Mehr als der Ort einer einst berüchtigten Haftanstalt

Baut­zen – so, wie es sich selbst gern sieht: von der Friedens‑, vor­mals Kron­prin­zen­brü­cke. Foto: Micha­el Kunze

Ein Gewirr von Gie­beln, Tür­men, Zin­nen: Wer Baut­zens Schön­heit und Viel­falt zu erspü­ren sucht, soll­te sich Zeit neh­men für die über der Spree sich erhe­ben­de, weit­hin baro­cke Alt­stadt auf mit­tel­al­ter­li­chem Grundriss.

BAUTZEN. Nur weni­ge ahnen, dass sich in Baut­zen weit mehr auf­tun lässt als die wich­ti­ge Gedenk­stät­te der einst berüch­tig­ten DDR-Haft­an­stalt. Wäh­rend Gör­litz längst scha­ren­wei­se Gäs­te anlockt, gilt die Stadt an der Spree als Geheim­tipp. Doch das Gewirr der Gie­bel, Tür­me, Zin­nen, das sich uns, auf der Auto­bahn 4 gen Osten fah­rend, von einer Anhö­he vor der Stadt bie­tet, taugt auch für einen zwei­ten oder drit­ten Abste­cher. Spä­tes­tens beim Blick auf die mit­tel­al­ter­lich geglie­der­te, nach einem Stadt­brand barock über­bau­te Sil­hou­et­te wird deut­lich: Mit einem Auf­ent­halt von ein, zwei Stun­den ist nichts aus­zu­rich­ten. Budis­sin – ober­sor­bisch: Budyšin –, so lau­te­te noch bis vor 155 Jah­ren der amt­li­che Name der Stadt, der im Geist der Zeit „ver­deutscht“ wur­de, aber als „Baut­zen“ seit 1523 bezeugt ist, Budis­sin for­dert mehr Beachtung.

Wer von der Auto­bahn abfährt, strebt der Spree ent­ge­gen, die sich durch den letz­ten Gra­ni­trie­gel zwängt, der den Fluss von der nord­deut­schen Tief­ebe­ne trennt. Die so ent­stan­de­nen Fels­spor­ne und Steil­ufer bürg­ten für Schutz, schrieb Oskar Kau­bisch 1926 über die Stadt; heu­te ver­sprü­hen sie land­schaft­li­che Reize.

Die Viel­be­türm­te errei­chen wir über die Bögen der Friedens‑, einst: Kron­prin­zen­brü­cke. Zu unserm Bedau­ern fließt der Ver­kehr an der Ampel dahin­ter rasch ab. Denn schon vom Auto aus wird ein Teil des Gesamt­kunst­werks sicht­bar, ragen einen Stein­wurf ent­fernt auf am Spree­ufer: nach Nor­den die Alte Was­ser­kunst (1558), nach Süd­os­ten die Neue (1606/1721). Bei­de waren Teil der Wehr­an­la­gen, ver­sorg­ten die Stadt dank Schöpf­sys­te­men mit Trink- und Lösch­was­ser. Nach Nord­os­ten folgt mit der Michae­lis­kir­che die Gebets­stät­te der rar gewor­de­nen luthe­ri­schen Sor­ben. „Mit der Refor­ma­ti­on“, so ein Falt­blatt des eins­ti­gen Super­in­ten­den­ten, „wur­de das sor­bi­sche Volk bis auf eini­ge Gemein­den bei Kamenz und Baut­zen pro­tes­tan­tisch.“ Heu­te ist das Ver­hält­nis ein ande­res: Der Anteil der Katho­li­ken unter den Sor­ben in den Lau­sit­zen wird auf zwei Drit­tel geschätzt. Wer sich für ihre Geschich­te, Kul­tur, Kunst, ihr Brauch­tum inter­es­siert, möge einen Besuch des auf dem Gelän­de der Orten­burg gele­ge­nen Muse­ums einplanen.

Der Blick schweift zu ihr, einst Sitz der böh­mi­schen, ab 1635 kur­säch­si­schen Land­vög­te, heu­te Säch­si­sches Ober­ver­wal­tungs­ge­richt. Die Besich­ti­gung der im Frei­staat ein­ma­li­gen Pracht­s­tuck­de­cke des Audi­enz­saals (17. Jh.) mit anspruchs­vol­lem Bild­pro­gramm bleibt so ein Wunsch; doch im Inter­net sind leicht Fotos aufzuspüren.

