Das Chemnitzer Buch der Bücher

Faksimile des größten Schatzes der Chemnitzer Stadtbibliothek: ein Nachdruck der Biblia latina, die in Paris vermutlich 1277 entstanden ist. Nachdem das Original kürzlich nur wenige Wochen im Deutschen Hygienemuseum in Dresden zu sehen war, füllt die Lücke nun dieser Nachdruck (im Bild links). Foto: Michael Kunze
Fak­si­mi­le des größ­ten Schat­zes der Chem­nit­zer Stadt­bi­blio­thek: die Biblia lati­na auf Papier, die im Per­ga­ment-Ori­gi­nal in Paris ver­mut­lich 1277 ent­stan­den ist. Nach­dem die­ses kürz­lich nur weni­ge Wochen im Deut­schen Hygie­ne­mu­se­um in Dres­den zu sehen war, füllt die Lücke nun die­ser Nach­druck (im Bild links). Foto: Micha­el Kunze

Um 1250 war Paris das geis­ti­ge Zen­trum der west­li­chen Welt. Dort lehr­ten die bedeu­tends­ten Wis­sen­schaft­ler – und mach­ten sich einen neu­en Buch­ty­pus zunut­ze. Ein erhal­te­nes Exem­plar ist das heu­te wert­volls­te Stück in der Biblio­thek der süd­west­säch­si­schen Stadt, das kürz­lich einen sei­ner sel­te­nen öffent­li­chen Auf­trit­te hatte.

CHEMNITZ/DRESDEN. Alber­tus Magnus, Bona­ven­tu­ra und Tho­mas von Aquin – Namen, auf die sich heu­te nur mehr Theo­lo­gen oder Phi­lo­so­phen einen Reim machen. Vor 750 Jah­ren waren sie Gigan­ten, frü­he Intel­lek­tu­el­le, die mit dem Papst ver­kehr­ten, mit Fürs­ten und ande­ren Gelehr­ten aus aller Welt. Ihr wich­tigs­ter Wir­kungs­ort war Paris – genau­er: des­sen Uni­ver­si­tät. Hier schrie­ben sie, dis­pu­tier­ten, lehr­ten. „Stu­den­ten aus der gan­zen Chris­ten­heit“ zog die Uni damals an, so der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Jac­ques Verger.

Was hat das mit Chem­nitz zu tun, damals eine Klein­stadt, wäh­rend die Sei­ne-Metro­po­le schon mehr als 150.000 Ein­woh­ner zähl­te? Die Stadt­bi­blio­thek, die neben einer hal­ben Mil­li­on Büchern etwa auch Dut­zen­de Inku­na­beln besitzt, bewahrt dazu den Schlüs­sel auf. Der eine Hand­schrift ist und eine Inno­va­ti­on ers­ten Ran­ges, ohne die Mön­che wie Albert, Bona­ven­tu­ra, Tho­mas – von der katho­li­schen Kir­che hei­lig­ge­spro­chen, über die sie weit hin­aus wirk­ten – womög­lich viel weni­ger Ein­fluss genom­men hät­ten. Wel­chen Schlüs­sel? Biblio­the­ka­rin Sabi­ne Schu­mann ver­ant­wor­tet die his­to­ri­schen Bestän­de, dar­un­ter eine auf 180.000 bis 200.000 Euro Wert geschätz­te Per­ga­ment-Hand­schrift, eine soge­nann­te Biblia lati­na – eine auf Latein ver­fass­te Bibel also. Soweit, so gewöhn­lich – schließ­lich war Letz­te­res damals die Regel? Mit­nich­ten. Denn es ist eine sei­ner­zeit gera­de erst in Mode gekom­me­ne Voll­bi­bel, die Altes wie Neu­es Tes­ta­ment enthält.

Bei­na­he ein Taschenbuch

Zuvor waren meist unhand­li­che, groß­for­ma­ti­ge Teil­aus­ga­ben gän­gig – nicht zum regel­mä­ßi­gen Trans­port geeig­net, sagt Schu­mann. Oben­drein war die Her­stel­lung teu­er, der Buch­druck noch nicht erfun­den; jedes Stück ein Uni­kat, in Hand­ar­beit gefer­tigt – Sei­te um Sei­te, genau­so der Ein­band. Und dar­um kaum erschwinglich.

Das änder­te sich mit dem Typus „Pari­ser Bibel“: Der war, obwohl nach wie vor von Hand auf getrock­ne­te Tier­häu­te geschrie­ben, als Studien‑, bei­na­he Taschen­buch ange­legt. Die Chem­nit­zer Aus­ga­be misst mit 375 Blatt gera­de ein­mal 23 mal 15 mal 6,5 Zen­ti­me­ter. So ließ sie sich tra­gen, war preis­güns­ti­ger, bot sich als Nach­schla­ge­werk an, des­sen Inhalt nach der Abschrift im Übri­gen in der Uni-Schreib­stu­be streng auf Recht­gläu­big­keit geprüft wur­de. Spra­che als Macht­in­stru­ment – ja, aber auch als Mit­tel der Ver­ein­heit­li­chung von Lehr­in­hal­ten, schrieb der Theo­lo­ge Hel­mut Ried­lin­ger. Mit Aus­ga­ben wie der Chem­nit­zer zogen Ver­tre­ter der in jenen Jah­ren ein­fluss­rei­chen neu­en Domi­ni­ka­ner- und Fran­zis­ka­ner-Bet­tel­or­den – letz­te­re hat­ten in Chem­nitz ein Klos­ter -, bis nach Russ­land und Fern­ost auf Mis­si­on, berich­tet der His­to­ri­ker Kas­par Elm. Ihre her­aus­ra­gen­den Ver­tre­ter waren die ein­gangs genann­ten. Die gro­ße Unbe­kann­te des Chem­nit­zer Exem­plars: „wie es in die Stadt kam und wann“, sagt Sabi­ne Schumann.

