Zu ihm kamen sie alle. Die Gästeliste seines Hauses liest sich wie das „Who is Who“ aus Kunst, Kultur und Fernsehen der letzten 60 Jahre: Hundertwasser oder Senta Berger, Brandauer oder Canetti, Heimito von Doderer oder Udo Jürgens, Arthur Miller oder Hans Moser, Peter Ustinov oder Andy Warhol oder, oder, oder. Sie kamen über die Jahre in sein Wiener Café, gaben sich bei Leopold Hawelka die Klinke in die Hand.
Nun sitze ich in jenem Haus an der Dorotheergasse 6 auf einem Fensterplatz und blicke auf eine Bronzebüste mit seinen Zügen und eine weitere mit denen seiner Frau. Gut gefüllt ist das Café bei hochsommerlichen Temperaturen. Touristen wie Einheimische verschlägt es noch immer zu der Traditionsadresse, obwohl das etwas speckige Interieur sein Alter kaum verbergen kann. Aber das muss wohl so sein, denn wer hat sie nicht über, die fein, beinahe klinisch herausgeputzten Bars und Cafés internationaler Ketten, die in den letzten Jahren überall aus dem Boden schossen wie Pilze im Herbst nach einem Regenguss?
Inmitten der ursprünglichen Wiener Kaffeehauswirklichkeit eilt nun der Kellner herbei, ein junger Mann Mitte Dreißig. Und er spielt seine Rolle gut, gibt zum Einstand ein ruppiges „Was wollen Sie?“ zum besten. Als ob mit dem Betreten eines Cafés diese Frage nicht von vornherein wenigstens insofern geklärt wäre, dass jeder Gast eine Speisekarte erwartet, aus der zu wählen ihm dann die Zeit eingeräumt wird, die er benötigt. Doch hier ist es anders. Höflich noch sage ich, aber schon bestimmt: „Die Karte, bitte.“ „Haben wir nicht“, entgegnet er, beinahe angriffslustig. „Was haben Sie denn dann?“, entfährt es mir. „Würstel und Süßigkeiten“, wirft er zurück. „Welche?“ „Ja, das sage ich Ihnen jetzt“, kontert er unversehens und nennt Apfelstrudel, Topfenstrudel, Sachertorte … „Kann man das in der Vitrine sehen?“ „Nein!“ „Dann, ja, dann ein Stück Topfenstrudel, bitte.“ Die Nase rümpfend, ärgere ich mich über diese Dreistigkeit, ja: Frechheit aus Kalkül. In Deutschland, schon im Café nebenan, hätte ich ihm das nicht durchgehen lassen. Wäre ohne ein Wort gegangen. Mindestens. Jedenfalls rede ich mir das ein.
Schon aber überfliege ich bei Hawelka ein knappes Dutzend internationaler Blätter, schaue von einem Tisch zum anderen, mustere die Gäste, so wie sie es mit mir tun, denke an den Patriarchen, der nun schon bald drei Jahre tot ist und über den ich seinerzeit einen Nachruf geschrieben hatte. Trostsuchend nach meinem Erlebnis mit dem Kellner fallen sie mir ein, die Worte Felix Czeikes, dem „der grantelnd-joviale ‚Herr Ober‘ “ als „die Hauptattraktion eines jeden echten Kaffeehauses“ galt, der einen mit seinem Schmäh nicht beleidige, „sondern adelt“. Derart gestärkt, lässt sich manches ertragen. Selbst manche Frechheit. Den Rest besorgt die süße Krankheit „Gestern“, die mich befällt wie die Gedanken an jene Schriftsteller, später Maler und Philosophen, Schauspieler und Musiker, die Hawelka über Jahrzehnte in seinem Café begrüßte. Bald nach dem Krieg war es mehr als nur „etabliert“.
Zunächst aber musste Hawelka in den Krieg und das erst 1939 mit seiner Frau Josefine übernommene Café vorübergehend dichtmachen. Einem Wunder glich es, dass er es nach seiner Rückkehr völlig unversehrt vorfand. Schon im Herbst 1945 öffneten sich die Türen abermals. Und die Hawelkas arbeiteten hart: Während Josefine den Kaffee am Holzofen brühte, sammelte ihr Mann im Wald das nötige Feuerholz. Knochenarbeit war das, von früh bis spät.
In der österreichischen Hauptstadt, die es auf mehr als 1900 Cafés bringen soll, wurde Hawelka zu einer Ikone. Das lag an seiner Art zu bedienen, an seinem bezaubernden Lächeln, wohl aber auch an einem Markenzeichen: seiner handgebundenen Fliege. Dass die Mehlspeisen hervorragend sind, versteht sich von selbst. Dies gilt auch für den genannten Topfenstrudel, für die Kaffeespezialitäten sowieso.
Bis zuletzt blieben Hawelka und seine Frau, die 2005 starb, an Bord. Tagtäglich 14 Stunden. Nicht von ungefähr führe Czeike zufolge ihr Lokal die Königsliga der authentischen Kaffeehäuser an. Einige von ihnen kenne ich in Wien aus eigener Anschauung: Thomas Bernhards Bräunerhof, gleich um die Ecke, das Central und das Demel, auch das neue Griensteidl am Michaelerplatz gegenüber der alten Hofburg. Doch nicht nur das Personal ist es, durch das sich das Hawelka in dieser Schar eine ganz eigene Identität bewahrt hat.