Der Journalist Michael Angele hat ein Buch über Zeitungsleser geschrieben, die der papiernen Form den Vorzug geben. Und über das Zeitungssterben. Herausgekommen ist ein Plädoyer gegen inhaltliche Verflachung und das Vulgäre in Neuen Medien.
CHEMNITZ. Eine Zeitung war Zugang zur Welt, ein Stück Heimat auch – bis hin zum raschelnden Geräusch beim Umblättern der Seiten – und gleichzeitig
deren Gegenteil. Fest zum Alltag gehörend, tat sie das Ihre genauso, Heimat, Alltag hinter sich zu lassen, darüber hinauszuschauen. Danach suchte nicht nur der als Zeitungsnarr bekannte österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard (1931 bis 1989), von dem in Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“ immer wieder die Rede ist. Sondern das galt auch für viele andere Leser.
Galt? Gilt weiter! Noch. Denn Zeitung ist Angebot zum Lesen-Können. Die wenigsten lesen sie ganz, picken sich stattdessen einen Teil heraus, Themen, die besondere Interessen berühren, Texte des Lieblingsautors und lassen andere links liegen. Von vornherein. Vielleicht, ja, vielleicht aber nicht immer. Mitunter gelingt sie womöglich: die Überraschung durch einen auf den ersten Blick abseitigen Artikel, doch mit unerwartetem Zugang, ausgefallener Präsentation. Aber derartige Rituale – im Café zelebriert, am Frühstückstisch, in der Straßenbahn – sind für den Schweizer Journalisten Angele im Schwinden begriffen. „Daran“, schreibt er in seinem kleinen Buch, „zweifelt keiner.“ Renaissance einzelner Titel, insbesondere von Wochenzeitungen, hin oder her. Denn das Internet macht alles verfügbar. Umgehend. Jederzeit. Weltumspannend. Und kommt dabei ohne bedrucktes Papier aus, das mit gestrigen, vorgestrigen Nachrichten oft nur mehr als Mittler von Vergangenem, vulgo: Belanglosem gilt. Für Angele aber ist es, „auch wenn es ein wenig platt klingen mag, gerade dadurch ein Medium der Entschleunigung“.
Dass diese herstellungstechnisch bedingte Geschwindigkeitsreduktion auch ihren Wert hat dabei, Nachrichten sicherer zu machen, wenn es nicht darauf ankommt, Erster zu sein im Netz. Dass sie der Analysetiefe guttut. Dem Stil. Geschenkt. Die Entwicklung ist, wie sie ist. Mit allen Begleitprozessen. Angele betrauert nicht den Niedergang der Zeitungen, er verdeutlicht, was sie ausmacht – für die Leser.
Angele, selbst einst federführend für die – der Name sagt es – allein im Internet erscheinende „Netzzeitung“ tätig und nun stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“, schreibt vom Zeitungsleser, gar dem letzten. In kleinen Meldungen, Anekdoten, Glossen. Ohne dass er ihn uns präsentierte, diesen letzten, sich gar selbst als der titelgebende vorstellte. Stattdessen ist auf den 160 Seiten – die, Zeitungsspalten ähnlich, nur schmal bedruckt sind -, von prominenten und fanatischen Zeitungslesern wie dem erwähnten Bernhard die Rede. Der legte einst vom heimischen Ohlsdorf am Traunsee aus 350 Kilometer zurück, um einer „Neuen Zürcher Zeitung“ Herr zu werden. Oder verließ ein Café umgehend, wenn er darin nicht die Zeitung vorfand, auf die er aus war. Angele stellt uns aber auch weniger bekannte Leser vor, einen des „Trostberger Tagblatts“ etwa, den er einst wegen dieser, seiner Lokalzeitungslektüre verachtete. Und sich dafür heute schämt.
So oder so: Er porträtiert „Zeitungssüchtige“. Und lobt die Leserbriefschreiber, die schon wegen der damit verbundenen Anstrengung – anders als heute, da Hass-Kommentare und allzu Vulgäres im Internet salonfähig geworden sind – ein gewisses Niveau gesichert hätten. Das ist das eine. Das andere: „Die scheußlichsten Briefe blieben unveröffentlicht“. Im Netz wird einem hingegen wenig erspart. Dabei gehe es – Angele zitiert die berühmten Worte des Philosophen Odo Marquard (1928 bis 2015) – manchmal darum, die Welt gerade nicht zu verändern, sondern sie zu verschonen.
Für die Recherche zum Buch geht der Wahl-Berliner auch ins Archiv der britischen Zeitung „Observer“ – und sieht dabei zufällig in einer Ausgabe vom Dezember 2002 einen lapidar mit „Über die Presse“ betitelten Beitrag. Der Artikel handelt vom Zeitungssterben, von immer weniger und älter werdenden Lesern. Fast vierzehn Jahre ist das her. Ein zäher Patient.
Angeles Blick auf das „Totholz-Medium“, wie es Blogger und Netzaktivisten lange schon abfällig nennen, ist ein sehnsuchtsvoller, aber kein wehmütiger. Der aus dem Kanton Bern stammende Kulturjournalist porträtiert den Zeitungsleser als einen vielgestaltigen, sein Objekt von Liebe und Hass gerade auch durch die Papierform als eine Kulturleistung. Manche Ehe wäre ganz anders verlaufen, schreibt er. Ohne Zeitung am Frühstückstisch.
Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“ ist im Galiani-Verlag, Berlin 2016, erschienen. 160 spärlich bedruckte Seiten kosten 16 Euro.