Das Staatliche Museum für Archäologie in Chemnitz zeigt die Sonderausstellung „Leben am Toten Meer“. Ein thematisch derart ausgreifendes Panorama der Region mit herausragenden Leihgaben hat es in Europa noch nicht gegeben.
CHEMNITZ. Als Sabine Wolfram vor sechs Jahren nach Israel reist, um über die Geschichte der jüdischen Kaufhausdynastie Schocken zu forschen, machte ihr Barack Obama, gerade auf Staatsbesuch, einen Strich durch die Rechnung. Die Sicherheitsvorkehrungen für den Amerikaner ließen ihr kaum Bewegungsfreiheit in Jerusalem. „Ich konnte gerade noch ‚fliehen‘, bevor der Präsident das ‚King David‘ verließ, woraufhin tagelang ganze Stadtviertel abgeriegelt waren; ins Schocken-Archiv kam ich nicht“, sagt die Direktorin des im sächsischen Südwesten beheimateten Staatlichen Museums für Archäologie schmunzelnd, das seit 2012 in Erich Mendelsohns legendärem, 1930 eröffneten Chemnitzer Musterbau des einstigen Warenhauskonzerns untergebracht ist.
Spontan stellte die Ur- und Frühhistorikerin ihre Pläne um, reiste ans Tote Meer nach Masada, in die En-Gedi-Oase („Quelle des Zickleins“), wo man damals noch baden konnte, und nach Jericho. Später wuchs der Entschluss, eine Ausstellung über die Levante vorzubereiten, die es so in Europa noch nicht gegeben hat: „Leben am Toten Meer. Archäologie aus dem Heiligen Land“ heißt der jüngst eröffnete große kulturgeschichtliche Wurf über das Grenzland von Israel, Westjordanland und Jordanien um den 430 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden, vom Jordan gespeisten Salzsee.
12.000 Jahre Siedlungsgeschichte im Fokus
Als vor 70 Jahren in den Höhlen von Qumran Schriftrollen, darunter die ältesten bislang bekannten Bibelhandschriften, entdeckt wurden, ging die Nachricht um die Welt. Präsentationen, die diese auch in einen über die örtliche Historie hinausgehenden Kontext einbetteten, gab es schon. Nur nahmen sie entweder vorrangig auf die Berichte der Bibel bezug, ließen die Zeit davor und danach aber weithin außer Acht. Oder sie blieben auf heute israelisches Territorium beschränkt und klammerten Funde aus dem Umland aus, die nun dank potenter Leihgeber zur Verfügung stehen. „Dabei handelte es sich einst um eine ungeteilte Region“, sagt Wolfram. Heilig ist sie Juden, Christen wie Muslimen.
„Mit dem Bronzezeit-Spezialisten Martin Pfeilstöcker als Kurator, der lange in Israel lebte, haben wir ein Konzept entworfen, das zwar nicht mit der Bibel in der Hand geschrieben wurde“, ergänzt sie. Aber religiöse und kulturelle Bezüge spielen eine wesentliche Rolle. Herausgekommen ist eine in acht Bereiche gegliederte Schau, die den Landstrich bei aller, etwa durch das Klima verursachten Lebensfeindlichkeit als einen über Jahrtausende hinweg anziehenden beschreibt. Die gezeigten Stücke reichen von der Sesshaftwerdung vor etwa 12.000 Jahren bis in die byzantinische Zeit. Dazu gibt es jeweils aktuelle Ausblicke. Die thematische, darin je chronologische Gliederung reicht von den Bereichen „Forschen“, der auch als Geschichte von Irrtümern über Datierungen, Zuschreibungen und Ortsbestimmungen gelesen werden kann, „Natur und Subsistenz“ über „Wellness“ mit den bis in die Antike zurückreichenden Thermen, „Mobilität“, „Höhlen, Dörfer, Städte“ bis zu „Macht und Ohnmacht“, „Kult und Religion“ sowie „Textilien“.
Korb aus Nahost: Keine Kooperation mit Israel, auch nicht indirekt
So sind für die rund 1,3 Millionen Euro teure Präsentation, die bis März 2020 in Chemnitz zu sehen ist, bevor sie ins Paderborner „Museum in der Kaiserpfalz“ zieht, rund 350 Objekte zusammengekommen. Sie stammen etwa von der Israel Antiquities Authority, aus dem Israel-Museum in Jerusalem, dem „Ashmolean“ in Oxford, vom British Museum wie auch dem Vorderasiatischen Museum zu Berlin. Die Bemühungen, arabische (und palästinensische) Leihgeber ebenfalls zu überzeugen, schlugen indes fehl. Das hätte – wenn auch nur indirekt – für sie bedeutet, mit Israel zu kooperieren und wurde abgelehnt. Kunst, Kultur und Geschichtsschreibung taugten immer zum Politikum – dabei ist es geblieben.
