Auch Sachsen musste nach dem Zweiten Weltkrieg Gebiet abtreten. Das ist heute kaum mehr bekannt – ebenso wenig, dass davon die Kirchenstrukturen betroffen waren. Eine neue Studie ruft die Umstände in Erinnerung.
ZITTAU/DRESDEN. Tief hat sich der 22. Juni 1945 ins Gedächtnis der Bewohner des östlich der Lausitzer Neiße gelegenen „Zittauer Zipfels“ einst eingegraben. Ein polnischer Räumungsbefehl ließ ihnen seinerzeit keine andere Wahl, als Haus und Hof gen Westen zu verlassen. Nur wenige durften (zunächst) bleiben. Denn was kaum noch bekannt ist: Nicht nur Schlesier, Pommern, Ostbrandenburger und ‑preußen mussten ihre Heimat nach dem Weltkrieg aufgeben. Auch Sachsen trat im Zuge der von Stalin forcierten „Westverschiebung“ Polens Territorium ab.
Um 22 durch Textilindustrie und bis heute von Braunkohlenabbau geprägte, teils diesem mittlerweile zum Opfer gefallene Dörfer geht es, auf 144 Quadratkilometern mit rund 24.000 Einwohnern (Stand: 1939). Sie hatten zum Kreis Zittau gehört. „Meist wird das Gebiet … unter Schlesien subsummiert, was historisch falsch ist“, schreiben die Historiker Lars-Arne Dannenberg und Matthias Donath in ihrer Studie „‚Do hoan uns die Polen nausgetriebm‘. Vertreibung, Ankunft und Neuanfang im Kreis Zittau 1945–1950“. Zustande gekommen ist diese mit Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.
Die Autoren, die den Titel einem die Erlebnisse verarbeitenden Mundart-Gedicht entlehnten, werteten private und amtliche Korrespondenz, Dokumente, Erinnerungsberichte aus und interviewten Zeitzeugen, die vor allem beim Einmarsch der Roten Armee, aber auch darüber zeitlich hinausgehend von Plünderung, Suizid oder Vergewaltigung berichten. Bis um das Jahr 1960, kalkulieren sie anhand einer sogenannten Heimatortskartei, sei rund ein Drittel jener Vertriebenen in die (spätere) Bundesrepublik ausgewandert, die meisten in die SBZ/DDR, einige ins Ausland.
An jenem 22. Juni musste die Mehrzahl der Bürger des „Zipfels“, der sich an den heutigen Südosten des Freistaats Sachsen anschließt, auf und davon. Unter ihnen waren Tausende Katholiken, die rund 20 Prozent der Einwohnerschaft ausmachten – betreut von vier Priestern in vier Pfarreien: 1. Seitendorf mit Hirschfelde, Rosenthal, Dittelsdorf, 2. Grunau mit Reutnitz, Schönfeld, Trattlau, Wanscha, 3. Königshain und 4. Reichenau mit Lichtenberg, Markersdorf, Reibersdorf, Bad Oppelsdorf, Sommerau.
Bislang wurde die „katholische Frage“ für das Gebiet kaum gestellt. Dannenberg und Donath schließen mit einem ausführlichen Buchkapitel eine Forschungslücke – denn gerade die Geschichte einst ansässiger Katholiken bietet Zündstoff. Der Sprengel gehörte nicht zum Erzbistum Breslau. Zuständig war der Bischof von Meißen, Petrus Legge (1882 bis 1951), der in Bautzen residierte. Der auch von der katholischen Kirche Polens – voran Primas August Kardinal Hlond (1881 bis 1948) – früh und massiv betriebenen Polonisierung der einstigen deutschen Gebiete fehlten so für die katholischen Strukturen die kirchenrechtlichen Mittel. Lutherische und unierte Liegenschaften und Gliederungen gingen an die Evangelisch-Augsburgische Kirche inPolen über.
