Italiens Norden liegt in Bayern

Die Pas­sau­er Alt­stadt mit Dom, Ves­te Ober­haus (hin­ten) und ehe­ma­li­ger, dop­pel­tür­mi­ger Jesui­ten­kir­che, von der Inn­stadt aus gese­hen. Foto: Micha­el Kunze

Pas­sau bie­tet mehr als drei Flüs­se und stei­ner­ne Pracht – auf Besuch in einem Schnitt­punkt der Kulturen.

PASSAU. Wel­cher ist der nörd­lichs­te Ort Ita­li­ens? Regens­burg? Mit Geschlech­ter­tür­men, die träu­men las­sen von Bolo­gna, Luc­ca, San Gimigna­no. Kommt die Fürs­tin hin­zu, Tor­re e Tas­so, die mit ihrer Italo­phi­lie nicht hin­term Berg hält. Den­noch seh­ne ich mich, um hier­zu­lan­de dem Drang nach Licht und Leich­tig­keit Rich­tung zu ver­schaf­fen, zuerst nach Pas­sau, donau­ab­wärts, in den nie­der­baye­ri­schen Südosten.

Im Janu­ar 1925 hat der Schrift­stel­ler Max Zei­big (1889–1963), ein Sach­se wie ich, die Stadt mit ihrer „fast süd­län­di­schen Hei­ter­keit“ in dem Buch „Deut­sche Wan­der­fahrt“ zu rüh­men gewusst: „Vom Nor­den her“, schrieb er, „rau­schen die Träu­me aus dem Baye­ri­schen Wald, und im Süden zeich­nen die Berg­ket­ten der Alpen ihre groß­ar­ti­gen Lini­en an den kla­ren Horizont.“

Mei­nen ers­ten Ein­druck gewon­nen habe ich im Janu­ar des Jah­res 2001, mit dem „Euro­ci­ty“ ange­lan­det auf dem Weg nach Frey­ung. Das Ziel des Sani­tä­ters im Frie­dens­dienst hin­ter den Sie­ben Ber­gen war die Kaser­ne „Am Gol­de­nen Steig“. Die letz­ten Kilo­me­ter wur­den im Bus absol­viert. Trotz acht und mehr Stun­den auf Ach­se: Die Fahrt ward zum Erleb­nis, beson­ders der vor­letz­te Abschnitt, den Fluss ent­lang. Nur die Klän­ge von Strau­ßens Donau­wal­zer fehlten.

Eine Kitsch­fan­ta­sie? Weit gefehlt, so fühl­te es sich an, nicht nur in der Rück­schau. Irgend­wann ent­fal­te­te die Stadt am Zusam­men­fluss von Donau, Inn und Ilz die Kraft in mir, regel­mä­ßig zurück­zu­keh­ren an die aus ver­schie­de­nen Wel­ten gespeis­te Stät­te: jener Bay­ern-Öster­reichs oder Öster­reich-Bay­erns und der Ita­li­ens. Auch böh­mi­sche Ein­flüs­se sind zu spü­ren. Las­sen sie sich von­ein­an­der tren­nen; wäre ein Ver­such sinn­voll? Fra­gen, die eige­ner Betrach­tung wür­dig wären. Jeden­falls: Es ist alles da – mil­de und schrof­fe Hügel; anspruchs­vol­le Archi­tek­tur, wenn auch – Stich­wort „San Gimigna­no“ – kaum des Mit­tel­al­ters; zuge­wand­te, ker­ni­ge und zugleich kul­ti­vier­te Bür­ger; die Lage der Sied­lung, „lang­ge­streckt und (…) fast eine Insel, wenn man vom Inn in die Donau einen Gra­ben zöge, denn die Ent­fer­nung des einen Flus­ses vom andern beträgt kaum fünf­hun­dert Schritt“. So schrieb es im Jah­re 1444 Enea Sil­vio Pic­co­lo­mi­ni, der spä­te­re Papst Pius II. (1405–1464). Kurz: Sehens- und Erfah­rungs­wür­dig­kei­ten für Kör­per, Geist und – ange­sichts zahl­lo­ser geist­li­cher Orte – auch für die Seele.

