Der Politologe Claus Leggewie hat ein Buch wider die „autoritäre Welle“ und für ein Europa der Vielfalt geschrieben – denkwürdig und streitbar.
BRÜSSEL. Migrationskrise, Reformstau, abgehängte Regionen – alle reden über Europa. Viele meinen dabei „Brüssel“, die EU-Institutionen, assoziieren Handlungsunfähigkeit, Überregulierung, schlechte Infrastruktur, während Trump „America first!“ skandiert oder Le Pen „France d’abord!“. Und dies bei Wahlen erfolgreich.
Das Vertrauen in ein geeintes Europa scheint in dem Maße zu schwinden, wie die Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs abtritt. Oder wird der Kontinent eingeholt von seinem ökonomischen Erfolg, seit diejenigen, die auf der Südhalbkugel vorrangig die Kosten dafür zahlen, ihr Stück vom Kuchen abhaben wollen und zu uns kommen? In Südeuropa ist die Jugendarbeitslosigkeit ohnehin hoch, dazu wachsende Altersarmut, Städte, in denen Kriminalität grassiert und Angst vor islamistischem Terror, Parallelgesellschaften und Schulen, die abgeschrieben sind. Die Welle der Angst schwappt hoch – und die Höckes und Gaulands reiten sie, schreibt Claus Leggewie in seinem neuen Buch „Europa zuerst!“.
Folgt man der Einschätzung des Politikwissenschaftlers aus dem Ruhrgebiet, haben jene, die einer AfD, FPÖ oder Lega Nord ihre Stimme geben, aber einigen Grund dafür. Wer, wie Leggewie selbst, aber die Welle abwehren will, muss dennoch „das gar nicht so kleine Körnchen Wahrheit wahrnehmen, das in ihr steckt“. Muss sich einlassen auf den Widerstand gegen omnipräsentes Politiker-Gerede von angeblich alternativlosen Politikentwürfen. Denn repräsentative Demokratien wie die deutsche befänden sich tatsächlich in einer Krise – mit ökonomischen, kulturellen und sozialpsychologischen Ursachen, einem Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust der Repräsentanten, Abstiegsängsten des Mittelstands, zunehmend prekarisierter Arbeiterschaft – jedenfalls dort, wo sie schlecht ausgebildet ist.
Die hierzulande Chancenarmen bangen um ihre Stellung
Doch Leggewie, der das Manuskript vor der Bundestagswahl fertiggestellt hat, klammert die Herausforderungen nicht aus – auch nicht die der hierzulande Chancenarmen, die um ihre im internationalen Vergleich weiter bestehenden Privilegien gegenüber dem wachsenden Anteil meist muslimischer Einwanderer bangen. Dabei fragt der 67-Jährige, warum sich die Kritik an Missständen allzu selten gegen die im Vergleich zur politischen Führung weit üppiger alimentierte, doch mindestens genauso einflussreiche Wirtschaftselite richtet. Leggewie listet, nach Ländern untergliedert, akribisch die Probleme auf, mit denen Europas Staaten kämpfen und fordert im Buchuntertitel „eine Unabhängigkeitserklärung“ gegenüber Ländern wie Russland, der Türkei (unangemessen dabei, dass er die USA auf die gleiche Stufe stellt) mit ihren autoritär-populistischen Führungsfiguren und setzt auf gesundes Selbstbewusstsein auf dem „alten Kontinent“ ohne Überheblichkeit.
Sein Mittel gegen ein schlichtes „Wir gegen die“ ist ein dreifacher Rat an die Regierenden und alle anderen Bürger: Erstens: Er fordert eine bessere „Antwortfähigkeit“ der Politik gegenüber den Fragen der Zeit und populistischer Propaganda – Stanislaw Tillich hat eingestanden, dass ihm diese Eigenschaft fehlt; er zieht Konsequenzen. Zweitens: Widerstand zu leisten gegen die autoritäre Welle, im Großen wie im Kleinen. Die EU-Institutionen müssten dazu reformiert werden, auch das Wahlrecht für das Europäische Parlament. Leggewie plädiert für zwei Stimmen statt einer, mit denen neben nationalen Listen europaweit zusammengestellte gewählt werden könnten. Das stärke das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Drittens: Schließlich will er eine wehrhafte Demokratie, die sich gegen islamistische und alle anderen Aggressoren ebenso zur Wehr setzen kann wie gegen autoritäre Vereinfacher, die die Gewaltenteilung zugunsten eines plebiszitären Präsidialsystems umbauen wollen. So verbreitet wie selten umgesetzt ist dabei sein Hinweis, dass nicht schärfere Gesetze das Gebot der Stunde seien, sondern die konsequente Anwendung der existierenden. Von der Bekämpfung unliebsamer Meinungen, „mögen sie auch dem Geist und den Buchstaben des Grundgesetzes widersprechen“, hält er wenig und plädiert, auch wenn das anstrengender sei, für eine weite Auslegung der Meinungsfreiheit, solange Gewalt außen vor bleibt.
Nicht nur das Thema „Migration“ ist wichtig
Was heißt das praktisch? Zunächst – bei aller Notwendigkeit, Probleme wie die unkontrollierte Masseneinwanderung zu lösen – einen Themenwechsel, besser: ein Anpacken auf so vielen weiteren Baustellen, die angesichts einseitiger und übertriebener Angstmache derzeit brachlägen. Leggewie verweist auf Fragen, wie die: wie wir nachhaltig Lebensmittel erzeugen können angesichts der weltweit weiter wachsenden Bevölkerung, oder wie und wo wir hierzulande im Alter leben wollen, wie Vollbeschäftigung angesichts von Industrie 4.0 künftig erreicht werden kann oder … oder.
Es ist die Skizze eines wohlhabenden, gebildeten, linken (Groß-) Städters, die manche Reibungsfläche bietet. Sehr gut! Denn seine Federzeichnung berücksichtigt trotz manch schroff schwarz oder weiß ausfallender Linie viele Grautöne einer europäischen Bürgergesellschaft mit digitaler Teilhabe für Jung und Alt, Stadt und Land. Nicht alles ist dabei neu, etwa, wenn er Vertiefung wie Ausweitung von Schüler- und Studentenaustausch anregt, lebendige Städtepartnerschaften, proeuropäische Bürgerinitiativen. Manches, was er vorschlägt, ist gewöhnungsbedürftig: eine Europäische Energieunion etwa. Oder fantastisch – wie eine Art Westfälischer Frieden für den Nahen Osten.
Die europäische Einigung sei indes nicht gottgegeben. Das heißt für Leggewie: Jede Generation hat sie sich neu zu erarbeiten, bekommt dabei nichts geschenkt, sondern muss investieren: Geld – ja, auch das -, genauso Geist, Willenskraft, Neugier. Diese Sammlung von Denkanstößen, Fragezeichen, Praxiseinblicken, Utopien taugt dafür gut als Einstieg.
Claus Leggewie: Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung, Ullstein-Verlag, Berlin 2017, 320 Seiten, 22 Euro.