieden und wussten das, schöpften daraus vielmehr das Interesse für Gespräche und Unternehmungen. Wir besuchten einander, er kam nach Sachsen. Wir fuhren gemeinsam auf die Festung Königstein, hoch gelegen über dem Tal der Elbe südöstlich von Dresden. Dort gefiel es ihm. Fast auf den Tag genau sieben Jahre ist das her. Christian war damals schon krank, schwer krank – eine Kühlbox mit wichtigen Medikamenten, die er im Auto verstaute, wich nie von seiner Seite. Ein andermal besuchte ich ihn in seinem Heimatort. Stolz präsentierte er mir seine geräumige Wohnung im Dachgeschoss des Elternhauses. Wir fuhren ins „Vulcano“ mit seinen Freunden, in eine Disko, die damals „in“ war. Dann trafen wir uns im Bäderdreieck südwestlich von Passau, wo ich meinen Urlaub verbrachte. Wenn er anrief, dann nie ohne mich auf den Arm zu nehmen, zu foppen. Was haben wir gelacht! Ein willkommenes Objekt für seine Späße war ich ihm, denn immer wieder fiel ich auf sie herein. Dann haben wir uns – mitunter stundenlang – am Telefon ausgetauscht.
Wie oft hatte ich im Anschluss eine Gänsehaut, seit die Krankheit voranschritt! Ich zitterte, während er Frohsinn verbreitete und hoffte, wie sich nur hoffen lässt. Lange, lange Zeit ging das so. Fehlten mir die Worte, dann redete er. Berichtete von seinem Haus, das er nun bauen ließ und in das er auch einzog, von Treffen mit Freunden oder von Ausflügen, denn arbeiten konnte er lange schon nicht mehr. Worunter er litt. Stets aber neugierig blieb mein Freund für das, was ich gerade trieb, was ich machte. Er schmiedete Pläne, auch für ein nächstes Treffen, und war dabei wie ein Kind im besten Sinne.
Die Therapie zog sich hin über Jahre. Es gab Lichtblicke und immer wieder Wolken. Dunkelheit. Für mich brach sie an – nicht zum ersten Mal – um das letzte Weihnachtsfest. Einige Monate lang hatten wir nichts voneinander gehört. Nun, Ende Dezember, tauschten wir Kurznachrichten aus und Christian schrieb von Komplikationen. Wie manches Mal zuvor nur in vagen Andeutungen. Aber der Duktus seiner Nachricht war ein anderer als früher. Auch nicht durch einen Witz wurde sie eingeleitet, wie sonst fast immer. Und doch – oder gerade deshalb: Ich traute mich nicht, danach zu fragen, wie es um ihn steht. Ob der Tumor im Kopf, der ihm längst das Licht eines Auges abgetrotzt hatte, wieder wuchs? Hilflos fühlte ich mich – und schlecht. Die Hilflosigkeit betrifft ja beide Seiten, dachte ich. Ihn, der von Pontius zu Pilatus gegangen war, um Hilfe zu finden. Und mich – für den Vergleich schäme ich mich noch, während ich ihn niederschreibe, doch man wird ihn verstehen – und mich, weil ich nichts tun konnte, außer an ihn denken, für ihn beten. Immerhin. Dabei hatte ich keine Ahnung, hätte er davon gewusst, ob gerade das ihm etwas bedeutete. Doch kommt es darauf an?
Nie haben wir über große Fragen gesprochen, über den Tod, was danach kommt oder Gott, nicht als er noch bei Kräften war, noch später. Im April aber nahm ich allen Mut zusammen und rief ihn an zu seinem Geburtstag. Nur einen Augenblick war ich irritiert, weil die Stimme am Telefon anders klang als sonst. Es war sein Vater, der abhob, während ich dachte, es sei Christian, nur mit verstellter Stimme. Das tat er gern, oft und überzeugend – und ich atmete durch. Doch der Vater klärte mich auf, sagte, Christian schlafe, er müsse sich schonen. Und schob nach, leise, schicksalsergeben: „Es geht zu Ende.“ Die starken Medikamente, mit denen Christians Tumor behandelt wurde, ohne dass sie das gewünschte Ergebnis brachten, sie hatten weitere Organe schwer geschädigt. Dieser Geburtstag, schlussfolgerte ich, würde sein letzter sein. Und betete nach dem Anruf, nur anders als sonst, für ihn. Ist das nicht komisch? Vorher flehte ich um Genesung, um Wiederherstellung seiner Gesundheit. Nun, in ganz anderen Dimensionen, um sein Heil, um das seiner Seele. Schließt sich so ein Kreis, wenn auch ein allzu enger? Voller Scham fragte ich mich das in Erinnerung an den Tag, an dem wir uns kennenlernten. Nur wenige Wochen nach meinem Gespräch mit seinem Vater, ist mein Freund gestorben, kurz nach seinem 33. Geburtstag.