Passau bietet mehr als drei Flüsse und steinerne Pracht – auf Besuch in einem Schnittpunkt der Kulturen.
PASSAU. Welcher ist der nördlichste Ort Italiens? Regensburg? Mit Geschlechtertürmen, die träumen lassen von Bologna, Lucca, San Gimignano. Kommt die Fürstin hinzu, Torre e Tasso, die mit ihrer Italophilie nicht hinterm Berg hält. Dennoch sehne ich mich, um hierzulande dem Drang nach Licht und Leichtigkeit Richtung zu verschaffen, zuerst nach Passau, donauabwärts, in den niederbayerischen Südosten.
Im Januar 1925 hat der Schriftsteller Max Zeibig (1889–1963), ein Sachse wie ich, die Stadt mit ihrer „fast südländischen Heiterkeit“ in dem Buch „Deutsche Wanderfahrt“ zu rühmen gewusst: „Vom Norden her“, schrieb er, „rauschen die Träume aus dem Bayerischen Wald, und im Süden zeichnen die Bergketten der Alpen ihre großartigen Linien an den klaren Horizont.“
Meinen ersten Eindruck gewonnen habe ich im Januar des Jahres 2001, mit dem „Eurocity“ angelandet auf dem Weg nach Freyung. Das Ziel des Sanitäters im Friedensdienst hinter den Sieben Bergen war die Kaserne „Am Goldenen Steig“. Die letzten Kilometer wurden im Bus absolviert. Trotz acht und mehr Stunden auf Achse: Die Fahrt ward zum Erlebnis, besonders der vorletzte Abschnitt, den Fluss entlang. Nur die Klänge von Straußens Donauwalzer fehlten.
Eine Kitschfantasie? Weit gefehlt, so fühlte es sich an, nicht nur in der Rückschau. Irgendwann entfaltete die Stadt am Zusammenfluss von Donau, Inn und Ilz die Kraft in mir, regelmäßig zurückzukehren an die aus verschiedenen Welten gespeiste Stätte: jener Bayern-Österreichs oder Österreich-Bayerns und der Italiens. Auch böhmische Einflüsse sind zu spüren. Lassen sie sich voneinander trennen; wäre ein Versuch sinnvoll? Fragen, die eigener Betrachtung würdig wären. Jedenfalls: Es ist alles da – milde und schroffe Hügel; anspruchsvolle Architektur, wenn auch – Stichwort „San Gimignano“ – kaum des Mittelalters; zugewandte, kernige und zugleich kultivierte Bürger; die Lage der Siedlung, „langgestreckt und (…) fast eine Insel, wenn man vom Inn in die Donau einen Graben zöge, denn die Entfernung des einen Flusses vom andern beträgt kaum fünfhundert Schritt“. So schrieb es im Jahre 1444 Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (1405–1464). Kurz: Sehens- und Erfahrungswürdigkeiten für Körper, Geist und – angesichts zahlloser geistlicher Orte – auch für die Seele.
Jene Inselatmosphäre blieb mir zunächst verborgen. Der Bus, der sich durch den Bayerischen Wald nach Freyung mäanderte, bog nur wenige hundert Meter jenseits des Bahnhofs, die Altstadt beiseitelassend, die Donau querend, sogleich gen Nordosten ab, aufs Land hinaus, hinein in den Wald.
Erst nach und nach wuchs Neugier, Wartezeiten für kleine Expeditionen in die Stadt zu nutzen – ins Stammhaus der Konditorei Simon mit seinen Gewölben am Rindermarkt. Den Südostabschluss des gestreckten Platzes bildet neben dem Paulusbogen, der in römischer Zeit den Standort des ältesten Stadttors markierte, die erhöht angeordnete Stadtpfarrkirche. Der von Carlo Antonio Carlone – Stiftsbaumeister von Garsten, Seckau und Sankt Florian –, entworfene Bau wurde 1678 fertiggestellt und ersetzte einen um 1050 geweihten Vorgänger.
Vis à vis Topfen- oder Apfelstrudel, neben der ebenfalls am Platz befindlichen Spitalkirche St. Johannes mit Wurzeln im 12. Jahrhundert – das war ein kleines Glück und ist es geblieben.
Wer mit der Bahn anreist, folgt per pedes den Hinweisschildern in die Altstadt und steht irgendwann auf demselben Areal, ob ihn der Weg über die Roßtränke führt oder den Heuwinkel. Die niederbayerische Capitale erinnert sich ihrer Vergangenheit noch in sprechenden Straßennamen.
Autofahrer parken zentrumsnah unter der Schanzlbrücke, unweit der sich wie eine Perlenkette ans Ufer schmiegenden Donau-Kreuzfahrtschiffe, die hier festmachen und der Stadt Gäste in Scharen bescheren. Von da wie dort eröffnen sich kürzere oder ausgreifende Routen, sie zu erkunden: Eilige nehmen die Donaulände oder die Fritz-Schäffer-Promenade, Parallelen zur Roßtränke, dann den Donaukai, das Ufer entlang gen Osten: bis „Land’s End“, das in Passau „Ortsspitze“ geheißen wird. Hier fließt von Nordwesten die Donau heran, um sich mit dem von Südwesten anströmenden, oft kalkig-aufgeschlämmten Inn zu vereinen. Aus dem Bayerischen Wald stößt die kleine, klare Ilz hinzu, die im Sommer zum Bad einlädt.
