Das Chemnitzer Cammann-Gebäude ist nicht irgendeine Immobilie. Vom heute fast vergessenen Werkbund-Architekten Willy Schönefeld Mitte der Zwanziger entworfen, ist es als erstes Hochhaus der Stadt ein Ort, der Geschichte schrieb – wie die Firma, die hier einst residierte.
CHEMNITZ. Überwältigend ist der Blick von einer der Dachterrassen im fünften und siebenten Stock. Für den einstigen Ravensburger Peter Waldvogel gehört er zum Alltag. Als er 1993 das Cammann-Hochhaus in Chemnitz-Furth kaufte, war der Eindruck, den es bei Zeitgenossen erweckt haben muss, wohl so erbärmlich wie das damalige „Ruß-Chamtz“-Panorama von dessen Balkon. Historische Fotografien belegen: Gezeichnet von langer Vernachlässigung, bröckelte der Putz am ersten Hochhaus der Stadt. Das Dach war marode. Die Fenster. Alles.
„Wir haben mit dem Gebäude zwar die einst weltbekannte Weberei Cammann von der Treuhand übernommen, doch die Maschinen liefen noch mit Lochkarten“, erinnert sich der Eigentümer in der Rückschau. „Eine museale Rarität schon damals, war die Technik veraltet gegenüber dem, was die Konkurrenz am Bodensee zu bieten hatte, von den horrenden Produktionskosten nicht zu reden und dem bestialischen Lärm“, so der Wahl-Chemnitzer, der einst im baden-württembergischen Biberach Architektur studiert hat. Für die hochwertigen Webstoffe nach historischen Mustern, die Anfang der 1990er noch im Schauraum im ersten Stock des markanten Baus an der Blankenauer Straße Kunden präsentiert wurden, wollten diese von jetzt auf gleich aber nicht mehr als 150 D‑Mark je Meter zahlen, sagt er. Die Produktionskosten der Chemnitzer hätten laut dem 64-Jährigen damals etwa doppelt so hoch gelegen.
Unternehmen schrumpft nach 1990 und zieht aus
Was folgte, war der Niedergang der Firma auf Raten am bisherigen Further Standort – im früher errichteten Neben- und im von außen ziehharmonikaartig gefalteten Hauptgebäude. Hier belegte das Unternehmen nach der Wende noch Parterre, erstes und teils das fünfte Stockwerk. Ein Umzug ins nahe Braunsdorf brachte für einen Teil der Belegschaft neue Perspektiven. Den frei gewordenen Platz im Haus füllen seither Büros mit einer Vielzahl von Firmen. Etwa drei Millionen Euro wurden in das Areal investiert.
Dem damaligen wirtschaftlichen Erfolg und laut Historiker Tilo Richter weltweit hohen Ansehen von Cammann hat Architekt Willy Schönefeld mit dem 1926 fertiggestellten Gebäude ein bleibendes Denkmal gesetzt. 40,10 Meter ragt das Hochhaus in den Himmel – über acht Geschosse, mit achtachsiger, 33 Meter breiter Hauptfassade, die nicht – wie seinerzeit üblich und an der Sheddach-Produktionshalle nebenan erkennbar – mit Backsteinen verkleidet wurde. Vorgelagert ist dem Hauptbau stadteinwärts ein dreiachsiger Eingangstrakt; spitze Winkel dominieren. 1994/95 wurde das Ensemble denkmalschutzgerecht saniert. Das Besondere: „Vieles war noch im Original erhalten, ein wahrer Schatz. Doch Beschläge und Badewannen wurden teils während der Rekonstruktion gestohlen“, sagt Waldvogel.
In neuem Glanz erstrahlten etwa der innen mit gemasertem Travertin verkleidete Zugang, dazu der 1924 eingebaute Fahrstuhl mit Klappsitzbank, die Täfelungen mit polierten Hölzern nicht nur in der einstigen hauseigenen Atelier-Etage. Aufgearbeitet werden konnte auch eine Tür mit Einlegearbeiten – aus kaukasischem Nussbaum, wie Restauratoren feststellten -, dazu Bleiglasfenster, ein offener Kamin. Seit Jahrzehnten verschlossen, wartet ein bald mannsgroßer Tresor noch auf Öffnung – der Schlüssel muss in den Wendewirren abhanden gekommen sein. Fachleuten wie Jens Kassner, der mehrere Architekturführer geschrieben hat, gilt das Gebäude als „herausragendes Zeugnis der expressionistisch beeinflußten Architektur“ in Chemnitz – und damit als Schatzkästchen, dessen Architekt Sinn für Symbolik zeigte: Der vertikale Rillenputz an der Fassade etwa – schon im Jugendstil ein beliebtes Gestaltungselement – soll die textilen Erzeugnisse versinnbildlichen, die hier einst gefertigt wurden: edle Luxusstoffe für wohlhabende Abnehmer.
