DRESDEN. Warum schlug dem „Bürger“ hierzulande oft Skepsis entgegen, und wie steht es heute um ihn als politischem Akteur? Ein Gespräch mit dem Dresdener Politologen Maik Herold.
Bei Demonstrationen wie denen von Pegida und deren Gegnern nehmen Teilnehmer beider Lager für sich in Anspruch, ein Bürgerrecht auszuüben: politisch tätig zu sein. Die Diskussion zwischen den Schriftstellern Uwe Tellkamp und Durs Grünbein unter großer Bürgerbeteiligung kürzlich in Dresden über Meinungsfreiheit hat die Gemüter ebenfalls erregt. Sind das Zeichen für eine Renaissance des Bürgers als politischem Subjekt?
Von einer „Wiedergeburt“ ließe sich sprechen, wäre er zuvor „tot“ gewesen. Das sehe ich nicht. Denken Sie an die Friedliche Revolution von 1989 in der DDR, die von Bürgern ausging, auch wenn unter ihnen wohl mehr Maurer und Krankenschwestern waren als Architekten und Ärzte. Der seit jeher facettenreiche Bürgerbegriff beschreibt heute weniger eine gesellschaftliche Klasse und ist über manche Selbstzuschreibung, wie die, spätestens seit Goethe nach humanistischer Bildung zu streben, hinausgewachsen – oder dahinter wieder zurückgefallen. Wie man es nimmt.
Zumindest in Deutschland schien der Bürger trotz des Bildungsideals oft politisch leicht verführbar, sofern er nicht im anderen Extrem darauf beharrte, sich völlig aus der Politik herauszuhalten. Was verstehen wir unter einem „Bürger“, wenn nicht eine gesellschaftliche Gruppe, Klasse?
Im Allgemeinen dient in modernen Demokratien der Begriff „Bürger“ dazu, sich über die Rolle des Einzelnen im Gemeinwesen zu verständigen. Es geht also um einen juristischen Status, der dem Einzelnen durch Mitgliedschaft im Personenverband der (Staats-) Bürger bestimmte Rechte gewährt. Davon sind andere Kategorisierungen zu unterscheiden – etwa, ob jemand sein Handeln am Gemeinwohl orientiert und bereit ist, sich politisch zu engagieren oder in der freiwilligen Feuerwehr, ob er solidarisch ist und leistungsbereit, nach Bildung strebt oder weltoffen ist und Heimatliebe schätzt. Was einen „guten Bürger“ ausmacht, verändert sich und wird im öffentlichen Diskurs immerzu neu ausgehandelt.
Dabei ist politisches Engagement lange alles andere als selbstverständlich gewesen, gerade in Deutschland.
Auch in deutschen Reichs- und Hansestädten entwickelte sich früh ein Bürgertum, das politisch aktiv war. Allerdings galt es lange als ausgemacht, dass eine bürgerliche Selbstverwaltung nur in kleinen Räumen, in einzelnen Städten und Gemeinden, nicht aber in größeren Territorien funktionieren kann. Versuche gab es dennoch, etwa in den norditalienischen Stadtrepubliken, der Alten Schweizer Eidgenossenschaft und den Vereinigten Provinzen der Niederlande. Erst im 18. Jahrhundert, infolge der Revolutionen in den USA und in Frankreich, wurde die Idee einer „Bürgerherrschaft“ auf Flächenstaaten übertragen. In diesen modernen Republiken erhielten Bürger – englisch „citizen“, französisch „citoyen“ – eine zentrale politische Bedeutung. Die Entwicklung in Deutschland stellte einen Sonderfall dar, was sich auch an der Wortschöpfung „Staatsbürger“ zeigt.
Inwiefern?
