Monatelang hat der spätere Literaturnobelpreisträger 1936/37 Deutschland durchstreift – eine deutsche Ausgabe der Reisetagebücher fehlt aber noch. Bekannt ist, dass er in Leipzig und Dresden war. Seine Übersetzerin gab nun mehr preis über den Aufenthalt in Sachsen.
FREIBERG/BREITUNGEN. Sechs Monate lang ist der seinerzeit noch unbekannte Samuel Beckett vom Herbst 1936 an durch Deutschland gestreift, bis er im April des Folgejahres nach Irland zurückkehrte. Von seinem 1953 uraufgeführten Welterfolg „Warten auf Godot“ oder dem 1969 verliehenen Literaturnobelpreis war da noch keine Rede.
Der gebürtige Dubliner hatte in Kassel Verwandte, die er seit den 1920er-Jahren wiederholt besuchte, wie nun Erika Tophoven bei einer Lesung in Erinnerung gerufen hat. Seit sie ihn 1957 erstmals in Paris traf, kam die gebürtige Dessauerin, deren Vater in Thurm im Mülsengrund ein Rittergut verwaltete und die bis 1946 in Zwickau zur Schule ging, von dem Schriftsteller nicht mehr los. Sie war mehr als dreißig Jahre lang mit Beckett als dessen Übersetzerin in regem Austausch.
Im Werra-Städtchen Breitungen las die 87-Jährige im Rußwurmschen Herrenhaus des Verlegers Robert Eberhardt aus ihrem in der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ veröffentlichten Aufsatz „ ‚The Dom in Naumburg was stupendous.‘ Beckett 1937 in Mitteldeutschland“ über ebenjene Reise Becketts. Dass sie sich auf die Städte Halle, Weimar, Erfurt, Naumburg konzentrierte, regte angesichts des Untertitels zu Fragen an, was der Schriftsteller, der damals um die Veröffentlichung seines ersten Romans bangte, noch in der Region gesehen hat.
Bekannt ist: Auch in Leipzig und Dresden machte er Station. Weniger: dass er zudem in Meißen und Pillnitz war. Noch einen Monat lang ist im Deutschen Literaturarchiv in Marbach die Ausstellung „German fever. Beckett in Deutschland“ zu sehen, bei der einige Originalseiten der sechs Deutschland-Tagebücher ausgestellt sind.
Aber war der damals 30-Jährige noch andernorts in Sachsen unterwegs? Genau hingeschaut haben bislang wenige, vielleicht auch, da eine deutsche Ausgabe der viele Hundert Seiten langen, von Beckett zeitlebens unter Verschluss gehaltenen Tagebücher nach wie vor aussteht. Im vorigen Jahr hieß es, 2019 solle sie zweisprachig bei Suhrkamp erscheinen. Tophoven hat das Originalmanuskript 2003 auswerten können, kaum dass es Becketts Nachlassverwalter freigegeben hatte. Dabei stellte sie fest, hat das aber nicht weiter unter die Leute gebracht: Beckett war auch in Freiberg. „Ja, da war er auch noch“, sagt sie. Wieder zurück in Berlin, sieht sie später ihre Mitschrift vom Besuch im Samuel-Beckett-Archiv in Reading durch.
Warum aber Freiberg? Bisherige Auswertungen der Reise legten den Finger auf Becketts Begeisterung für deutsche Expressionisten. In Hamburg, Halle, anderswo hatte er Künstler, Händler, Sammler, Museen besucht, auch solche, die deren von den Nazis als „entartete Kunst“ verfemten Werke schon vor der Öffentlichkeit weggeschlossen hatten.
Außerdem spürte er mittelalterlicher Architektur und dem Figurenschmuck der Kathedralen nach, wie Tophovens Unterlagen belegen. Er fertigte Skizzen an, schwärmte von den Stifterfiguren im Naumburger Dom, beschrieb, was er gesehen hatte. Wofür? „Wir haben über seine Deutschlandreise nie gesprochen“, sagt die Übersetzerin. Ob Beckett je eine Veröffentlichung der Tagebücher plante, ist unklar. Bald zog der Weltkrieg herauf, in dem sich der Ire, seit Oktober 1937 in Frankreich heimisch, der Résistance anschloss. „Da hatte er andere Sorgen“, so Tophoven.
Nach dem langen Dresden-Aufenthalt, Abstechern nach Pillnitz und Meißen, stand Bamberg auf dem Plan, später Würzburg, Regensburg – auch dies Städte mit bedeutenden Sakralbauten. Doch im Februar, auf dem Weg nach Franken, macht er Halt in Freiberg, wovon in der Stadt noch kaum wer wissen dürfte. „Im Stadt- und Bergbaumuseum ist bis dato über einen Besuch von Samuel Beckett in Freiberg nichts bekannt“, sagt dessen Direktorin Andrea Riedel, „und auch nicht dazu geforscht worden.“ „Für uns ist es hochinteressant“, so der evangelische Dompfarrer Urs Ebenauer, „dass Beckett hier war.“ Anhaltspunkte dazu im Archiv der Kirchgemeinde zu finden, hält er für unwahrscheinlich. Wonach sollte man suchen? Beckett war seinerzeit kein Prominenter. Wer sollte von ihm Notiz genommen haben? Er kam, ohne in der Stadt zu übernachten, auch wenn Tophovens Abschriften der „German Diaries“ nahelegen, dass der Unterwegshalt nicht der erste gewesen ist. „Es finden sich Andeutungen, dass er vorher schon – wohl ebenfalls von Dresden aus – hingefahren ist, aber, vielleicht weil der Dom verschlossen war, unverrichteter Dinge umkehrte“, sagt sie. Der Winter, die Kälte, Tourismus wie heute gab es kaum.
Am 19. Februar 1937 aber klappt es. „Für einige Stunden“ sei er dagewesen, schreibt Beckett im Tagebuch. Er sucht den Dom auf, die spätromanische, seit 1903 durch einen Jugendstilvorbau geschützte Goldene Pforte von 1225. Der „Dehio“, das „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“, das in keinem bildungsbürgerlichen Gepäck fehlen durfte, weist sie als Werk von europäischem Rang, „an Pracht selten, an innerem Adel niemals mehr überboten“ aus.
Die acht Figuren an der Doppeltür, je vier zu beiden Seiten, zeigen alt- und neutestamentarische Gestalten: Aaron, David und Bathseba, ihren Sohn Salomo oder Johannes den Täufer. Beckett hat sie betrachtet. „Bathseba ist entzückend“, notiert er. Die Figuren wirkten strenger, ernster als an den Domen zu Naumburg und Meißen. Nachdem er die Reise mit der Bahn nach Bamberg fortgesetzt hatte, schrieb er von dort an seinen Schriftsteller-Freund Thomas MacGreevy eine Postkarte mit Freiberg-Motiv; auch dies ist überliefert. Sie zeigt ebenjene Figuren an der Goldenen Pforte – darunter Bathseba.