Vor Jahren haben Münchener Forscher auf dem Erdmannsdorfer Friedhof in Mittelsachsen Gräber geöffnet. Seither laufen molekulargenetische Untersuchungen. Warum – und was wurde bislang herausgefunden? Eine lange Geschichte, die ihren Ursprung unweit von Ingolstadt hat.
ERDMANNSDORF/MÜNCHEN. Als im Juni 2013 ein Team von Münchner Medizinern auf dem Erdmannsdorfer Friedhof die Neugier der Bürger erregte, kursierten bald Gerüchte – selbst davon, ein Schatz würde gehoben. Wie man’s nimmt – was den einen Edelmetall, ist Wissenschaftlern wie Andreas Nerlich, Chefarzt der Pathologie am Klinikum München-Bogenhausen, das Erbgut längst Verstorbener. Er und seine Kollegen exhumierten die sterblichen Überreste mehrerer dort beigesetzter Angehöriger der Familie von Könneritz, die das nahegelegene Schloss im Ort bis 1932 bewohnte.
In den vergangenen sechs Jahren ist der über Deutschland hinaus angesehene Pathologe, der auch in Ägypten immer wieder Mumien untersucht, nicht untätig gewesen. Aufwendige Laborstudien anhand sichergestellter DNA laufen nach wie vor, sagt Nerlich, der sich der Paläopathologie verschrieben hat. Deren Vertreter erforschen anhand alter Leichen, wie Menschen einst lebten und an welchen Krankheiten sie litten, um daraus auch Erkenntnisse für die Gegenwart abzuleiten.
DNA-Analyse zieht sich hin
Mit den Studien in Erdmannsdorf sollen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen der für die bayerische Landesgeschichte bedeutenden Familie von Jordan und jener von Könneritz aufgeklärt werden, präziser: der in Erdmannsdorf eingeheirateten Grafen von Beust. „Dass die Untersuchungen nicht längst abgeschlossen sind, liegt daran“, sagt Nerlich, „dass erste Hoffnungen sich zerschlagen haben, eine DNA-Analyse zur Identifikation der fünf Personen, deren Gebeine wir bergen konnten, zügig und erfolgreich durchführen zu können.“ Die Knochen sind alt, ihr Zustand und damit der des Erbmaterials „recht schlecht“, so der Wissenschaftler. Das macht die Arbeit langwierig.
Immerhin: Ende des Jahres 2018 sei es gelungen, einige DNA-Bruchstücke soweit zu identifizieren, dass das Verwandtschaftsverhältnis der fünf in Erdmannsdorf beigesetzten Personen weithin geklärt werden konnte. Dabei handelt es sich laut Nerlich um die Tochter des einstigen österreichischen Ministerpräsidenten und vormaligen sächsischen Außenministers Friedrich Ferdinand von Beust, Marie von Könneritz (1845–1926). Ebenfalls beigesetzt wurde deren Ehemann Léonce (1835–1890), bis zu seinem Tode sächsischer Finanzminister. „Beide haben wir ziemlich sicher bestimmt“, so Nerlich. Unter den anderen drei Personen seien wohl ein Bruder von Marie, zudem die Mutter von Léonce und ein unbekannter jüngerer Mann. „Wir rechnen ihn der Könneritz-Linie zu“, ergänzt der Professor. Für ihn stellen derartige Leichname oder auch Mumien unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten „wertvolle Bioarchive“ dar, die noch Jahrhunderte nach dem Tod der Person viele Erkenntnisse lieferten.
Ein leeres Grab
Warum aber die Exhumierung in Erdmannsdorf? Nerlich will das Verhältnis der gräflichen, mit der freiherrlichen des einstigen Hamburger Bürgermeisters Ole nur weitläufig verwandten Familie von Beust zu den Jordans aus Bayern untersuchen. Mit letzterer setzt er sich schon länger auseinander. Bekannt war, dass einst die Mutter der in Erdmannsdorf beigesetzten Marie Könneritz, Mathilde Beust, eine geborene Baronin von Jordan, in Dresden auf dem Alten Katholischen Friedhof bestattet worden ist. Daher begannen dort die Untersuchungen. „Wir haben keine Zweifel, dass Mathilde in Dresden beigesetzt wurde“, so Nerlich. Doch das Grab war leer. Aufzeichnungen über den Verbleib der Gebeine fehlten.
Die Kernfrage all des Aufwands lautet: War jene in Dresden nicht mehr auffindbare Mathilde tatsächlich die Tochter Wilhelms und Violantes von Jordan? Überlieferte Unstimmigkeiten nährten Zweifel. Darum sei der Versuch unternommen worden, über Mathildes Tochter Marie an Erbinformationen zu gelangen. Jedoch sei der Zustand von Maries DNA in Erdmannsdorf so hinfällig, „dass wir diese Lücke derzeit nicht schließen können“, sagt Nerlich. Er sei indes guter Hoffnung, dass der technische Fortschritt Möglichkeiten schaffe.
Die Familie Friedrich Ferdinands von Beust sei in der Enkelgeneration ausgestorben. Über den Seitenzweig der Könneritzer gebe es zwar Nachfahren; die letzte engere Verwandte, Marie-Luise von Könneritz, sei aber vor wenigen Jahren verstorben. „Sie hat uns intensiv in unseren genealogischen Recherchen unterstützt“, sagt Nerlich, „hatte aber keine Erinnerungen mehr, die über ihre Großmutter Marie und deren 1944 kinderlos gestorbene Tochter Elisabeth, Marie-Luises Tante, hinausgingen.
Hoffnung auf technischen Fortschritt
Zum Hintergrund: „Unsere ‚Geschichte‘ “, sagt Nerlich, „beginnt am Grab der Familie ebenjenes bayerischen Generals und königlichen Kämmerers Wilhelm von Jordan, der 1836 auf eigenem Boden bei Ingolstadt eine Familiengruft hatte bauen lassen.“ Dort sind neben anderen Personen dessen Frau und zwei der Kinder beigesetzt worden – sämtlich mumifiziert. „Wir konnten die Mumien untersuchen. Aus vielfältigen historischen und den naturwissenschaftlichen Quellen ergaben sich die Familiengeschichten, die für das frühe bayerische Königtum ab 1806 eine wichtige Rolle spielten“, so Nerlich.
Die in Dresden nicht mehr auffindbare Mathilde war die Schwester der bei Ingolstadt beigesetzten Jordan-Kinder, einst verheiratet mit dem österreichischen Ministerpräsidenten Beust, mit dem sie vier Kinder hatte – darunter die in Erdmannsdorf beigesetzte Marie. Für die Forschungen seien umfangreiche Studien in Staatsarchiven Bayerns, Sachsens, Sachsen-Anhalts, Thüringens und Österreichs nötig gewesen, die wie die naturwissenschaftliche Forschung „aus wissenschaftlichem Interesse geschehen und auch darüber finanziert“ würden.
Wie weiter? Laufende Untersuchungen sollen die bisherigen molekulargenetischen Analysen fortführen: „Der neue Ansatz ist es, stark beschädigte DNA so weit ‚lesbar‘ zu machen, dass man sozusagen virtuell den Lesecode der gesuchten Erbinformation wiederherstellen kann“, so Nerlich. Mit heutiger DNA funktioniere das sogenannte Next-Genome-Sequencing „schon recht gut, mit alter manchmal“. Man arbeite dafür mit der Universität Innsbruck zusammen. Wann es ein Ergebnis gibt, stehe indes in den Sternen.