In der DDR gab es Zwangsadoptionen, die jahrzehntelanges Leid über Betroffene brachten. Vielfach hält es weiter an – die Politik will die Fälle besser aufarbeiten lassen.
LEIPZIG/BERLIN. Was der Leipziger Andreas Laake erlebt hat, kann sich kein Drehbuchautor ausdenken. In der Nacht auf den 11. April 1984 will der in der DDR unangepasste 23-Jährige mit seiner schwangeren Frau in einem Schlauchboot über die Ostsee in den Westen fliehen. Ihr noch ungeborenes Kind soll nicht in der Diktatur aufwachsen. Auf See aber werden sie verhaftet. Laake wird wegen Republikflucht zu vier Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt, sitzt sie im berüchtigten Zuchthaus Brandenburg-Görden ab. Der junge Mann und 15 Mitgefangene in einer Zelle, Arbeit im Drei-Schicht-System, Besuch nur alle zwei Monate, Kontaktverbot zur Ehefrau. Im Prozess hatte er alle Schuld auf sich genommen, um seine Frau zu schützen. „Sie kommt auch bald mit einer Bewährungsstrafe frei, kappt aber alle Verbindungen, lässt sich später scheiden“, sagt er. Ob das freiwillig geschah oder unter Druck, wisse er bis heute nicht.
Erziehung im sozialistischen Sinn
Im Oktober 1984 kam der gemeinsame Sohn Marko zur Welt. Andreas Laake aber, heute 57 Jahre alt, bekommt das Kind in Haft nie zu Gesicht, erhält erst nach Entlassung 1988 ein bald nach der Geburt aufgenommenes Schwarz-Weiß-Foto. Seine Ex-Frau wiederum hat da den Jungen längst zur Adoption freigegeben. Der Plan der DDR-Justiz: „ihn im sozialistischen Sinne zu erziehen“, sagt Laake. „Die Adoptivmutter war Schuldirektorin.“ Die Nachfrage nach ideologisch formbaren Neugeborenen, um sie in linientreue, kinderlose Familien zu geben, sei groß gewesen. Auf mehrere Hundert derartige Zwangsadoptionen – Laake hat seine Vaterschaftsrechte nie freiwillig abgetreten, sie wurden ihm entzogen –, schätzt er die Anzahl ähnlicher Fälle.
Da genauere Zahlen fehlen, Auskunftsrechte gegenüber Behörden stark beschränkt sind und die Stellung Betroffener als Opfer der DDR-Justiz nicht hinreichend gewürdigt wird, hat Laake als Vorsitzender der „Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR“ mit 1640 Mitstreitern im April eine Petition an den Bundestag gerichtet. Die Unionsfraktion griff deren Anliegen auf; der Vorstand hat ein von den stellvertretenden Vorsitzenden Arnold Vaatz sowie Stephan Harbarth verfasstes Eckpunktepapier bei seiner jüngsten Klausurtagung beschlossen, für dessen Umsetzung aber Gesetzesänderungen nötig sind, sagten sie in Berlin. „Der Fahrplan“, so Vaatz‘ Mitarbeiterin Antje Zumdick auf Nachfrage, „ist jetzt so, dass parallel zum Petitionsverfahren eine Gesetzesinitiative geplant ist“. Im Eckpunktepapier werden Maßnahmen gefordert, um das Unrecht aufzuarbeiten und zu lindern – der erste: Noch vorhandene Daten in Sterberegistern, Krankenhäusern, bei Hebammen, auf Totenscheinen sollen gesichert, gesetzliche Speicherfristen in den neuen Bundesländern verlängert werden. Es soll weiterhin eine Vermittlungsstelle für leibliche Eltern und möglicherweise zwangsadoptierte Kinder eingerichtet werden. Um den Prüfumfang bestimmen zu können, schlagen die Verfasser vor, unter Zwangsadoption all jene Fälle zu zählen, „in denen Eltern aus politisch-ideologischen Gründen gegen ihren Willen das Erziehungsrecht beziehungsweise – im Fall der möglicherweise für tot erklärten Kinder – das Kind entzogen wurde“, heißt es im Papier. Denn zusätzlich zu Fällen von Zwangsadoption wie bei Laake kommt noch diese Gruppe von meist regimekritischen Eltern hinzu, deren Kinder nach der Geburt für tot erklärt wurden, während einige den Verdacht hegen, dass diese noch lebten. Auch diese Säuglinge könnten in linientreue Familien gegeben worden sein, so die Vermutung. Grund für die Annahme ist, dass betroffenen Müttern ihre Kinder nach deren vermeintlichem Tod nicht gezeigt wurden, sie sie noch lebend und gesund gesehen haben oder dass sich in offiziellen Darstellungen und Akten immer wieder Ungereimtheiten finden. Kein derartiger Fall ist zwar bislang nachgewiesen. Dennoch, fordern Vaatz und Harbarth, „müssen die berechtigten Fragen dieser … Eltern aufgeklärt werden“.
Der dritte Punkt: Leibliche Eltern oder möglicherweise zwangsadoptierte Kinder müssten die Chance erhalten, Vermittlungsakten und Personenstandsregister einzusehen. Denn anders als bei normalen Adoptionsfällen greife hier der Zweck des Gesetzes nicht, der Adoptionen vor späterer Einwirkung der leiblichen Eltern schützen möchte. Betroffenenberichte ließen erkennen, dass gerade nicht standardmäßig davon ausgegangen werden könne, dass in der DDR adoptierte Kinder über die Adoption informiert wurden. „Wer nicht weiß, dass er adoptiert wurde, kann auch nicht suchen“, sagt Andreas Laake und verweist zusätzlich bei betroffenen Kindern auf medizinische Probleme, die aus der Unkenntnis über ihre leiblichen Eltern, etwa bei Erbkrankheiten, entstehen können.