Schrift­ana­ly­se bestä­tigt Ent­ste­hungs­zeit in den 1270er-Jahren 

Was die For­schung weiß, ist, dass wohl­ha­ben­de Zeit­ge­nos­sen die Schrif­ten mit­un­ter an der Sei­ne erwar­ben und in ihre Hei­mat mit­nah­men. Ob es im Fall der Chem­nit­zer Biblia lati­na so war? Das ist offen, sagt Schu­mann, sicher nur, dass es sich um ein Exem­plar die­ses unver­wech­sel­ba­ren Pari­ser Typus han­delt, von dem ange­nom­men wird, dass es 1277 ent­stan­den ist. Eine Schrift­ana­ly­se bestä­tigt die Ent­ste­hungs­zeit – Bona­ven­tu­ra und Tho­mas waren da gera­de gestor­ben, Albert hochbetagt.

Nicht aus­zu­schlie­ßen sei indes, gibt Schu­mann zu beden­ken, dass die Hand­schrift in Eng­land ent­stand. Ein unda­tier­ter, wohl aber im ers­ten Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts vor­ge­nom­me­ner, namen­lo­ser Ein­trag zu Beginn des Chem­nit­zer Exem­plars, über des­sen Zustan­de­kom­men laut Schu­mann nichts bekannt ist, weist auf sehr ähn­li­che Bibeln im Bestand des Bri­ti­schen Muse­ums in Lon­don hin. Von ihnen wird ver­mu­tet, dass sie in Dover oder Can­ter­bu­ry geschrie­ben wur­den. Ob das auch auf die in Süd­westsach­sen ver­wahr­te Hand­schrift zutrifft, hat noch nie­mand untersucht.

Deren Her­kunft ist noch unge­klärt, sicher aber ihr Alter von etwa 740 Jah­ren. Dies wie die Aus­ge­stal­tung macht sie zu einer – wenn auch „nicht ganz sel­te­nen“ – Rari­tät, sagt die Chem­nit­ze­rin. Weil es sich um eine Abschrift von vie­len han­delt. Begehrt ist sie den­noch nach wie vor. Kürz­lich war die Bibel Teil einer bis Sep­tem­ber 2017 lau­fen­den Aus­stel­lung im Deut­schen Hygie­ne-Muse­um in Dres­den – deren Titel: „Spra­che. Welt der Wor­te, Zei­chen, Gesten“.

Hand­schrift als Beleg für sinn­li­ches Schrei­ben im Mittelalter

Auf den Weg gebracht wur­de die­se mit der renom­mier­ten Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung, sagt Kura­to­rin Col­le­en Schmitz. Da die Chem­nit­zer Bibel, an der nach­weis­lich nur zwei Schrei­ber­hän­de betei­ligt waren, zu die­sem The­ma man­che Deu­tung zulässt, wur­de sie aus­ge­wählt. Weil das Per­ga­ment aber sehr licht- und feuch­tig­keits­emp­find­lich ist, ging sie nach weni­gen Wochen zurück ins kon­stant auf 18 bis 19 Grad Cel­si­us tem­pe­rier­te Maga­zin bei 50 Pro­zent Luft­feuch­tig­keit. Die Lücke füllt ein papier­ner Nach­druck. Aus­ge­lie­hen haben die Aus­stel­lungs­ma­cher das Werk, „da es die Wis­sens­wei­ter­ga­be im Mit­tel­al­ter unter Kir­chen­mo­no­pol ver­an­schau­licht“. Zudem sei es ein Beleg dafür, wie „sinn­lich sei­ner­zeit geschrie­ben wur­de“, so Schmitz.

Nur weni­ge Mil­li­me­ter groß sind die Buch­sta­ben, abge­fasst in gesto­chen schar­fer Perl­schrift, ergänzt Schu­mann. Geschrie­ben wur­de mit spe­zi­el­len Federn. Kleck­se? Nir­gends. Die Kunst­fer­tig­keit der seit 1870 in der Biblio­thek ver­wahr­ten Aus­ga­be ist offen­sicht­lich: mit Blatt­gold, blau­er und roter Far­be aus­ge­führ­te Ran­ken­mo­ti­ve, Initia­len, klei­ne Bil­der – etwa des Kir­chen­va­ters Hie­ro­ny­mus. 2,5 mal 1,7 Zen­ti­me­ter groß. Alles mini, um Platz zu sparen.

Wo aber das Werk zir­ka 300 Jah­re lang blieb seit 1277, liegt laut Schu­mann wie der Ent­ste­hungs­ort im Dun­keln. Gesi­chert ist, dass es 1583 dem Chem­nit­zer Stadt­schrei­ber Lau­ren­ti­us Strö­er gehör­te – damals gewis­ser­ma­ßen der Lei­ter der Stadt­ver­wal­tung. Er ließ es neu bin­den. Woher er es hat­te? Dar­über ist nichts bekannt.

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