Der von Hlond für Breslau eingesetzte Administrator Karol Milik (1892 bis 1976) – Erzbischof Adolf Kardinal Bertram war im Juli 1945 gestorben – konnte aber für die katholischen Gliederungen „keine Jurisdiktionsrechte ausüben. Nach … Kirchenrecht war es allein Angelegenheit des Bischofs von Meißen …, … Priester abzuberufen oder einzusetzen“, so Dannenberg und Donath. Kardinal Hlond erwirkte unter Berufung auf vermeintliche Sondervollmachten des Papstes – dass diese für deutsche Diözesen nicht galten, stellte sich für die Deutschen erst später heraus –, dass die Bischöfe von Ermland (damaliger Sitz: Frauenburg) und Danzig ihre Bistümer verließen bzw. ihre Amtsgewalt auf von Polen beanspruchtem Gebiet nicht mehr ausübten. Neue Administratoren konnten nun kirchenrechtskonform deutsche Pfarrer durch polnische ersetzen.
Konflikte waren an der Tagesordnung, auch im „Zipfel“, auf den die polnischen Kirchenstellen noch keinen Zugriff hatten: Denn obwohl die meisten Deutschen früh vertrieben worden waren, auch vorübergehend zwei katholische Pfarrer, blieb die Struktur weithin unangetastet. Doch keiner der deutschen Priester sprach Polnisch, um die Neuankömmlinge zu betreuen, die meist aus den vormaligen polnischen Ostgebieten kamen. Diese wehrten sich vielfach gegen deutsche Priester, die schikaniert wurden. Das Bistum Meißen entsandte darum den Muttersprachler und Jesuitenpater Paul Banaschik 1946 nach Grunau. „[D]urch die seelsorgliche Beeinflussung [legte sich] der Hass“, hielt daraufhin Ordinariatsrat Johann Hötzel in Bautzen fest. Als aber in Reichenau der polnische Jesuit Piotr Mrówka eintraf – vom Jesuiten-Provinzial in Krakau entsandt, um Religionsunterricht zu erteilen – nahmen die Spannungen zu. Mrówka, der mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, „demütigte … seinen Amtsbruder [Franz Schwarzbach], rief … die Polizei, weil Schwarzbach angeblich staatsfeindliche Handlungen begehe“, so die Autoren. Der Pfarrer wurde ausgewiesen.
Als Pater Banaschik 1948 nach Krakau abreiste und die Jesuiten keinen Ersatz schickten, war die Versorgung der polnischen Katholiken gefährdet. Im November traf stattdessen ein Schreiben aus der Breslauer Administratur in Bautzen ein, in dem vorgeschlagen wurde, die Gebiete unter polnische Kirchenverwaltung zu stellen. „Dieser Druck, dazu die Verpflichtung, die Seelsorge für die polnischen Katholiken sicherzustellen, und das Wissen um eine weitgehende Aussiedlung der deutschen Katholiken führten zu dem Entschluss“, so die Historiker, im Januar 1949 „die Jurisdiktion … an Karol Milik abzutreten.“
Damit endete de facto die Zugehörigkeit der Pfarreien zum Bistum Meißen. Doch erst 1972, mit der Konstitution „Episcoporum Poloniae coetus“, ordnete Papst Paul VI. die Bistumsgrenzen in Polen neu und passte sie den völkerrechtlichen an. Das Meißnische Gebiet östlich der Neiße gelangte zum Erzbistum Breslau. In den ehemaligen deutschen Ostgebieten wurden fünf Diözesen errichtet: Gorzów (Landsberg an der Warthe), Szczecin-Kamień (Stettin-Cammin), Koszalin-Kołobrzeg (Köslin-Kolberg), Opole (Oppeln), Warmia (Ermland). Aus den westlich der Oder-Neiße-Linie liegenden Gebieten des Erzbistums Breslau um Görlitz und Cottbus ging eine Apostolische Administratur hervor, seit 1994 Bistum Görlitz.
Lars-Arne Dannenberg/Matthias Donath: „Do hoan uns die Polen nausgetriebm“. Vertreibung, Ankunft und Neuanfang im Kreis Zittau 1945–1950, Via-Regia-Verlag, Königsbrück 2020, 268 Seiten, 19,90 Euro.