Den „Bürger“ gab es lange vor dem „Staat“. In Deutschland aber wurde beides eng zusammengedacht: Der Bürger wollte zwar politisch selbstbestimmt sein, blieb aber Untertan des Monarchen, sah sich dazu – entsprechend erzogen – vielfach in der Pflicht. Dieses von der deutschen Staatsphilosophie des frühen 19. Jahrhunderts geprägte Ethos führte noch in der Weimarer Republik zu politischer Lähmung, die durch andere Aktivitäten kompensiert wurde. Bürger machten Karriere in Verwaltung, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft, vielfach ohne gleichzeitig politische Mitbestimmung und Verantwortlichkeit einzuüben. Sie sorgen für den industriellen Aufstieg Deutschlands, gewinnen Nobelpreise, sammeln Kunst und bauen Villen, groß wie Burgen.
Damit kehrte der „Bürger“ in gewisser Weise an seinen begrifflichen Ursprung zurück.
Das Wort ist tatsächlich mit „Burg“ verwandt und folgt einem in vielen Sprachen zu findenden Wortstamm – althochdeutsch „burgari“, mittelhochdeutsch „burgaere“ oder altenglisch „burgware“. Es bezeichnete im weitesten Sinne die Bewohner einer befestigten Stadt. Verwiesen war damit weniger auf einen Wohnort als auf die Stellung des Bewohners in einer Gemeinschaft Gleichberechtigter, von deren Wohl und Wehe das eigene Schicksal abhing …
… wobei die historischen Wurzeln im antiken Griechenland liegen.
Ja, auf die damaligen Stadtstaaten – altgriechisch „poleis“ – wird die Idee eines Personenverbandes als Kern politischer Ordnung zurückgeführt. Bürger zu sein meinte auch damals nicht nur, dass jemand in einer bestimmten Stadt lebte, sondern vor allem, dass er gleichberechtigt über die öffentlichen Angelegenheiten – „ta Politika“ – mitbestimmen durfte. Im antiken Rom hatten Bürger – lateinisch „civis“ – ebenfalls derartige Rechte, auch wenn die politische Macht auf wenige Familien beschränkt war. Der Ausruf „Ich bin römischer Bürger“ – „civis Romanus sum“ – ermöglichte außerdem im gesamten Reich die Chance auf ein ordentliches Gerichtsverfahren.
Wer durfte Bürger werden?
Zunächst nur Römer – qua Geburt oder durch Verleihung des Bürgerrechts. Das wurde später ausgeweitet auf andere Gruppen. Im 3. Jahrhundert erhielten es fast alle freien Reichsbewohner, womit es als Statussymbol einbüßte. Frauen, Fremde und Sklaven blieben aber in der Regel außen vor.
Wie sah es im Mittelalter aus?
Auch hier waren die politisch berechtigten Stadtbürger in der Minderheit. Die übrigen Bewohner wurden von ihnen als „Beisassen“ oder „Inwohner“ unterschieden, was auch die jenseits der Stadtmauern lebende Bevölkerung abgrenzte. Lange spielen Vermögen oder Landbesitz eine wesentliche Rolle, um Bürger zu werden; man musste ehelich geboren sein und durfte keine unehrenhaften Berufe ausüben – etwa Scharfrichter oder Totengräber.
Der „Bürger“ scheint heute als rechtlich gefasstes Subjekt an Bedeutung zu verlieren. Martin Schulz und Angela Merkel sagten im Bundestagswahlkampf, sie wollten Repräsentanten aller Menschen im Land sein.
Man muss hier zwischen wohlgemeinten Gesten und verfassungsrechtlichen Vorgaben unterscheiden. Rechtlich betrachtet repräsentieren Kanzler die Bürgerinnen und Bürger, wie sie nach Grundgesetzartikel 116 bestimmt werden – also alle, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, dazu wenige Ausnahmen. Nur Staatsbürger wählen den Bundestag, der den Kanzler bestimmt. Selbst in den Grundrechten unterscheidet das Grundgesetz zwischen „Jedermannsgrundrechten“ und solchen, die nur Staatsbürgern vorbehalten sind. Einen Sonderstatus haben Bürger anderer EU-Staaten; es gibt also Wandlungsprozesse.
Wie unterschied sich deren Stellung in der DDR von der in der Bundesrepublik?
