„Sie kennen mich!“, warb Angela Merkel vor vier Jahren um ihre Wiederwahl. Aber stimmt das? 22 Publizisten und Wissenschaftler gehen Politik und Person der Kanzlerin auf den Grund – multiperspektivisch und polemisch.
BERLIN/MÜNCHEN. Angela Merkel – das ist die Frau ohne Kompass, die in der DDR Angepasste, nun autoritäre Parteivorsitzende, machtpolitisch zwar versierte, aber auch ideologisch-planwirtschaftlich handelnde „Minusfrau“, die noch dazu den Brexit begünstigt habe und Osteuropa von der Bundesrepublik entfremde, während sie „Deutschlands Juden enttäuscht“ und ein „Märchen von der Integration“ verbreite.
So weitgespannt ist der Blick, und so eindeutig fallen die Urteile von 22 Wissenschaftlern und Publizisten im Sammelband „Merkel. Eine kritische Bilanz“ aus, der im Münchener Finanzbuchverlag erschien. Das Fazit der Autoren vorweg: Mit dieser Kanzlerin schaffen wir es nicht. Anders als es das „Sie kennen mich“ vorzugeben versuchte, seien Merkels innere Überzeugungen und Werte den meisten Bürgern noch immer unbekannt. Dabei hofft sie zum vierten Mal auf Zuspruch an den Wahlurnen.
Zwar wird die 63-Jährige von der internationalen Presse als „letzte Verteidigerin des liberalen Westens“ (New York Times) umjubelt und „globaler Heiland“ (Politico) gepriesen, schreibt der FAZ-Journalist Philip Plickert als Herausgeber. Dennoch hält er die gebürtige Hamburgerin für einen „Scheinriesen“, der laut dem im Buch vertretenen Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz mit „Schweigen als Waffe“ einen autoritären Politikstil zelebriert und politische Debatten lieber unterbindet, statt sich ihnen zu stellen.
Grenzsicherung war vorbereitet – Merkel scheute die Bilder
Ist es aber mit Polemik und klaren eigenen Positionen getan? Lässt sich so etwas über Merkel lernen? Dass der 256-seitige Band nicht als wissenschaftlichen Maßstäben genügende Untersuchung taugt, die Person und Politik abwägend unter die Lupe nimmt, sollte deutlich geworden sein. Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Merkel ist das Buch aber durchaus geeignet. Den einen wird die Lektüre aufregen, die andere in ihrem Merkel-kritischen Urteil bestätigen. Nur zu. Denn bei aller Schärfe versammelt Plickert weitgehend kenntnisreiche Autoren aus dem In- und Ausland, die Merkels gar nicht so dünn gesäte Schwachstellen offenlegen.
Beispiel Migrationspolitik, in der die Publizistin Cora Stephan aus Furcht vor „unschönen Bildern“ für die bislang heißeste Phase ab Herbst 2015 nachhaltiges Regierungsversagen diagnostiziert: Obwohl er bereits vorlag, habe Merkel seinerzeit den Befehl an die Bundespolizei zur Grenzsicherung nicht unterzeichnet.
Thilo Sarrazin wiederum beziffert die langfristigen Kosten für die Zuwanderung von seither etwa 1,4 Millionen vorrangig jungen, männlichen, muslimischen Migranten auf fast 900 Milliarden Euro. „Für noch schwerwiegender … halte ich die sozialen Kosten und die langfristigen Risiken einer millionenfachen Einwanderung aus islamischen Ländern“, schreibt er.
Beispiel Energiewende im Zuge der Reaktorkatastrophe in Fukushima: Allein in den kommenden zehn Jahren koste Deutschlands Politik laut dem Ökonomen Justus Haucap die Bürger 250 Milliarden Euro. Dabei sei die klimapolitische Wirkung des weitgehend auf ein Land beschränkten Umstiegs auf erneuerbare Energien sehr gering, da die Senkung des deutschen Kohlendioxidausstoßes aufgrund des Klimazertifikatehandels an der Gesamtmenge der Emissionen in der EU nichts ändere. Würden in Deutschland Zertifikate frei, da der Kohlendioxidausstoß sinkt, falle deren Preis, und andere Länder oder Firmen kauften diese.
Sparer bangen um Altersvorsorge
Beispiel Zinspolitik: Nur weil Deutschland derzeit mit niedriger Arbeitslosigkeit und hohen Steuereinnahmen auf einer Insel der Seligen lebe, heiße das nicht, die Gefahren der Griechenlandkrise seien gebannt. Die gute Beschäftigungslage wiederum schreiben zwei Forscher vom Kieler Institut für Weltwirtschaft der Agenda 2010 zu, für die Merkels Amtsvorgänger seinen Posten einbüßte, während die aktuelle Null- und Negativzinspolitik die Konjunktur stimulieren helfen mag und dem Staat günstige Kredite beschere. Sparer aber müssten um ihre Altersvorsorge bangen.
Gewiss, zur einen findet sich stets eine andere Sicht auf die derzeitigen Herausforderungen. Jenen aber, die seit Jahren Sorgenfalten plagen, könnten die flüssig zu lesenden Essays als Projektions‑, besser aber: Reibungsfläche dienen in der Debatte darüber, wie sie sich die Zukunft der Republik vorstellen. Und welche Rolle die nach der Lektüre weit weniger unbekannte Politikerin an der Regierungsspitze dabei übernehmen soll. Die Erkenntnis, dass Merkels Stärke auch in der Schwäche ihrer Wettbewerber zu suchen ist, kann die Auseinandersetzung nicht ersetzen.
Philip Plickert (Hrsg.): Merkel. Eine kritische Bilanz, München 2017, 256 Seiten, 19,99 Euro.