DRESDEN. Im Herbst des Jahres 1990, noch vor der Deutschen Wiedervereinigung, war es so weit: Claus Kunze konnte im Dresdener Stadtteil Loschwitz sein Antiquariat eröffnen. Endlich! Endlich deshalb, hatte er doch jahrelang immer wieder vergeblich beim Rat der Stadt, Abteilung Handel und Versorgung, einen Gewerbeschein beantragt. „Man wollte in der DDR keine private Konkurrenz für die in der Mehrzahl staatlich organisierten Betriebe; das war im Volksbuchhandel so wie anderswo“, sagt Kunze in der Rückschau. Am 6. November ist das Urgestein der Branche an der Oberelbe 75 Jahre alt geworden.
In den vier übersichtlich eingerichteten Räumen an der Pillnitzer Landstraße 18 führt der gebürtige Löbauer sein auf Belletristik, Kunst‑, Literatur‑, allgemeine Geschichte sowie Saxonica und Graphik spezialisiertes Geschäft seit dem Jahr 1996. Wer es betritt, trifft auf einen gastfreundlichen, wissbegierigen und über Geschichte und Kultur der Stadt selten kundigen Inhaber, mit dem sich – auch dank seiner umfassenden Handbibliothek – eintauchen lässt in die Welt der Bücher, ihre Herstellung und die Autoren. Zielsicher zieht er schließlich und ohne Computerhilfe aus seinem, sich nach wie vor entwickelndem Sortiment Passendes.
Bis zum Bezug des Ladens befand sich der Verkaufsraum wenige Häuser stadteinwärts, im Pfarramt der lutherischen Kirchgemeinde. Die ersten sechs Monate Selbstständigkeit meisterte er gar in der Wohnung seines Fünf-Personen-Haushaltes, zu dem eine seinerzeit bald hundertjährige ostpreußische Tante gehörte.
Während er die 30-Jahr-Feier seines Antiquariats vor zwei Jahren mit Stammkunden ausgiebig feierte, ließ er es zum Geburtstag hier still angehen. Für einen Plausch zum Pfeifchen ist dennoch Zeit, zu dem er gern in seinem offenen Büro mit Stehpult und zwei Sitzgelegenheiten bittet. Einen Schreibtisch hingegen sucht man vergeblich.
Zum eigenen Laden kam Kunze, der seine Kindheit in Bautzen verbrachte, auf Umwegen. Am Anfang stand eine Lehre zum Kraftfahrzeugschlosser. Immerhin zehn Jahre arbeitete er in dem ihm nicht sonderlich lieben Beruf, bevor er, durch Freunde und Bekannte angeregt, in den Kunstsalon am Dresdner Altmarkt wechseln konnte. Nicht nur Kunst und Bücher standen in der DDR hoch im Kurs. Vor dem Kaufhaus in der Nähe erlebte er regelmäßig lange Kundenschlangen, dazu mitunter schweres Gerangel, das von der Polizei wenig zimperlich geordnet wurde, etwa wenn prominente westliche Musiker eine neue Schallplatte auf den Markt brachten und die Nachfrage das Angebot weit überstieg. Das Ringen um in der DDR kontingentierte Ware offenbarte lange vor dem Untergang des Staates Mangelwirtschaft und Verfall.
Kunze gelang 1980 der Wechsel ins staatlich verwaltete Dresdener Antiquariat, damals ansässig an der Bautzner Straße 27. Er absolvierte eine Ausbildung zum Buchhändler, „eine wunderbare Lehrzeit“. Auch hier zeigten sich indes die Konsequenzen der politisch-ökonomischen Umstände: „Im volkseigenen Antiquariat“, schilderte er sie 1990 zur Geschäftseröffnung in einer Lokalzeitung, „waren vor allem Exportpläne zu erfüllen. Die Bücher wurden zuerst in Übersee angeboten, dann in Westeuropa, zuletzt im Inland.“ Ausverkauf – Raritäten schwanden nach und nach aus heimischen Regalen, nur weniges gelangte von außen herein. Dennoch schätzte er seine Arbeit (inbegriffen zahllose Lese‑, Kultur- und Kunsterlebnisse) und seinen Chef Wolfgang Lange.
Als dieser aus dem Haus gedrängt worden war, begann Kunze nach einer Alternative zu suchen. Er kündigte 1985 und ging in eine der wenigen Nischen, die sich boten: in den Kirchlichen Kunstverlag in Dresden-Blasewitz. „Botengänger war ich nun, Kraftfahrer, Mädchen für alles“, sagt Kunze, „und ich habe darauf gewartet, dass Schluss ist.“ Mit der DDR. Als der Unmut anschwoll, nahm auch er mit seiner Frau an den Demonstrationen vom Herbst 1989 teil, während die Tante zu Hause die Kinder hütete. Später war er in Dresden ehrenamtlich in einem Verein an der Auflösung der Stasi beteiligt.
Es waren wichtige, bewegende Jahre. Die politische Öffnung, die sie brachten, bescherten ihm innert weniger Tage den ersehnten Gewerbeschein. Vom Elbhang gelangten in den Neunzigern unzählige Privatbibliotheken auf den Markt; die Kundschaft freute es. Kunze war in den mehr als 32 Jahren vielleicht an fünf Tagen krank, sagt er und: „Ich mache weiter, solange ich kann.“
Kommt er auf seine Lieblinge der österreichischen Literatur zu sprechen, allen voran Joseph Roth, leuchten seine Augen wie die eines Kindes. Das Herz des Bibliophilen schlägt; Woche für Woche steht er in seinem Laden. Ad multos annos! (zusammen mit Udo Geithner)