Dennoch ist das, was geboten wird, auch eine längere Anreise wert: Entlang von fünf halbkreisförmigen Bändern, die sich um einen Kernbereich zu Geologie und Lebensbedingungen legen, sowie in zwei angrenzenden Räumen werden die Exponate verständlich erläutert – Alltags- und Kultgegenstände wie Äxte, Messer, Pfeilspitzen, Schalen, Gefäße, Schmuck, dazu Nahrungsmittel- und Pflanzenreste, römische Münzen – Drachmen, Denare, Sesterzen –, Schuhe, Textilien, Schriftstücke, Grabbeigaben und Särge, die Bestattungsrituale ausdeuten. Auch ein nachgebauter Kreuzsattel wird gezeigt, der einst die Beweglichkeit der Araber wesentlich erhöhte und Eroberungszüge wie auch Handel über große Strecken möglichmachte: mit Salz oder Wasser, Asphalt oder Balsam, einer gleichnamigen Pflanze, aus der einst teuerste Kosmetika hergestellt wurden.
Wertvollstes Stück ist die älteste bekannte Abschrift der Naturgeschichte von Plinius dem Älteren (23–79), der zu den bedeutendsten Gelehrten im antiken Rom zählte. Sie entstand im 5. Jahrhundert in einer klösterlichen Schreibstube auf der Bodensee-Insel Reichenau. Wie eine weit farbenprächtigere, um 1470/80 in Augsburg und Verona gearbeitete Sammelinkunabel mit einem Hauptwerk des Flavius Josephus wird sie sonst im Kärntner Benediktinerstift St. Paul verwahrt. Hinzu kommen etwa auf 70 n. Chr. datierte, winzig kleine Phylakterien-Fragmente, von Kapseln geschützte und auf Pergament geschriebene Auszüge der fünf Bücher Mose, die von jüdischen Männern, an Riemen befestigt, beim Gebet am Körper getragen werden.
Großartiger Katalog, trotz peinlich ausufernder Gendersprache
Besonders sehenswert ist zudem der Textilbereich und dort beispielsweise eine wollene römische Tunika, dazu teils bis ins Neolithikum zurückreichende Exponate aus Leinen, Baumwolle, Ziegenhaar, die die Kleidungsherstellung nachvollziehbar machen. Die Geschichte von der Zerstörung der Stadtmauern des heute rund 22.000 Einwohner zählenden Jericho durch Posaunenklänge ist genauso Thema wie die Bedeutung des Sees, dessen Salzgehalt von derzeit rund 30 Prozent Jahr für Jahr durch die zurückgehende Wassermenge steigt, als Gesundheitszentrum von Weltrang, wobei es sich keineswegs um ein auf die Moderne beschränktes Phänomen handelt. Der opulent illustrierte, nicht nur die Ausstellungsstücke, sondern eine Vielzahl vertiefender Essays von internationalen Fachleuten enthaltende Begleitband, bei dem nur die exzessiv verwendete Gendersprache stört, setzt Maßstäbe und kann gleichwohl als landeskundliche Einführung zur Reisevorbereitung gelesen werden.
Um religiös interessierten Besuchern zusätzliche Informationen zu bieten, wurde unter dem Titel „Spuren des Glaubens am Toten Meer“ eine für Gruppen buchbare, einstündige Sonderführung erarbeitet. Sie gewährt Einblicke in die Geschichte erster, schon für die Kupferzeit nachgewiesener Tempel, ebenso wie zu riesigen frühbronzezeitlichen Grabfunden im heute jordanischen Bab edh-Dhra, wo 500.000 Bestattungen in mehr als 20.000 Schachtgräbern vermutet werden, und reicht bis in die Geschichte des Juden- und des Christentums sowie des Islams.
Auf die Resultate jahrelanger Schocken-Recherche muss übrigens niemand verzichten, der nach Chemnitz fährt. In drei Erkern des Hauses geben sie Aufschluss über dessen Geschichte, die von Salman Schocken als auch von Erich Mendelsohn (1887–1953) als Architekten und Pionier des Neuen Bauens.
Die Ausstellung „Leben am Toten Meer“ im Staatlichen Museum für Archäologie, Stephan-Heym-Platz 1, 09111 Chemnitz, wird bis 29. März 2020 gezeigt, geöffnet Dienstag bis Sonntag: 10 bis 18, donnerstags bis 20 Uhr. Geschlossen am 24., 25., 31. Dezember und 1. Januar. Führungen buchbar unter Telefon 0371 911999–0.