Auf einer prominent besetzten Tagung der Zunft in Chemnitz wurde weder an Selbstkritik gespart noch solcher gegenüber Politikern. Anlass war die Verabschiedung von Eckhard Jesse in den Ruhestand, der an der TU die Gründungsprofessur des Fachs innehatte.
CHEMNITZ. Wie es um die deutsche Politikwissenschaft bestellt ist, lässt sich nicht leicht sagen. Für manche jedenfalls befindet sie sich seit Jahren in der Krise. Politologen haben weder die deutsche Wiedervereinigung noch den Aufstieg Chinas oder des islamistischen Terrorismus vorausgesehen. Öffentliche Debatten prägen hierzulande ohnehin eher Philosophen und Historiker, mehr noch aber Juristen und Ökonomen. Politologen sind selten präsent. Die intellektuellen Eingriffe von Dolf Sternberger oder Wilhelm Hennis liegen lange zurück. Wenn sie nicht den Wahlsonntag kommentieren, werden Vertreter der Profession kaum mehr wahrgenommen.
Vor diesem Hintergrund fand kürzlich in Chemnitz eine Tagung unter dem Motto „Stand und Perspektiven der Politikwissenschaft“ statt. Anlass dafür war die Verabschiedung Eckhard Jesses in den Ruhestand. Der 65-Jährige Extremismus- und Parteienforscher hatte 1993 die Gründungsprofessur für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz übernommen. Alexander Gallus (Chemnitz) eröffnete eine Serie von Vorträgen mit unerwartet deutlicher Selbstkritik: Die Politikwissenschaft habe ihre öffentliche Rolle aus dem Blick verloren, „ist zu szientistisch geprägt, methodenverliebt und theorielastig. Sie kreist um sich selbst“, sagte er. Aufmerksamkeit errege sie dort, wo sie sich historischen Themen zuwende – hier fielen die Namen Herfried Münkler, Jürgen W. Falter oder Hans-Peter Schwarz – oder die Untersuchungen auf konkrete Personen ausgerichtet seien. Ansonsten scheint es, sagte Gallus, „als gäbe es in der res publica keine Probleme“, die einer politologischen Expertise bedürften.
Hierauf antwortete Peter Graf Kielmansegg (Mannheim) ernüchternd, dass „Sozialplanung“ ohnedies niemals ihre Aufgabe sein dürfe, zumal Politiker auf die Meinung von Politologen wenig Wert legten. Aussagen darüber, was in der Politik nötig sei, träfen sie am liebsten selbst. Jenseits der Demoskopie interessierten sich Politiker – ob aus fachlichem Interesse, sei dahingestellt – stattdessen eher für Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler als Gesprächspartner. Das hat auch etwas mit Selbstbewusstsein zu tun. Statt nach einfachen Behandlungsrezepten zu suchen, forderte Kielmansegg die Politikwissenschaftler auf, Politikberatung selbst zum Gegenstand ihrer Forschung zu machen, auch weil die „Grenze der Politikberatung im wissenschaftlichen Ethos selbst liegt“.
Die Grenze von wissenschaftlichem Ethos und politischer Vermarktung kennt Jürgen W. Falter (Mainz) nur zu gut. Von der Frage, ob die „behavioralistischen Träume“ der fünfziger Jahre geplatzt sind, kam er schnell zu dem Problem, dass Politologen vor allem dann nicht gehört werden, wenn sie ihre Zuhörer über die Grenzen ihrer Erkenntnisse aufzuklären versuchten. Nur dort, wo sie sich als beflissene Stichwortgeber für Medien und Politik anbieten, finden sie Gehör, sagte er. Dies unterstrich auch Roland Sturm (Erlangen-Nürnberg): Zu staatsgläubig sei die deutsche Politikwissenschaft, die sich zu sehr für Herrschaftslogiken und die Steuerung gesellschaftlicher Diskurse interessiere. Wolle die Politikwissenschaft weiter – oder: wieder – Demokratiewissenschaft sein, schrieb er ihr ins Stammbuch, müssten politische Institutionen nicht als Organe des Staates, sondern als solche von sozialer Selbstverständigung begriffen werden.
Weniger die Staats- denn die Gegenwartsfixierung bemängelte Werner J. Patzelt: Wer Zeitdiagnostik liefern wolle, muss die Vergangenheit kennen, rief er dem nickenden Publikum zu. Gemeint war, dass jede Institutionen-Analyse nach Weggabelungen und Entwicklungsmustern zu fragen habe. Pfadabhängigkeit nennt dies der Politikwissenschaftler. Mangelndes historisches Bewusstsein attestierte auch der Extremismusforscher Uwe Backes (beide Dresden). Er wies zudem auf ein Missbehagen hin, das sonst kaum zur Sprache gebracht wird: Wie sieht es eigentlich mit der Solidarität unter Fachkollegen aus?
Wie es um den eingangs geforderten öffentlichen Nutzen der Politikwissenschaftler bestellt ist, darauf ging Frank Decker (Bonn) ein. Und wurde deutlich: Hat die Politikwissenschaft auf die vieldiskutierte „Demokratiekrise“ in der Bundesrepublik reagiert? Gewiss, sie fragt nach neuen Partizipationsmodellen und direkter Demokratie. Aber wie steht es um eine Kritik des postdemokratischen Zeitalters? Sind angesichts der immer wieder – auch von der Politikwissenschaft – herausgestellten Desintegrationstendenzen in westlichen Gesellschaften die Bürger überhaupt in der Lage, an den bestehenden politischen Entscheidungsprozessen noch teilzunehmen, fragte er. Hat das Fach ein Instrumentarium entwickelt, sie dem Bürger zu erklären? Oder gar Alternativen anzubieten? Wer hier keine zustimmenden Antworten findet und sie belegen kann, muss sich wohl in der Tat Sorgen machen um den Stand der deutschen Politikwissenschaft, mehr noch aber um ihre Perspektiven.