Jene Insel­at­mo­sphä­re blieb mir zunächst ver­bor­gen. Der Bus, der sich durch den Baye­ri­schen Wald nach Frey­ung mäan­der­te, bog nur weni­ge hun­dert Meter jen­seits des Bahn­hofs, die Alt­stadt bei­sei­te­las­send, die Donau que­rend, sogleich gen Nord­os­ten ab, aufs Land hin­aus, hin­ein in den Wald.

Erst nach und nach wuchs Neu­gier, War­te­zei­ten für klei­ne Expe­di­tio­nen in die Stadt zu nut­zen – ins Stamm­haus der Kon­di­to­rei Simon mit sei­nen Gewöl­ben am Rin­der­markt. Den Süd­ost­ab­schluss des gestreck­ten Plat­zes bil­det neben dem Pau­lus­bo­gen, der in römi­scher Zeit den Stand­ort des ältes­ten Stadt­tors mar­kier­te, die erhöht ange­ord­ne­te Stadt­pfarr­kir­che. Der von Car­lo Anto­nio Car­lo­ne – Stifts­bau­meis­ter von Gars­ten, Seckau und Sankt Flo­ri­an –, ent­wor­fe­ne Bau wur­de 1678 fer­tig­ge­stellt und ersetz­te einen um 1050 geweih­ten Vorgänger.

Vis à vis Top­fen- oder Apfel­stru­del, neben der eben­falls am Platz befind­li­chen Spi­tal­kir­che St. Johan­nes mit Wur­zeln im 12. Jahr­hun­dert – das war ein klei­nes Glück und ist es geblieben.

Mit Stru­del von der Kon­di­to­rei Simon auf dem Rin­der­markt – Blick auf Stadt­pfarr­kir­che und Pau­lus­bo­gen, links ange­schnit­ten: die ehe­ma­li­ge Spi­tal­kir­che. Foto: Micha­el Kunze

Wer mit der Bahn anreist, folgt per pedes den Hin­weis­schil­dern in die Alt­stadt und steht irgend­wann auf dem­sel­ben Are­al, ob ihn der Weg über die Roß­trän­ke führt oder den Heu­win­kel. Die nie­der­baye­ri­sche Capi­ta­le erin­nert sich ihrer Ver­gan­gen­heit noch in spre­chen­den Straßennamen.

Auto­fah­rer par­ken zen­trums­nah unter der Schanz­l­brü­cke, unweit der sich wie eine Per­len­ket­te ans Ufer schmie­gen­den Donau-Kreuz­fahrt­schif­fe, die hier fest­ma­chen und der Stadt Gäs­te in Scha­ren besche­ren. Von da wie dort eröff­nen sich kür­ze­re oder aus­grei­fen­de Rou­ten, sie zu erkun­den: Eili­ge neh­men die Donau­län­de oder die Fritz-Schäf­fer-Pro­me­na­de, Par­al­le­len zur Roß­trän­ke, dann den Donau­kai, das Ufer ent­lang gen Osten: bis „Land’s End“, das in Pas­sau „Orts­spit­ze“ gehei­ßen wird. Hier fließt von Nord­wes­ten die Donau her­an, um sich mit dem von Süd­wes­ten anströ­men­den, oft kal­kig-auf­ge­schlämm­ten Inn zu ver­ei­nen. Aus dem Baye­ri­schen Wald stößt die klei­ne, kla­re Ilz hin­zu, die im Som­mer zum Bad einlädt.