Betroffene Eltern leiden bis heute
Harbarth und Vaatz fordern weiterhin eine DNS-Datenbank mit Geburtsdetails. Hier sollen sich Eltern registrieren können, deren Kind zwangsadoptiert wurde, oder die fürchten, ein vermeintlich gestorbenes Kind sei ihnen entzogen worden. Auch möglicherweise adoptierte Kinder sollen sich listen lassen können. Ziel sei ein niedrigschwelliger Sucheinstieg. Der fünfte Punkt schließlich: Die psychosoziale Begleitung leiblicher Eltern und zwangsadoptierter Kinder soll verbessert werden. „Wer teils jahrzehntelang mit dem ungeklärten Schicksal des eigenen Kindes leben muss, darf mit den Folgen nicht sich selbst überlassen werden“, bestätigt Andreas Laake. Eine weitere Forderung: Wer von Zwangsadoptionen betroffen ist, soll zudem als politisches Opfer anerkannt werden. Dazu sollen Verbesserungen im Rahmen des Strafrechtlichen und Verwaltungsrechtlichen Rehabilitationsgesetzes vorgenommen werden, um Entschädigungen zu ermöglichen. „Viele sind durch ihre jahrelange Suche etwa arbeitsunfähig geworden; wir brauchen bei ihrer Betreuung Fachleute, die sich mit der DDR-Geschichte auskennen“, so der Vorsitzende der Interessengemeinschaft Gestohlene Kinder der DDR. Der letzte Punkt der CDU-Bundestagsabgeordneten: Die von der ehemaligen Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), in Auftrag gegebene, im Februar präsentierte Vorstudie zu Zwangsadoptionen soll vertieft werden. Gleickes Nachfolger Christian Hirte (CDU) will eine Untersuchung in Auftrag geben, die rechtliche, soziologische und medizinische Fragen beleuchten soll.
Die SPD-Fraktion sieht im vom Koalitionspartner präsentierten Papier indes „Aktionismus“. Es entspreche „nicht dem für dieses sensible Thema notwendigen, breiten Konsensprinzip“, sagt deren stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe Recht und Verbraucherschutz, Karl-Heinz Brunner. Der Eindruck, „dass alle Adoptionen in der DDR unter Zwang stattfanden“, müsse vermieden werden. Das Papier der Union sei „seiner Zeit hinterher“. Insbesondere die Forderung, Daten zu sichern, habe die Koalition bereits veranlasst und die Bundesländer aufgefordert, Aktenvernichtung zu stoppen. Teils werde dieser Aufforderung bereits nachgekommen, so Brunner. Der SPD-Politiker drängt zudem darauf, die Aufarbeitung der politisch motivierten Adoptionen von der familienrechtlichen Situation zu trennen. Einsicht in Adoptionsakten solle nur möglich sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die den eigentlichen Zweck, Adoptionen vor späterer Einwirkung der leiblichen Eltern zu schützen, nicht konterkarieren. Die überwiegende Anzahl der Adoptionen sei auch in der DDR „familienorientiert“ erfolgt. Dies dürfe durch die Aufarbeitung politischer Verbrechen nicht verwischt werden. Unterstützung sagt Brunner zur Schaffung der Clearingstelle und für weitere wissenschaftliche Forschung zu.
Ein Kampf über 29 Jahre
Für die Suche nach seinem Sohn hatte Andreas Laake keine DNS-Datenbank, aber Helfer. Dennoch dauerte sie 29 Jahre. Der Junge wuchs, wie der 57-Jährige viel später erfuhr, in der Nähe von Potsdam in dem Glauben auf, Laake habe ihn zur Adoption freigegeben, sagt der Leipziger, der ein zweites Mal geheiratet hat und Vater von vier weiteren Kindern ist. Laake aber hatte schon 1991 beim Leipziger Jugendamt um Kontakt zu seinem Sohn gebeten, er schreibt ihm Briefe, die er nur hinterlegen lassen kann, in der Hoffnung, dass die Adoptiveltern sie weiterreichen. Doch nichts passiert. Jahrelang geht es so weiter. Am 6. Oktober 2013 berichtet schließlich die SAT 1‑Sendung „Bitte melde dich“ über den Fall. Marko sieht sie im Fernsehen. Am darauffolgenden Tag erhält Andreas Laake einen Anruf – am Telefon: sein Sohn. Umgehend treffen sie sich. Bis heute ist der Kontakt eng. Ein Glücksfall, den zu erleben viele andere noch hoffen.
Deshalb engagiert sich der Leipziger ehrenamtlich weiter, um über Zwangsadoption aufzuklären und rechtliche Verbesserungen für Opfer zu erreichen. Das Büro der von ihm geleiteten Interessengemeinschaft – darin sind laut Laake auch 300 Betroffene organisiert: Eltern, Adoptierte, Verwandte – hat seinen Sitz in Naunhof bei Leipzig und wird durch Spenden finanziert. Ein auf Dauer schwer haltbarer Zustand, sagt der zupackende Handwerker. Aufgeben wird er aber nicht.