Baustil bei Zeitgenossen umstritten
Dabei erregte die Bauweise bei Zeitgenossen nicht nur Zuspruch: So kritisierte der Architekt Max Feistel, der seine Chemnitzer Villa im Stil der Neuen Sachlichkeit errichten ließ, die Gestaltung des Schönefeldschen Dachabschlusses. Dieser sei „im Verhältnis zum Ganzen bestimmt zu kleinlich“. Der Einwand ist nicht abwegig, denn in der Tat wirkt das Dach zu reduziert im Vergleich zu den massigen Etagen darunter. Feistel hätte auf die Turmspitze verzichtet, wiewohl ein derart sakrales Element laut Kassner nicht zufällig auch Lyonel Feiningers (1871 bis 1956) Titelgrafik des berühmten Bauhausmanifestes ziert – also am Puls der Zeit lag.
An den windumtosten oberen Etagen sind die Jahre seit der Sanierung indes nicht spurlos vorübergegangen. Unter Regen, Eis, Sonne zerbröseln manche Fenster bereits wieder. Peter Waldvogel plant schon die nächsten Schritte. Denn der Gigant – eine Kathedrale des Industriezeitalters – ist eine ewige Baustelle.
Weberei für Luxusstoffe
Die 1886 gegründete Fabrik der Kaufleute Franz Paul Cammann, Richard Krüger und August Heuberger hatte ihren Sitz zunächst an der Chemnitzer Ziegelstraße 14. Als der Platz knapp wurde, fand sich nach mehreren Umzügen im heutigen Stadtteil Furth ein 10.000 Quadratmeter großes Areal an der Blankenauer Straße 74. Während in einer 1899 errichteten Sheddachhalle produziert wurde, plante die auf die Arbeit an Webstühlen spezialisierte Firma bald einen Neubau für Verwaltung, Lager und Spedition. Er entstand seit 1923 als damals erstes Hochhaus von Chemnitz und legte Zeugnis ab für das nach dem Ersten Weltkrieg florierende Geschäft.
Aus anfangs wenigen Webstühlen wurden bald etwa 60. Im Jahr 1919 erfolgte die Umwandlung der Firma in eine Aktiengesellschaft. Produziert wurden etwa Damaste und Möbelplüsch, Seiden- und Brokatvelours oder Gobelins. Gutbetuchte waren es, die die Materialien nachfragten – nicht nur für Polstermöbel, sondern auch, um Wände zu bespannen: in Prunksälen, Salons, Theatern, Bahnwagen. Zu den Abnehmern zählte die Sächsische Staatseisenbahn, die Erste-Klasse-Waggons damit ausstattete. Auch die Bibliothek des Dampfers Bremen – 1929 Gewinner des Blauen Bandes für die schnellste Nordatlantikquerung – wurde ausgekleidet wie auch ein Palast des Maharadschas im indischen Indore.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war Cammann & Co. Impulsgeber für die gesamte Branche, heißt es in der Fachliteratur. Anfang 1947 demontierten die Sowjets Technik zu Reparationszwecken. In der DDR ging es dennoch laut Ilka Stockmann und Gudrun Seidenglanz weiter – von 1972 an als Volkseigener Betrieb (VEB) mit 80 Prozent Exportanteil und etwa 100 Mitarbeitern. Nach 1990 blieben zunächst 40 Leute in Lohn und Brot. 1999 folgte der Ortswechsel mit einem Bruchteil der Mitarbeiter in die ehemalige Braunsdorfer Weberei Tannenhauer. Im Jahr 2014 wechselte die Führung. Kunden sind neben weiteren die Staatsoper Berlin oder der Moskauer Kreml. Gefertigt wird weiterhin auch nach Franz Paul Cammanns historischen Mustern.
Architekt der Moderne
Als Willy Schönefeld im Oktober 1963 kurz vor seinem 78. Geburtstag in Karl-Marx-Stadt starb, hatte der gebürtige Kölner ein halbes Jahrhundert eigenständiger Architektenlaufbahn hinter sich. Was unter den Hauptwerken mit dem 1913 errichteten neoklassizistischen Chemnitzer Kunstgewerbehaus den Auftakt nahm, nachdem er zuvor für das Büro Zapp & Basarke tätig war, fand mit der 1953 bis 1955 errichteten katholischen Propsteikirche am Fuße des Kaßbergs seinen Abschluss. Das Gotteshaus, das als Ersatz dienen sollte für einen im Krieg zerstörten Bau in der Innenstadt, nahm dabei – so schloss sich ein Kreis – ebenfalls klassizistische, mit romanischen Einflüssen gemischte Formen an.
Zwischen Phasen, in denen sich Schönefeld an antiken Vorbildern ausrichtete, machte das Mitglied des reformorientierten Deutschen Werkbundes Ausflüge in den Expressionismus. Als bedeutendster Entwurf dieser Periode gilt das Cammann-Hochhaus in Chemnitz-Furth, den er für die gleichnamige Gobelin-Manufaktur 1923 bis 1926 verwirklichte. An diese Zeit erinnert, erkennbar wegen der Prominenz spitzer Winkel, auch das von ihm geschaffene Gebäude der Astrawerke in der Stadt, in dem nun die Landesdirektion sitzt. Ein so prominentes wie traditionalistisches Werk stammt aus dem Jahr 1917: die einstige, 600 Quadratmeter große Zschopauer Villa von DKW-Chef Jørgen Skafte Rasmussen.