Schließ­lich geht es, vor­über am mit­tel­al­ter­li­chen Schaib­lings­turm, am Inn fluss­auf­wärts, wenn Über­schwem­mun­gen das nicht ver­hin­dern und den Ufer­weg unpas­sier­bar machen. Das gilt auch für Platz und Stra­ße vor dem uri­gen Rat­haus mit vie­len Hoch­was­ser­mar­ken am Donau­ufer, von wo sich eine bezau­bern­de Per­spek­ti­ve eröff­net auf die jahr­hun­der­te­lang als Burg der Fürst­bi­schö­fe genutz­te Ves­te Ober­haus auf dem Georgs­berg – mit wie­der­um bes­tem Pan­ora­ma von dort über die Stadt.

Zurück zum Inn: Über den Fluss hin­weg gen Süden erhebt sich die Wall­fahrts­kir­che „Maria­hilf“. Die berühm­te Stie­ge hin­auf säu­men Mau­ern vol­ler Votiv­ta­feln. Sie zeu­gen von den seit 400 Jah­ren wäh­ren­den Bitt- und Dank­gän­gen zu einem sei­ner­zeit gestif­te­ten Mari­en­bild. Als 1683 die Tür­ken Wien bela­ger­ten, floh Kai­ser Leo­pold nach Pas­sau; täg­lich bete­te er mit sei­ner Frau vor dem Andachts­bild um Beistand.

Ein­mal auf der rech­ten Inn­sei­te, ist der Weg kurz zu dem Fried­hof mit dem Grab eines der bedeu­tends­ten Söh­ne jün­ge­rer Stadt­ge­schich­te: Rein­hard Raf­falts (1923–1976), dem gro­ßen Deutschrö­mer, der mit Büchern, Vor­trä­gen, Fil­men, Radio­bei­trä­gen über Ita­li­ens Geschich­te, Kul­tur, Spra­che und Reli­gi­on – ohne Über­trei­bung – ein Mil­lio­nen­pu­bli­kum erreicht hat. In jün­ge­rer Zeit wur­de an sol­che Ban­de ange­knüpft: Seit 2003 ist – der ört­li­chen Deutsch-Ita­lie­ni­schen Gesell­schaft sei Dank – das vene­zia­ni­sche Mon­tec­chio Mag­gio­re Pas­saus Partnerstadt.

Im Schnell­durch­gang, der über Inn­kai und ‑pro­me­na­de bis zur Mari­en­brü­cke absol­viert wer­den kann, um dann, vor­bei am Stadt­thea­ter und über die The­re­si­en­stra­ße, zur Schanz­l­brü­cke zurück­zu­keh­ren, ist der Auf­stieg zu Kir­che und Fried­hof nicht zu schaffen.

Pas­sau ist nichts für Eili­ge. Dis­po­nie­ren Sie schon auf dem Rin­der­markt um oder am Donau­ufer und neh­men nach dem Pau­lus­bo­gen den Stein­weg, um die weni­gen Schrit­te zum Dom­platz zurück­zu­le­gen. Im Palais Lam­berg wur­de 1552 der Pas­sau­er Ver­trag unter­zeich­net, der den Augs­bur­ger Reli­gi­ons­frie­den vorbereitete.

Erst mit etwas Abstand von der Kathe­dra­le, beim Denk­mal für den baye­ri­schen König Max I. Joseph, lässt sich die eins­ti­ge Bedeu­tung der viel­fach unter­schätz­ten Stadt bei der Schau nach der gewal­ti­gen Fas­sa­de erah­nen. Der Ulmer Mar­tin Zeil­ler, der für den bekann­ten Kup­fer­ste­cher und Ver­le­ger Mat­thä­us Meri­an den Älte­ren Tex­te schrieb, nann­te Pas­sau 1632 „alt, berühmt und bischöflich“.

