Wer Reform will, erneuert das Bestehende mehr oder weniger behutsam. Martin Luther aber stürzte Kirche, Politik und Gesellschaft seiner Zeit um – mit langanhaltenden Folgen, die auch im Jahr des Reformationsgedenkens nachwirken.
DRESDEN. Martin Luther wollte keine Spaltung der Kirche, sondern sie reformieren. So lautet der Tenor bei Kirchenvertretern oder Politikern im Jahr des Reformationsgedenkens. Auch katholische Theologen wie Dirk Ansorge von der Hochschule Sankt Georgen sind von der Reformabsicht des Wittenbergers überzeugt. Die Wirklichkeit vor 500 Jahren legt aber einen anderen Schluss nahe: Luthers Wunsch nach Kirchenreform war bald nach Veröffentlichung seiner 95 Thesen wider den Ablasshandel erschöpft. Dann betrieb er so aus- wie tiefgreifend Spaltung und Revolution statt Wandel und Erneuerung des Bestehenden. Bei Luthers Tod 1546 war das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ geteilt in ein evangelisches, sich konfessionell weiter zerfaserndes und in ein katholisches Lager. Unzählige hatten den Streit mit ihrem Leben bezahlt – lange vor dem Gemetzel des Dreißigjährigen Krieges.
Der antirömische Affekt lebt weiter
Die religiösen und gesellschaftlichen Konsequenzen bis in Familien hinein währten Jahrhunderte. Ältere kennen noch die mitunter dramatischen Umstände, wenn vor 60, 70 Jahren zum Beispiel eine gemischtkonfessionelle Eheschließung zur Debatte stand. Da haben Eltern Kinder enterbt, sich Familien zerstritten, wurde einander verstoßen. Die Spaltung, die Luther mit Fürstenhilfe einleitete, stellte sich als derart gravierend und nachhaltig heraus, dass es bald 500 Jahre brauchte, um sich Luthers und der Ereignisse des Herbstes 1517 ohne Siegesfeier wider die Altgläubigen in Rom zu erinnern, bei der das katholische Deutschland stets als unsicherer Geselle in nationaler Sache abqualifiziert worden war. Auch Bismarck hielt das noch so; er ließ wenig unversucht, Katholiken zu unterdrücken – im Kampf gegen Zentrumspartei, Konfessionsschulen, kirchliche Ehe. Der antirömische Affekt hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. Für eine Vielzahl von Katholiken wirkt er abgeschwächt noch immer, wenn sie sich den Umgang deutscher Medien oder Politiker wie der evangelischen Bundeskanzlerin mit Papst Benedikt XVI. im Zusammenhang mit Holocaustleugner und Ex-Piusbruder Richard Williamson in Erinnerung rufen.
Die politischen Auswirkungen von Deutschlands weltweit einmaliger Spaltung sind das eine, das andere die religiösen. Luther hat die Kirche nicht reformiert; er zwang andere, dies zu tun, nachdem er ihr den Rücken gekehrt hatte und schuf parallel dazu eine neue, die das Gegenteil der katholischen sein sollte. Das wird im Verhältnis zum Papstamt offenbar, das Luther anfangs als Ausdruck menschlichen, nicht aber göttlichen Rechts noch akzeptierte. Es zeigt sich auch darin, welche Rolle Kirche als Institution für Lutheraner spielt. Diese unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was sie für Katholiken darstellt. Während sie letzteren als Gottes Werkzeug gilt, mit dem er jetzt, direkt, sichtbar in der Welt handelt, ist sie für Lutheraner organisatorisches Mittel zum Zweck.
Die Katholische Kirche beruft sich für die herausgehobene Stellung des Papstes als Nachfolger des Apostels Petrus auf das Matthäus-Evangelium. Dort stehen Jesu Worte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“
Weihe verändert das Amt
Alles, was sich daraus ergibt, deutet der Form nach auf Dauer hin, dazu auf hohe Autorität. Darauf fußt die katholische Hierarchie. Diese leitet die Stellung der Bischöfe, deren erster der von Rom ist, aus dem Handeln in direkter Nachfolge der Apostel ab. Jesus selbst hat sie in die Welt gesandt. Durch Handauflegen wurde diese besondere Würde von den Aposteln, dem Zwölfer-Kreis um Jesus, an die Bischöfe weitergegeben. Lutheraner hingegen kennen kein Weiheamt; die Abfolge des Handauflegens ist bei ihnen unterbrochen. Denn Luther ging vom Priestertum aller Gläubigen aus, zu dem jeder Getaufte berufen ist. Die Landesbischöfe sind eine junge Notlösung, entstanden nach Untergang der Monarchien in Deutschland. Bis dahin waren die Fürsten Oberhäupter der Landeskirchen, dazu gab es als deren „Aufseher“ Superintendenten, Bischöfe hingegen nicht. Der evangelische Pfarrer wiederum leitet eine Gemeinde mit dem aus Laien bestehenden Kirchenvorstand gemeinsam. Er ist durch sein Theologiestudium zwar religiös besonders gebildet, erhält aber keine Weihe (aus der sich weitreichende Rechte und Pflichten ableiten) wie sein katholischer Amtsbruder. Lutheraner ordinieren ihre Pfarrer. Das heißt, sie werden gesegnet und ausgesandt, um Gottes Wort zu verkünden und die Sakramente zu verwalten. Luther war der Überzeugung, dass es vor Gott nicht auf Leistung ankommt, da Erlösung nur als dessen Gnadenakt denkbar ist (dem schließen sich Katholiken heute weitgehend an). So verbiete sich ein Priesterstand, der durch Weihe, Gelübde, Lebensform über anderen Gemeindegliedern steht.
