„Was ist, wenn Europa fällt? Was ginge dann – in spenglerscher Diktion – (noch) unter?“ So fragte Karl zu Schwarzenberg, Tschechiens früherer Außenminister, nicht. Er diagnostizierte vielmehr: „Europa ist in Gefahr.“ Während die Mehrheit des Publikums – um die 350 Gäste waren der Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung in die Dreikönigskirche gefolgt – dabei an die derzeitige Krise zwischen Ukraine und Russland gedacht haben mag, führte sie Schwarzenberg, der 1937 in Prag geborene Nachfahre des Oberbefehlshabers der antinapoleonischen Truppen in der Völkerschlacht, auf eine andere Fährte. Zu sich und gegen sich als Europäer, ließe sie sich beschreiben. Wenn Europa scheitere, lautete sein Credo, dann nicht an einem antiliberalen Russland, das den Europäern derzeit für ihre eigene Unentschlossenheit, ihre über Jahrzehnte gefährlich einseitige Orientierung an Konsum und wirtschaftlicher Prosperität bei mangelnder Verteidigungsbereitschaft eine (Teil-?) Rechnung präsentiere, zu deren Deckung Amerika mittlerweile weder willens noch in der Lage sei. Europa – das heißt für Schwarzenberg zunächst: die EU, der es vor allem an Integrationsbemühungen in den Bereichen von Außen‑, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ermangele, während sie andernorts zu weit getrieben worden seien -, Europa scheitere an den Europäern und zwar dann, wenn sie nicht ihre Gemeinsamkeiten den Unterschieden voranstellten. Diesen Eindruck erweckten jedoch die demoskopischen Untersuchungen im Vorfeld der Europawahl quer über den Kontinent. Was seit Jahrzehnten fehle, sei eine neue politische, eine gesellschaftliche Idee, die Bürger und politische Führung antreibe. Und das Wissen um festen Grund, von dem aus sie entwickelt werden könne. Schwarzenberg ließ das Publikum nicht im Ungefähren darüber, worauf er sein Denken und Handeln gründe: auf das Bewusstsein für „die vier Hügel“ – den Sinai, Golgatha (zwei Berge außerhalb des geografischen Europas – keine neue zwar, doch eine nach wie vor bemerkenswerte Klammer), die Athener Akropolis und das römische Kapitol. In seinem Vortrag zum Thema „Demokratie in Gefahr? Die Bedeutung der Europäischen Union für Länder in Mittel-/Ost-Europa“ hielt sich der 76-Jährige nicht lange auf mit Russlands Krim-Politik, wobei ihm die Reaktionen der Europäer symptomatisch für deren Orientierungslosigkeit zu stehen schienen. Auf andere, vom Westen aus kritisch beäugte EU-Länder wie Rumänien oder Ungarn ging er milde ein – und brachte Verständnis auf für deren von Korruption (Rumänien) und Dirigismus, von staatlicher Wirtschaftslenkung oder politischer Einschüchterung (Ungarn) geprägte aktuelle Verfassung. Was manchen Zuhörer verwundert haben mag. Schwarzenberg, der nach der Matura in Wien ebendort, in Graz und München zunächst Rechts‑, dann Forstwissenschaften studierte, nannte es „nachvollziehbar“, dass die politische Kultur dieser und anderer Länder, die über viele Dekaden unter diktatorischen, jedenfalls nicht rechtsstaatlichen Bedingungen existierten, nicht innert weniger Jahrzehnte einer Metamorphose unterzogen werden kann. Der greise Herr riet zu Geduld. Und erinnerte sich seiner Studienzeit im München der späten fünfziger Jahre, während der über die Nazivergangenheit wesentlicher Politiker, Richter und Verwaltungsfachleute in Deutschland debattiert wurde. Und deren fortbestehenden Einfluss dort, wo sie noch immer eingesetzt waren. „Dabei dauerte das ‚Dritte Reich‘ nur zwölf Jahre“, gab er zu bedenken, „nicht mehr als 70 wie der Kommunismus in Russland.“ Schwarzenberg schloss mit einem Appell an die Europäer, also auch die Sachsen und Dresdener, von denen er weiß: Sie teilten das tschechische Schicksal der kommunistischen Unterdrückung – und lassen sich dennoch mitunter zu Zynismus über die aktuelle Lage verleiten: „Überlassen Sie Europa nicht den Politikern, gehen Sie selbst ans Werk!“ Sagte der Politiker. Derart Selbstironisches – in vollem Bewusstsein um den Ernst der Lage – hört man hierzulande selten von Vertretern seiner Zunft. Wer sich an dieser Stelle Konkreteres dazu gewünscht hätte, wie Europa voranzubringen wäre, wurde zwar enttäuscht. Ein Blick auf das bisherige Leben Schwarzenbergs mag jedoch Inspirationsquelle genug sein.