Dabei erah­nen Betrach­ter auf Anhieb nichts, was in frü­he Jah­re der Stadt zurück­reicht. Brän­de haben sie ver­sehrt. Wäh­rend der Chor des Domes vom an des­sen Ost­sei­te gren­zen­den Resi­denz­platz aus, einem der schöns­ten Plät­ze Süd­deutsch­lands, noch goti­sche For­men auf­weist, trägt Pas­sau seit dem Feu­er von 1662 dank Bau­meis­tern wie Car­lo Lura­go oder Car­lo­ne weit­hin baro­cke Klei­der. Das gilt erst recht für den 102 Meter lan­gen Dom, Bischofs­kir­che des 739 vom hei­li­gen Boni­fa­ti­us errich­te­ten Bis­tums. Er birgt den größ­ten baro­cken Kir­chen­in­nen­raum nörd­lich der Alpen und die größ­te Dom­or­gel der Welt. Genau bese­hen, han­delt es sich um das Arran­ge­ment meh­re­rer Instrumente.

Auch unter wol­ken­ver­han­ge­nem Him­mel reiz­voll: der Pas­sau­er Resi­denz­platz mit eins­ti­ger Bischofs­woh­nung (links), Dom und Wit­tels­ba­cher­brun­nen (neben den Schir­men). Im neu­ba­ro­cken Stil von 1904 bis 1906 auf­ge­führt, liegt die­sem ein Ent­wurf des Bild­hau­ers Jakob Bradl (1864–1919) zugrun­de. Foto: Micha­el Kunze

Die Diö­ze­se – wir erin­nern uns an Zeil­lers Wor­te – reich­te im Mit­tel­al­ter mit 42.000 Qua­drat­ki­lo­me­tern Flä­che bis an Ungarns West­gren­ze, schloss Wien ein. Es war die größ­te im Reich, und es ist kein Zufall, dass die in der öster­rei­chi­schen Haupt­stadt befind­li­che Kathe­dra­le das glei­che Patro­zi­ni­um auf­weist wie der Dom der Dreiflüssestadt.

Aus die­sem her­aus mögen sams­tags der Wochen­markt oder jeder­zeit Wirts­häu­ser und Cafés locken, in denen gewiss eines der guten Pas­sau­er Bie­re aus­ge­schenkt wird. Ich ver­las­se die Stadt indes nie ohne Besuch im Anti­qua­ri­at Hen­ke, dem Dom schräg gegen­über­ge­le­gen. Mehr als fünf­zig Jah­re lang führ­te der Grün­der die­se Fund­gru­be für Wah­res, Schö­nes und Gutes. Nun haben Wit­we und Toch­ter übernommen.

Wäh­rend jedoch im Tou­ris­ten­tru­bel kaum eine Rast Gele­gen­heit bie­tet für Samm­lung – wie in Wien: erst recht nicht der Dom –, sind es, an der mäch­ti­gen Jesui­ten­kir­che vor­über, nur weni­ge Minu­ten Fuß­weg zum eins­ti­gen Klos­ter Nie­dern­burg. Bis 2017 war die agi­lol­fin­gi­sche Grün­dung des 8. Jahr­hun­derts für knapp 200 Jah­re Heim­statt der Eng­li­schen Fräu­lein, die das Klos­ter auf­ge­ge­ben haben. Des Kai­sers Hein­rich II. Tan­te war hier Äbtis­sin, spä­ter sei­ne Schwes­ter Gise­la, Wit­we Ste­phans des Hei­li­gen von Ungarn. Die drei­schif­fi­ge Pfei­ler­ba­si­li­ka stellt, trotz Ergän­zun­gen in Gotik und Barock, Pas­saus größ­tes roma­ni­sches Bau­werk dar.

Der Mensch lebt nicht von Brot allein oder baye­ri­schem Stru­del, erst recht nicht von der Schau stei­ner­ner und doch ver­gäng­li­cher Pracht. Mag die Unru­he im bei Früh­lings­tem­pe­ra­tu­ren ein­set­zen­den Gewim­mel noch so groß sein – hier, am Grab der seli­gen Gise­la, fand ich in zwei Dut­zend Jah­ren stets Stil­le vor, Einkehr.

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