Auch die DDR-Verfassung nannte Bürgerrechte – den Schutz der Würde und der Freiheit der Persönlichkeit, Gewissens- und Glaubensfreiheit oder vor Ausbeutung, Unterdrückung, wirtschaftlicher Abhängigkeit. Die Realität bewies aber, dass ein DDR-Bürger aufgrund mangelnder rechtsstaatlicher Mittel nichts davon zuverlässig im Konfliktfall gegenüber staatlichen Eingriffen geltend machen konnte. Im Zweifel galt, was die SED wollte.
Ist der „Bürger“ ein westliches Konzept, oder gibt es vergleichbare in anderen Kulturen?
Auf den ersten Blick handelt es sich um eine westliche Idee, die über Jahrhunderte europäischer Vorherrschaft und Kolonialisierung verbreitet wurde. Gleichwohl steckt dahinter ein Bündel an Überlegungen, die sich – abgewandelt und mit eigener Begrifflichkeit – auch andernorts herausgebildet haben. Wo immer in einem Gemeinwesen sich die Menschen gleichberechtigt politische Mitsprache zugestehen, und wo immer politische Herrschaft so organisiert ist, dass sie in bestimmten Rechten des Einzelnen ihre Grenzen findet, spielt auch die Idee des Bürgers eine Rolle.
Sie sprachen von Überschneidungen zwischen Rechten deutscher Staatsbürger und anderer EU-Staaten, die einst deutlicher unterschieden waren. Ist der „Bürger“ in einer Zeit, in der nicht nur von „Wut-“, sondern auch „Weltbürgern“ die Rede ist, noch eine passende Kategorie?
Globalisierung, wirtschaftliche Verflechtung und moderne Kommunikation haben viele Menschen einander nähergebracht. Vor allem Weitgereiste, gut Ausgebildete aus westlichen Gesellschaften lassen heute nationale Identifikations- und Loyalitätsmuster hinter sich, sehen sich oft als Teil einer globalen Menschengemeinschaft. Der Nationalstaat hat bislang aber weniger von seiner Bedeutung verloren, als manche meinen. Noch heute bestimmen vor allem Nationalstaaten das Weltgeschehen, die sich als mehr oder weniger geschlossene „Bürgerverbände“ verstehen. Klar ist auch, dass selbst die elementarsten Menschenrechte nach wie vor nur dort gelten, wo sie als „Bürgerrechte“ von einer funktionierenden staatlichen Ordnung für ihre „Mitglieder“ durchgesetzt werden. In China, Russland oder gar Nordkorea finden sich ganz andere Bedingungen als etwa in Westeuropa. Wer in zerfallenden Staaten wie Somalia lebt, ist ganz außen vor. Das Pathos von einer Weltbürgergesellschaft ist da für viele Menschen nur schwer nachvollziehbar …
… zumal in anderen Kulturen Rechte und Pflichten des Einzelnen jenseits einer oft kleinen urbanen Elite und das Verhältnis zu Familie oder Gesellschaft anders bewertet werden.
Neben der Frage, welche Werte und Institutionen weltweit durchzusetzen sind, steht die nach der Legitimation politischer Entscheidungen. Hier beruft sich bis auf Weiteres auch eine Demokratie auf eine Gemeinschaft von Bürgern, deren Rechte und Pflichten in vielen Bereichen notwendigerweise von denen abweichen, die keine Bürger sind. Man kann das kritisieren. Doch selbst in Europa ist eine einheitliche „europäische Bürgerschaft“ derzeit nicht herstellbar. Vor allem in Osteuropa deuten viele die hierfür nötige Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen, Rechtsetzungskompetenzen und Identitätszuschreibungen auf die EU als Versuch, eigene Selbstbestimmungsrechte auszuhöhlen, für deren Herstellung und Erhalt zuvor jahrhundertelang gekämpft wurde.
Maik Herold, M.A., forscht im „Mercator Forum Migration und Demokratie“ an der Technischen Universität Dresden.