Der Osten ist kein defizitäres Beitrittsgebiet

Johann Michael Möllers Essay "Der Osten. Eine politische Himmelsrichtung" ist im Verlag Zu Klampen erschienen. Cover: Verlag
Johann M. Möl­lers Essay „Der Osten. Eine poli­ti­sche Him­mels­rich­tung“ ist im Ver­lag Zu Klam­pen erschie­nen. Cover: Verlag

Der Jour­na­list Johann Micha­el Möl­ler erkun­det eine „poli­ti­sche Him­mels­rich­tung“ und begibt sich dabei auf die Spu­ren einer Sehn­sucht nach kul­tu­rel­ler Selbst­be­haup­tung und der Wie­der­ge­win­nung der eige­nen Ver­gan­gen­heit – 30 Jah­re nach der Fried­li­chen Revo­lu­ti­on in den nicht mehr neu­en Bun­des­län­dern wie auch jen­seits von Oder und Neiße.

DRESDEN. Die Hoff­nun­gen, mit denen der Osten nach dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs nach Wes­ten blick­te, waren groß – und umge­kehrt. Das ist pas­sé. Der Wes­ten hat den Osten abge­schrie­ben, scheint es. Für den Osten hat der Wes­ten sei­nen Modell­cha­rak­ter ver­lo­ren. Er ist auf der Suche nach einem eige­nen Weg auf der Basis eige­ner Erfah­run­gen, für die sich im Wes­ten weni­ge inter­es­sie­ren. Statt­des­sen domi­niert dort die Wahr­neh­mung als Problemgebilde.

Johann Micha­el Möl­lers Essay schil­dert nach dem öko­no­mi­schen und welt­an­schau­li­chen Zusam­men­bruch die Sehn­sucht des Ostens nach kul­tu­rel­ler Selbst­be­haup­tung und dem Wunsch nach Wie­der­ge­win­nung der eige­nen Ver­gan­gen­heit. Die wird domi­niert von der Sehn­sucht nach Kon­trol­le über das eige­ne Leben. Längst über­blen­den kul­tu­rel­le Pro­blem­wahr­neh­mun­gen öko­no­mi­sche, die aber nicht ver­schwin­den. Das Mot­to lau­tet: Da ist mehr – schaut genau­er hin!

Möl­ler – 1955 gebo­ren in Baden-Würt­tem­berg, einst F.A.Z.-Korrespondent in Thü­rin­gen und Sach­sen, „Kenn­zei­chen D“-Moderator, bis 2016 MDR-Hör­funk­di­rek­tor – hat dies getan. Er schrei­tet Orte ab, Denk­bil­der und ‑tra­di­tio­nen in sei­nem Essay „Der Osten. Eine poli­ti­sche Him­mels­rich­tung“. Er fragt, was die­sen aus­macht, wo er liegt und was ihn vom Wes­ten unter­schei­det. Dabei wird klar, dass es den Osten nicht gibt, weni­ger aber, dass das auch für den Wes­ten gilt. Dar­über hin­aus ist das Buch eine Kla­ge gegen das Ver­ges­sen. Wer weiß noch vom pol­ni­schen Pie­mont? Von König­grätz oder Katyn? Nicht nur der Geo­gra­fie nach, sind das fer­ne Begrif­fe für vie­le west­lich der Oder, erst recht: der Elbe.

Den Sprung in die Markt­wirt­schaft deu­tet Möl­ler ambi­va­lent: als einen in ein Meer neu­er Mög­lich­kei­ten, zugleich aber als Iden­ti­täts­ver­lust. Doch wo etwas weg­bricht, wird ande­res sicht­bar, das ver­schüt­tet war. Der Osten sucht sein Gedächt­nis. Das gilt auch für jenen hier­zu­lan­de, der einst Deutsch­lands Mit­te war – ein Umstand, der aktu­ell viel zu kurz kom­me. Es geht aber auch um den viel­fäl­ti­gen, brei­ten Strei­fen, der sich ost­wärts anschließt: von der Ost­see bis ans Schwarz­meer. Beim Blick dar­auf wird deut­lich: Ungarn ist kei­ne lupen­rei­ne Demo­kra­tie, die pol­ni­sche Regie­rung ver­sucht die Gewal­ten­tei­lung zu schwä­chen. Das sind kei­ne Baga­tel­len. Wäh­rend aber im Wes­ten die „Nati­on“ als über­wun­den galt, tritt sie im Osten als ent­schei­den­des Iden­ti­fi­ka­ti­ons­ele­ment her­vor. Wor­an liegt das? Ist das ein Pro­blem? Wer alles flie­ßen sieht und Selbst­be­haup­tung aber­mals zur Dis­po­si­ti­on gestellt, ver­fällt in Frust, der kei­ne Ein­bahn­stra­ße bleibt.