Schließlich geht es, vorüber am mittelalterlichen Schaiblingsturm, am Inn flussaufwärts, wenn Überschwemmungen das nicht verhindern und den Uferweg unpassierbar machen. Das gilt auch für Platz und Straße vor dem urigen Rathaus mit vielen Hochwassermarken am Donauufer, von wo sich eine bezaubernde Perspektive eröffnet auf die jahrhundertelang als Burg der Fürstbischöfe genutzte Veste Oberhaus auf dem Georgsberg – mit wiederum bestem Panorama von dort über die Stadt.
Zurück zum Inn: Über den Fluss hinweg gen Süden erhebt sich die Wallfahrtskirche „Mariahilf“. Die berühmte Stiege hinauf säumen Mauern voller Votivtafeln. Sie zeugen von den seit 400 Jahren währenden Bitt- und Dankgängen zu einem seinerzeit gestifteten Marienbild. Als 1683 die Türken Wien belagerten, floh Kaiser Leopold nach Passau; täglich betete er mit seiner Frau vor dem Andachtsbild um Beistand.
Einmal auf der rechten Innseite, ist der Weg kurz zu dem Friedhof mit dem Grab eines der bedeutendsten Söhne jüngerer Stadtgeschichte: Reinhard Raffalts (1923–1976), dem großen Deutschrömer, der mit Büchern, Vorträgen, Filmen, Radiobeiträgen über Italiens Geschichte, Kultur, Sprache und Religion – ohne Übertreibung – ein Millionenpublikum erreicht hat. In jüngerer Zeit wurde an solche Bande angeknüpft: Seit 2003 ist – der örtlichen Deutsch-Italienischen Gesellschaft sei Dank – das venezianische Montecchio Maggiore Passaus Partnerstadt.
Im Schnelldurchgang, der über Innkai und ‑promenade bis zur Marienbrücke absolviert werden kann, um dann, vorbei am Stadttheater und über die Theresienstraße, zur Schanzlbrücke zurückzukehren, ist der Aufstieg zu Kirche und Friedhof nicht zu schaffen.
Passau ist nichts für Eilige. Disponieren Sie schon auf dem Rindermarkt um oder am Donauufer und nehmen nach dem Paulusbogen den Steinweg, um die wenigen Schritte zum Domplatz zurückzulegen. Im Palais Lamberg wurde 1552 der Passauer Vertrag unterzeichnet, der den Augsburger Religionsfrieden vorbereitete.
Erst mit etwas Abstand von der Kathedrale, beim Denkmal für den bayerischen König Max I. Joseph, lässt sich die einstige Bedeutung der vielfach unterschätzten Stadt bei der Schau nach der gewaltigen Fassade erahnen. Der Ulmer Martin Zeiller, der für den bekannten Kupferstecher und Verleger Matthäus Merian den Älteren Texte schrieb, nannte Passau 1632 „alt, berühmt und bischöflich“.
Dabei erahnen Betrachter auf Anhieb nichts, was in frühe Jahre der Stadt zurückreicht. Brände haben sie versehrt. Während der Chor des Domes vom an dessen Ostseite grenzenden Residenzplatz aus, einem der schönsten Plätze Süddeutschlands, noch gotische Formen aufweist, trägt Passau seit dem Feuer von 1662 dank Baumeistern wie Carlo Lurago oder Carlone weithin barocke Kleider. Das gilt erst recht für den 102 Meter langen Dom, Bischofskirche des 739 vom heiligen Bonifatius errichteten Bistums. Er birgt den größten barocken Kircheninnenraum nördlich der Alpen und die größte Domorgel der Welt. Genau besehen, handelt es sich um das Arrangement mehrerer Instrumente.
Die Diözese – wir erinnern uns an Zeillers Worte – reichte im Mittelalter mit 42.000 Quadratkilometern Fläche bis an Ungarns Westgrenze, schloss Wien ein. Es war die größte im Reich, und es ist kein Zufall, dass die in der österreichischen Hauptstadt befindliche Kathedrale das gleiche Patrozinium aufweist wie der Dom der Dreiflüssestadt.
Aus diesem heraus mögen samstags der Wochenmarkt oder jederzeit Wirtshäuser und Cafés locken, in denen gewiss eines der guten Passauer Biere ausgeschenkt wird. Ich verlasse die Stadt indes nie ohne Besuch im Antiquariat Henke, dem Dom schräg gegenübergelegen. Mehr als fünfzig Jahre lang führte der Gründer diese Fundgrube für Wahres, Schönes und Gutes. Nun haben Witwe und Tochter übernommen.
Während jedoch im Touristentrubel kaum eine Rast Gelegenheit bietet für Sammlung – wie in Wien: erst recht nicht der Dom –, sind es, an der mächtigen Jesuitenkirche vorüber, nur wenige Minuten Fußweg zum einstigen Kloster Niedernburg. Bis 2017 war die agilolfingische Gründung des 8. Jahrhunderts für knapp 200 Jahre Heimstatt der Englischen Fräulein, die das Kloster aufgegeben haben. Des Kaisers Heinrich II. Tante war hier Äbtissin, später seine Schwester Gisela, Witwe Stephans des Heiligen von Ungarn. Die dreischiffige Pfeilerbasilika stellt, trotz Ergänzungen in Gotik und Barock, Passaus größtes romanisches Bauwerk dar.
Der Mensch lebt nicht von Brot allein oder bayerischem Strudel, erst recht nicht von der Schau steinerner und doch vergänglicher Pracht. Mag die Unruhe im bei Frühlingstemperaturen einsetzenden Gewimmel noch so groß sein – hier, am Grab der seligen Gisela, fand ich in zwei Dutzend Jahren stets Stille vor, Einkehr.