Der frühere CSU-Politiker und Politikwissenschaftler Hans Maier hat in der Bergakademie Freiberg an einen ihrer bedeutendsten Studenten erinnert: den Dichter Novalis, dessen 250. Geburtstag ansteht. Nur drei Dutzend Zuhörer waren gekommen.
FREIBERG. Was würde Novalis, der vor rund 220 Jahren an der Bergakademie studiert hat, Europa heute ins Stammbuch schreiben? Das fragte der Politikwissenschaftler Hans Maier, der zu den bedeutendsten deutschen Intellektuellen seiner Generation zählt, am Montagabend im Schlossplatzquartier beim Novalisforum der Katholischen Akademie. Wäre dieser, so Maier, auch heute so spontan, kühn, unberechenbar, anstößig wie zu Lebzeiten? Könnte der Naturwissenschaftler und Poet, der eigentlich Friedrich von Hardenberg (1772–1801) hieß und zu den namhaftesten Vertretern der Frühromantik zählte, darüber hinwegsehen, „dass das Christentum in Europa in vielen Ländern in die Minderheit geraten ist“? Würde ihn dies herausfordern? „Die Meinung von der Negativität des Christentums ist vortrefflich“, notierte Novalis zehn Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution provozierend in einer religionskritischen Gemengelage. Im Widerspruch zu großen Kreisen seiner und unserer Zeit sah er das Christentum auf dem Weg zur Grundlage „eines lebendigen moralischen Raums“, erinnerte Maier.
Darüber mag streiten, wer in einer Region lebt, in der weniger als ein Viertel der Bürger einer Kirche angehört. Der Relevanz des Themas ist damit in einer Zeit andauernder beträchtlicher Migration nichts genommen. In großer Anzahl gelangen Menschen aus der Ukraine und seit Jahren etwa aus Nordafrika auch nach Sachsen, mit ihren Prägungen.
Fragen, so ließe sich die Diskussion zwischen Maier und dem einstigen Akademie-Gründungsdirektor Joachim Klose zusammenfassen, sind auch dann zu stellen, wenn man sie nicht an sich richtet, sondern andere sie aufwerfen. Novalis hat die Debatte über die Rolle der Religion geführt, im Christentum und dessen Werten Tragendes für seine Zeit gesehen – und ebenfalls in einer Phase großer Gewalttätigkeit gelebt, so Maier.
„Es wird solange Blut über Europa strömen“, zitierte dieser den Romantiker mit bemerkenswerter Aktualität, „bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt.“ Das noch heute in diesem Zusammenhang viel beachtete Manifest „Die Christenheit oder Europa“ entstand 1799. Europa war geistig und politisch zerbrochen, Goethes Begegnung mit Napoleon in Erfurt habe nicht darüber hinwegtäuschen können. Der Nationalismus habe sich durchgesetzt. Was trägt unter diesen Umständen?, lautete eine Frage des Abends. „Europa – geeint durch Religion?“, so war das Abendmotto angekündigt. Davon kann derzeit keine Rede sein; was die Zukunft bringt, ist indes offen.
Novalis hat die Hände nicht in den Schoß gelegt, die Verantwortlichen der Akademie auch nicht, als sie 2002 das Forum ins Leben riefen. Dass nur knapp drei Dutzend Interessierte der Vortragseinladung gefolgt waren, wirft jedoch Fragen auf. Absicht zur Gründung vor zwanzig Jahren war es laut einer Ankündigung, eine „aktive Gesprächskultur“ an einem Universitätsstandort zu pflegen, dem eine geisteswissenschaftliche Fakultät fehlt. Novalis als Namensgeber zu wählen, kann auch durch dessen Bezüge zu Freiberg als glücklich gelten, entdeckte er doch während der Studien von Bergwerkskunde, Mathematik und Chemie seine dichterische Ader und wählte hier sein Pseudonym. Dass die Resonanz auf einen zur abendländischen Kulturgeschichte selten kundigen Referenten, der andernorts Hunderte Zuhörer anzieht, auch in Coronazeiten derart gering ausgefallen ist, obwohl Charakter und Zukunft des „Abendlandes“ auch in Freiberg seit Jahren Gegenstand oft hitziger Debatten sind, stimmt dennoch nachdenklich.
Hans Maier wurde 1931 in Freiburg/Breisgau geboren, studierte in seiner Geburtsstadt, in München und Paris Geschichte, Germanistik, Romanistik, Philosophie. Seit 1962 war er Professor für politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut in München, von 1970 bis 1986 bayerischer Kultusminister. Er schied im Streit mit Ministerpräsident Franz-Josef Strauß aus dem Amte. Später lehrte er Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie auf dem Romano-Guardini-Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität und war Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Der verheiratete Vater von sechs Töchtern ist passionierter Organist, lebt in München und hält zahlreiche Würden und Ehren aus dem In- und Ausland. Im Jahre 2011 legte er seine Autobiographie „Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff.“ im Verlag C.H. Beck, München, vor.