Während das lutherische „ecclesia semper reformanda“ betont, dass sich „Kirche immerfort wandeln“ muss, um Jesu Botschaft zeitgemäß zu verkünden, hebt die Katholische Kirche Kontinuität hervor. Sie fürchtet den Bruch mit der Tradition wie der Teufel das Weihwasser. Immer geht es darum, die große Linie aus der Zeit Jesu bis in die Gegenwart weiter zu zeichnen – auch mal kurvig, doch ohne Unterbrechung. Dem Zeitgeist wird mit Skepsis begegnet. Nicht allein die Schrift, Luthers „sola scriptura“ – nur das, was in der Bibel steht –, dient als Richtschnur katholischen Christseins. Die Bibel ist vielmehr einer von weiteren, wenn auch ein wichtiger Stein des Hauses Kirche. Ihre Entstehung ist dabei selbst Folge eines kirchlichen Traditionsprozesses: beispielsweise von Konzilsbeschlüssen oder Glaubensprüfungen und Erkenntnisprozessen der Kirchenväter, die die Aufnahme der vier Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ins Neue Testament nach sich zogen, während andere Schriften außen vor blieben (die sogenannten Apokryphen).
Kirchenverständnis gilt als Haupthinderungsgrund für weitere Annäherung
Luther war im Wortsinne Fundamentalist; er warf der Kirche vor, sie habe sich zu weit von ihren Wurzeln entfernt, führende Vertreter hätten sich zu sehr diesseitigen Zwecken ausgeliefert und die Gläubigen gleich mit. Was er am Ablass kritisierte, war die Verknüpfung von weltlicher Leistung, klingender Münze, mit jenseitigem Lohn – getreu dem Motto des Pirnaer Predigers Johann Tetzel: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Viele Missstände hat die Katholische Kirche nach und nach abgestellt. Schon auf dem Konzil von Trient (1545–1563), das allerdings Jahrzehnte zu spät kam, wurden grundlegende Reformen eingeleitet.
Diese konnten das sich aus dem unterschiedlichen Kirchen- ergebende abweichende Amtsverständnis bei Katholiken und Protestanten nicht mehr zusammenführen, das heute als Haupthinderungsgrund weiterer Annäherung gilt. Es gibt aber zusätzliche Unterschiede wie die Anzahl der Sakramente. Katholiken kennen sieben dieser sichtbaren Zeichen, die die unsichtbare Wirklichkeit Gottes vergegenwärtigen und die die, denen sie gespendet werden, an dieser Wirklichkeit teilhaben lassen: Taufe, Eucharistie (Kommunion/Abendmahl), Beichte, Firmung, Ehe, Krankensalbung, Priesterweihe. Luther hat nur zwei akzeptiert: Taufe und Abendmahl, auch wenn er die Krankensalbung für einen guten Brauch hielt und die Beichte schätzte. Was beim Abendmahl passiert, deutete er teils abweichend vom katholischen Verständnis.
Was das in der Konsequenz bedeutet, mag eine Begebenheit illustrieren, von der im Januar 2007 der „Wiesbadener Kurier“ berichtete: Dem Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz war seinerzeit in der Heiligen Messe aufgefallen, dass jemand eine konsekrierte Hostie stehlen wollte. Zu Eltz suchte dies zu verhindern. Der Zeitung gegenüber gab er an, den Leib Christi, denn darum handelt es sich nach katholischem Verständnis, notfalls mit seinem Leben zu verteidigen. Währenddessen berichtet der Ökumenebeauftragte der als sehr konservativ geltenden Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Peter Meis, gegenüber dem Autor, dass es in seinem Kirchensprengel den Pfarrern überlassen sei, wie sie etwa mit Wein umgehen, der beim Abendmahl übrigbleibt. „In der Regel wird er weggeschüttet“, sagt er. Nur solche Pastoren, die dem katholischen Verständnis sehr nahe stünden, hielten es anders.
Sakrament, ja oder nein, maß Luther jedenfalls daran, ob ein Zeichen von Jesus selbst eingesetzt worden ist und davon die Bibel entsprechend berichtet. Für ihn galt das nur für die genannten beiden. Auch wenn Meis in der Rückschau von einem „erstaunlichen Reformweg“ der Katholiken spricht, nicht erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, sondern seit Trient, bleiben die genannten großen, maßgeblich von Luther inspirierten Unterschiede, die auch dazu führen, dass es Katholiken beispielsweise (anders als in einem Gottesdienst der Orthodoxen) auf Geheiß der eigenen Kirchenführung nicht gestattet ist, am lutherischen Abendmahl teilzunehmen. Während zudem seit einiger Zeit Frauen in immer mehr lutherischen Kirchen auch jenseits Deutschlands Pfarrer werden können, ist ihnen dies in der Katholischen Kirche verwehrt. Maßstab dafür ist, dass Jesus in den Kreis seiner Apostel nur Männer berufen hat, was die Katholische Kirche gerade nicht als Ausdruck zeitbedingter Benachteiligung von Frauen interpretiert.
