WECHSELBURG/MARBELLA. 2710 Kilometer und 26 Stunden Autofahrt sind es von Wechselburg, wo Rudolf Graf von Schönburg im September 1932 auf dem Schloss seiner Familie geboren wurde, nach Marbella, der nahe Gibraltar gelegenen spanischen Stadt am Mittelmeer. Dort lebt er seit 1956. Elf Jahre zuvor floh der damals Zwölfjährige mit Geschwistern und Mutter vor der Roten Armee aus der Heimat. Im Telefongespräch berichtet er von seinen Erlebnissen vor 74 Jahren.
Wann genau mussten Sie 1945 aufbrechen?
Am 18. Mai, bald nach Kriegsende, fuhr ein sowjetischer Privatwagen am Schloss in Wechselburg vor. Die Insassen verlangten unsere Garagenschlüssel, beschlagnahmten die Autos und wiesen den Wächter an, das Tor zu verschließen. Unsere Fluchtabsicht, die vereitelt werden sollte, hatte sich offensichtlich rumgesprochen, nachdem wir Tage zuvor Traktoren mit Möbeln und Gepäck in das uns gehörende Schloss Rochsburg am Westufer der Zwickauer Mulde entsandt hatten.
Nun war guter Rat teuer …
Meine Mutter behielt die Nerven und sagte: „Rudolf, spann‘ die Pferde an!“ Wir verließen Wechselburg gegen 16.30 Uhr. Meine Mutter nahm nur etwas Geld an sich, ihren Schmuckkoffer, dazu die Aktenmappe meines Vaters. Es ging durch eine kleine Gartenpforte über die von den uns wohlgesonnenen Amerikanern bewachte Muldenbrücke mit Reisepapieren für deren Zone. US-Truppen hatten vor den Sowjets Südwestsachsen besetzt, bevor sie das Gebiet, wie auf der Konferenz von Jalta vereinbart, den Russen übergaben.
Ihre Mutter floh mit fünf Ihrer acht Kinder?
Ja, in einfacher Tageskleidung – ich in Lederhose und kariertem Hemd. Das Wetter war prachtvoll. Es ging nach Rochsburg, wohin die Sowjets noch nicht vorgerückt waren. Zwei ältere Schwestern hatte meine Mutter schon mit schlesischen Flüchtlingen, die bei uns Rast gemacht hatten, aus Angst vor Gewalt durch die Rote Armee gen Westen geschickt. Dass mein Vater am 12. April in Breslau an der Front gefallen war, erfuhren wir erst im September, hofften also, er lebe noch und hatten deshalb auf ihn gewartet.
Wo war Ihr älterer Bruder Joachim?
Er war damals 16 Jahre alt und in Böhmen in einem Wehrertüchtigungslager, das die Sowjets auflösten. Als er erfuhr, dass wir noch in Sachsen waren, kam er per Fahrrad nach Rochsburg. Zwei Tage später ging es im Juni mit zwei Kutschen und einem Pferdewagen weiter.
Auf welcher Route?
Wir fuhren in Glauchau auf die Autobahn. Da sie nach Erfurt völlig überfüllt war – alle wollten nach Westen, auch abziehende US-Truppen -, nahmen wir die leere Dresdner Spur in gleicher Richtung.
Was konnten Sie mitnehmen?
Wenig – beinahe nur das, was wir am Leib hatten, dazu Hafer für die Pferde. So ging es langsam voran nach Franken. Wir wollten die Pferde nicht überfordern und schliefen oft in Scheunen auf Stroh zwischen den Tieren.
Wohin wollten Sie?
Vor allem über die Saale, die die sowjetische von den westlichen Zonen trennte. Wir ahnten nicht, dass es eine Art Abschied für immer sein würde. In Wechselburg hatten wir aus Angst vor Verfolgung keine Notiz hinterlassen, wohin es gehen könnte.
Gab es Gefahren?
Vor allem in Franken war die Stimmung teils unfreundlich gegenüber Flüchtlingen. Die Bauern halfen uns wenig. So lernte ich, mit der Sense Gras für die Pferde zu hauen. Aber wir wurden nie überfallen oder betrogen. Brenzlige Situationen gab es dennoch, auch wenn ich die Zeit eher als Abenteuer wahrnahm. Eines Tages etwa kamen wir in ein Haus, das uns die Amerikaner zugeteilt hatten. Nachts zog draußen lautstark eine Gruppe Polen vorbei, die irgendwo freigelassen worden war und in Häuser einbrach. Meine Mutter, die fürchtete, dass sie zu uns kommen, hatte große Angst.
Was passierte?
Sie rief im Haus laut alle männlichen Vornamen aus, die ihr einfielen: Otto, Karl, Emil …, um den Anschein zu erwecken, dass hier nicht nur eine Frau und Kinder untergebracht sind. Es klappte – die Männer zogen ab. Nach zwei bis drei Wochen gelangten wir in den Amerikanischen Sektor, fühlten uns wie erlöst. Dass wir alles gut überstanden haben, war ein Wunder, für das ich Gott heute noch danke.
Wo fanden Sie Unterschlupf?
Zunächst bei der Frau des Barons von Frankenstein in Ullstadt bei Würzburg. Das waren entfernte Verwandte, die uns herzlich empfingen. Wir waren sehr dankbar, schenkten ihnen unsere Pferde. Denn wir konnten von dort mit einem Lastwagen weiter nach Süden fahren, wo wir bei dem uns fremden Baron von Ulm-Erbach unterkamen, der uns sehr hilfsbereit empfing und die Fahrt in die Französische Zone organisierte.
Auch dessen Schloss bei Ulm war nicht das Ziel?
Nein, wir wollten zu den Waldburg-Wolfeggs oder Fürstenbergs, Verwandten von uns. Etwa im September kamen wir auf Schloss Heiligenberg am Bodensee an, wo wir mittellos das erste Weihnachtsfest verbrachten. Ich ging bald auf ein Internatsgymnasium, das mir die Fürstenbergs bezahlten, denen wir wie den Waldburgs viel verdanken. Meine Mutter wohnte im Vorbau des Schlosses etwa 30 Jahre. Da war ich lange schon in Spanien.
Rudolf Graf von Schönburg ist eines von acht Kindern des Erbgrafen Carl von Schönburg-Glauchau (1899–1945) und der polnischen Gräfin Maria Ana Baworowska (1902–1988). Bis 1940 erhielt er Hausunterricht, besuchte dann die Wechselburger Volksschule und später per Eisenbahn das Gymnasium Rochlitz. Im schweizerischen Lausanne absolvierte er die angesehene Hotelfachschule und führt in Marbella noch immer das Hotel „Marbella Club“. Verheiratet mit einer Urenkelin des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., ist er Vater zweier Kinder. Wechselburg besuchte er aus Angst vor Verfolgung erst nach dem Ende der DDR – seither dreimal.