Die „Ost­ler“ wol­len kein Anhäng­sel trans­na­tio­na­ler Struk­tu­ren sein, die in Brüs­sel, Ber­lin oder Paris bestimmt wer­den, kaum dass sie sich aus der Domi­nanz der Sowjet­uni­on befreit haben. Was ihnen im Wes­ten als rück­stän­dig aus­ge­legt wird, emp­fin­den die Ost­mit­tel­eu­ro­pä­er und mit ihnen vie­le Ost­deut­sche als Gebot der Stun­de – ange­sichts von Mas­sen­mi­gra­ti­on und öko­no­mi­scher Ent­gren­zung. Als gro­ßes „Hal­tet ein!“ Ob das rea­lis­tisch ist, wird sich zei­gen. Aber es ist. Weder Geschich­te noch Geschichts­bild wol­le man sich wei­ter vor­schrei­ben las­sen – wie über Jahrhunderte.

„Auch wenn es den west­li­chen Beob­ach­tern schwer­fällt zu glau­ben“, so Möl­ler, „der jugend­li­che Pro­test in Polen steht mehr­heit­lich rechts, und er rich­tet sich gegen ein libe­ra­les Estab­lish­ment, das von der Zuge­hö­rig­keit zu Euro­pa pro­fi­tiert“. Das mag man bedau­ern; am Befund ändert es nichts. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die EU hat 2004ff. kei­nen Grün­dungs­my­thos gelie­fert. Dabei war die Eupho­rie bis dahin im Osten gewal­tig. Der land­läu­fi­gen Deu­tung, dass über­stei­ger­tes Natio­nal­ge­fühl nun Hin­der­nis sei auf dem Weg zu euro­päi­scher Eini­gung, hält Möl­ler ent­ge­gen, es sei umge­kehrt: „Weil die Euro­päi­sche Uni­on in eine Glaub­wür­dig­keits­kri­se gera­ten ist, bekom­men die natio­na­len Bestre­bun­gen wie­der Auftrieb.“

Was, wenn sich bei­de Lager als Euro­pä­er ver­schie­de­nen „Rechts“ begrif­fen, die ein­an­der gel­ten lie­ßen? Was, wenn der Wes­ten erkann­te, dass der Osten sich nicht zufrie­den gibt mit der „Rol­le eines nach­ho­len­den Bei­tritts­ge­biets“? Mit dem Ziel einer abs­trak­ten euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­on ist bei Anhän­gern der kul­tu­ra­lis­ti­schen Les­art Euro­pas kein Blu­men­topf zu gewin­nen – spä­tes­tens seit 2015.

„Aus­ge­rech­net den Län­dern das euro­päi­sche Bewusst­sein strei­tig machen zu wol­len, die sich jahr­hun­der­te­lang als Boll­werk des Abend­lan­des ver­stan­den haben, als die berühm­te ante­mu­ra­le chris­tia­ni­ta­tis, die den Kon­ti­nent vor Inva­so­ren beschützt hat, zeugt von gro­ßer Unkennt­nis der Geschich­te Euro­pas“, schreibt Möl­ler. Sein Buch wirft mehr Fra­gen auf, als es beant­wor­tet. Das ist kei­ne Schwä­che, son­dern macht neu­gie­rig dar­auf, „den“ Osten zu erkun­den – auch wenn er anders ist.

Johann Micha­el Möl­ler: Der Osten. Eine poli­ti­sche Him­mels­rich­tung, Ver­lag Zu Klam­pen, Sprin­ge 2019, 248 Sei­ten, 22 Euro.

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