Auch wenn in diesem Jahr die Errungenschaften Luthers gewürdigt werden – als Bibelübersetzer, Hochdeutsch-Entwickler, Streiter fürs Selberlesen und Kämpfer wider Korruption in der Kirche –, ändert dies nichts daran, dass er die Kirche („weg von Rom“) und Deutschland selbst gespalten hat. Ausgerechnet letzteres wird selten beachtet, gilt er doch gerade jenen als Leumund, die die nationale Einheit in Abgrenzung zum Anderen entgegen dem allumfassenden, katholischen Prinzip besonders beschwören. Dabei scheiterte Luther mit seinem Ansinnen, eine deutsche Nationalkirche zu schaffen und ein Nationalkonzil einzuberufen. Die Bauernmassen, die sich auf die von ihm proklamierte Gewissensfreiheit beriefen, um auch ihre vielfach prekäre politisch-wirtschaftliche Stellung zu verbessern, ließ er mithilfe seiner fürstlichen Unterstützer totschlagen. Er hielt die Aufrührer für vom Teufel besessen.
Innerkirchliche Reformen trieben statt Luther andere voran
Reformen in der Kirche wollten aber andere, Luthers Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam etwa, den Luther beschimpfte. Dabei hatte der sich wortgewaltig mit dem Zustand der Klöster oder der aus dem Ruder gelaufenen Heiligenverehrung auseinandergesetzt: „Wir küssen die Schuhe der Heiligen und ihre schmutzigen Schweißtücher“, schrieb er, „ihre heiligsten und wirksamsten Reliquien aber, nämlich ihre Bücher, lassen wir achtlos liegen.“ Doch der Humanist blieb katholisch, obwohl einige seiner Schriften auf dem Index landeten: „In Luthers Kirche hätte ich eine der Koryphäen werden können“, sagte er, „aber ich wollte lieber den Hass ganz Deutschlands auf mich ziehen, als mich von der Gemeinschaft der Kirche zu trennen.“ Während Erasmus außerdem für die menschliche Willensfreiheit eintrat, verwarf Luther diese. Es kommt so nicht von ungefähr, dass der Wittenberger heute manchen Historikern stärker als Exponent mittelalterlichen Denkens gilt, das er eher fortschrieb, denn als Neuerer – was paradox anmutet angesichts all der Veränderungen, die er bewirkte.
Deutlich wird das zum Beispiel im Teufels- und Dämonenglauben, „dem Luther eine Buchstäblichkeit beließ, die seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich war“, schrieb der Mittelalter-Historiker Kurt Flasch. Außerdem fordere uns die Luther-Verehrung auf, Doctor Martinus aus seiner Zeit heraus zu verstehen, so Flasch, was als bewährtes Prinzip moderner historiografischer Forschung gilt. Es führt aber mit Blick auf Luther zu zweierlei Maß. Während man ihm oder Begleitern einiges als „mittelalterlich“ oder zeitgebunden („die wussten es nicht besser, das muss man verstehen“) durchgehen lässt, zeigt sich der kritische Betrachter gegenüber (katholischen) Zeitgenossen vielfach weniger nachsichtig. Dass Luther die Doppelehe des wichtigen Verbündeten und Landgrafen Philipp von Hessen rechtfertigte – „diese wüssten wir nicht zu verurteilen“ –, taugt oft nur als Fußnote. Aus theologischer Sicht war das unglaublich. Aber die Zustände in Rom!
Doch Luther wollte den nachhaltigen Bruch mit der „alten“ Kirche, dafür brauchte er Verbündete. Und nur wer sich von Gott persönlich beauftragt wähnt, konnte, wie er im Jahre 1522, sagen: „Wer meine Lehre nicht annimmt, der möge nicht selig werden.“ Das lässt sich nicht auf einen Nenner bringen mit dem „Alle sollen eins sein“, das Jesus selbst im Johannes-Evangelium forderte. Nur Abweichler in den eigenen Reihen verurteilte er rigider als Römisch-Katholisches: Die „Irrtümer“ des Wegbereiters der Reformierten Kirche, Ulrich Zwingli, hielt Luther für siebenmal schlimmer als die der „Papisten“. Dabei hatte auch der Apostel Paulus, den Luther verehrte, einst an die Gemeinde in Korinth geschrieben: „Ich ermahne euch aber, Brüder, im Namen Jesu Christi, … duldet keine Spaltungen unter euch.“ Vielleicht nicht in erster Absicht, doch in der Konsequenz hatte Luther sein halbes Leben lang an nichts anderem gearbeitet.