Dass sich Deutschland verändert – jetzt, von Grund auf, tiefgreifend – davon wird in diesen Tagen viel geschrieben. Was nichts Besonderes wäre, weil der Lauf der Dinge, erweist sich seit Monaten als Nährboden für Frohlocken auf der einen, Angst aber auf der anderen Seite – und viel Unsicherheit dazwischen. Mal schlägt sie zur einen aus, dann zur anderen Seite, kann noch ausschlagen. Um nichts Geringeres als die Wahreit geht es – jedenfalls, was dafür gehalten wird. Anders ist das Diktum von fehlender Objektivität in den „Systemmedien“, von der „Lügenpresse“ nicht zu verstehen. Was ist Lüge, was Wahrheit? Drunter geht’s nicht mehr. Es ist die Frage der Stunde – und wer sie beantwortet, mit welcher Verbindlichkeit, für wen. Mit beinahe religiösem Eifer in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft wird die Wahrheitsfrage oder die nach dem Gegenteil auch auf soziale Zusammenhänge, politische Präferenzen, gesellschaftliche Debatten angewandt, als sei dies möglich, mit naturwissenschaftlicher Präzision – entweder Null oder Eins. Dabei geht es um Menschen und die Art, wie sie leben, leben wollen. Hier und Jetzt – und in Zukunft. Lassen sich derartige Herausforderungen mit „richtig“ und „falsch“ kategorisieren, auf zwei Möglichkeiten zurückführen – eine gute und eine schlechte? Wie gefährlich es ist –zumal in einer Demokratie –, alles zu reduzieren auf ein Entweder-oder wusste schon der Jurist Hans Kelsen (1881 bis 1973). Auf seine längst vergessene Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ von 1920 hat mich dieser Tage ein wichtiger Freund hingewiesen. Dort schreibt der gebürtige Prager mit Blick auf das Johannesevangelium: „Da sagt P i l a t u s, dieser Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur: Was ist Wahrheit?“ Für die – die vom Himmel kommt – Jesus doch Zeugnis ablegen will. „Und weil […] [Pilatus] nicht weiß, was Wahrheit ist und weil er – als Römer – gewohnt ist, demokratisch zu denken, appelliert er an das Volk und veranstaltet – eine Abstimmung“, so, etwas zu salopp, einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der 1933 als Jude seine Professur an der Universität zu Köln verloren hatte und emigrierte. Und weiter: „[Pilatus] ging hinaus zu den Juden, erzählt das Evangelium, und sprach zu ihnen: Ich finde keine Schuld an [Jesus]. Es ist aber bei euch Herkommen, daß ich euch am Osterfeste einen freigebe. Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden freigebe? – Die Volksabstimmung fällt gegen Jesus aus. – Da schrien wiederum alle und sagten: Nicht diesen, sondern B a r r a b a s . – Der Chronist aber fügt hinzu: B a r r a b a s war ein Räuber.“ — Worin liegt hier die Brisanz für Kelsen, worin seine Aktualität? „Vielleicht wird man, werden die Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, daß gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muß man gelten lassen“. Man muss Einwände gegen die Demokratie gelten lassen, sie ist von „Menschenhand“, kein überirdisches Werk, sie muss fähig sein, sich zu erneuern – eine anspruchsvolle Sache, lebt sie doch von Voraussetzungen, die sie in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde (geb. 1930) nicht garantieren kann; die Mehrheit kann also irren, schreibt Kelsen, der sich wie nicht gerade viele seinerzeit für sie stark gemacht hat, als die Bedrohung groß war unter den noch frischen Eindrücken von Revolution und Bürgerkrieg in den Jahren 1918 bis ’20. – Einwände gelten lassen, auch gegen die Demokratie – „freilich nur unter einer Bedingung“, meint Kelsen: „Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, so gewiß sind wie – der Sohn Gottes.“ Über die Konsequenzen daraus müssen wir nachdenken.
Also, verkürzt gesagt, Merkel und Mitstreiter dürfen die offene Zuwanderungspolitik nur dann gegen den Widerspruch ihres Volkes fortsetzen, wenn sie wirklich dran glauben?
#nohate #justaskin‘
Mir ging es darum, darauf aufmerksam zu machen, wie politische Debatten heute (wieder) in Deutschland geführt werden – mit welchem Gestus. Nämlich derart, als wären es Glaubensfragen und die Kontrahenten im BESITZ DER (vermeintlichen) Wahrheit. Es lässt dann schon tief blicken – was ich nicht als Wertung meine -, wenn die einen „Merkel“ ins Feld führen, die anderen etwa „Pegida“.