Die Auto­schlan­ge nimmt Fahrt auf. Das Auge eilt gen Nord­os­ten, macht den an die Rui­nen der Fran­zis­ka­ner­kir­che geschmieg­ten Was­ser­turm aus. Es fol­gen drei wei­te­re Tür­me: der des Domes, dem nie der geplan­te Zwil­ling zuge­sellt wur­de; tie­fer gele­gen, schlan­ker pflanzt sich der des Rat­hau­ses auf und schließ­lich, nah bei der Ampel­kreu­zung: der mäch­ti­ge, ecki­ge Lauenturm.

Für die­se Schau blei­ben, je nach Län­ge der Blech­la­wi­ne, Sekun­den oder Minu­ten. Wer es geruh­sa­mer schätzt, stellt den Wagen im Park­haus einer Ein­kaufs­pas­sa­ge bei der Kreu­zung ab und geht weni­ge Schrit­te zurück auf die Brü­cke, dann in die nahe Alt­stadt. Oder man steu­ert das Gefährt wie wir zwi­schen das Rat­haus mit den drei zum Haupt­markt wei­sen­den Uhren und den Dom auf den Fleischmarkt.

Blick vom Haupt­markt auf das Rat­haus mit den drei über­ein­an­der ange­ord­ne­ten Uhren, vorn der Rit­ter-Dutsch­mann-Brun­nen. Foto: Micha­el Kunze

St. Petri war ledig­lich von 1921 bis 1980 Dom­kir­che, die ver­mut­lich ein­zi­ge, je in einem Simul­ta­ne­um unter­ge­brach­te, zumal dem ältes­ten. Seit­her dient der Bau mit nach Süden wei­ten, viel Licht ins Inne­re las­sen­den Fens­tern als Kon­ka­the­dra­le des Bischofs von Dres­den-Mei­ßen. Die Katho­li­ken hal­ten den Chor, die Luthe­ra­ner seit 1524 das Lang­haus. Sie ver­wal­ten die Kir­che gemein­sam, deren katho­li­schen Teil Papst Bene­dikt XV. zur Kathe­dra­le des wie­der­errich­te­ten, in der Refor­ma­ti­on unter­ge­gan­ge­nen Bis­tums Mei­ßen bestimm­te. Dar­in wur­de Johann Lei­sen­trit bei­gesetzt, des­sen Rele­vanz für die Wah­rung des katho­li­schen Glau­bens im heu­ti­gen Osten Sach­sens wie als Ver­mitt­ler zwi­schen den Kon­fes­sio­nen nicht zu über­schät­zen sein dürf­te. Oben­drein trat er 1567 mit einem Gesang­buch her­vor, das als umfang­reichs­tes und schöns­tes der Gegen­re­for­ma­ti­on in Deutsch­land gel­ten kann. Man beach­te das Kru­zi­fix nahe dem Hoch­al­tar; es stammt von Bal­tha­sar Permoser.

Nach Ver­las­sen der Kir­che umrun­den wir den Turm und ste­hen schon vor dem präch­tig sanier­ten, baro­cken Dom­stift. Bis zum Umzug nach Dres­den und der Erhe­bung der ehe­ma­li­gen Wet­ti­ner-Hof­kir­che zur Kathe­dra­le saß hier der Bischof.

Wir wol­len in die kaum bekann­te Dom­schatz­kam­mer, die für ein Dia­spo­r­a­bi­s­tum mit bemer­kens­wer­ten Pre­zio­sen auf­war­tet – wenn die Öff­nungs­zei­ten es zulas­sen, die man vor­ab stu­die­ren soll­te. Beim uns wich­tigs­ten Stück der Samm­lung von lit­ur­gi­schen Gerä­ten, Gefä­ßen, Tex­ti­li­en, Skulp­tu­ren, Büchern, Devo­tio­na­li­en, Glas­ar­bei­ten han­delt es sich um das ältes­te: einen Tragal­tar, des­sen Mit­tel­stück, eine Kreu­zi­gungs­grup­pe, um das Jahr 1220 in Limo­ger Email­tech­nik gefer­tigt wurde.

Nach der See­len­rast in Dom und Stift sol­che des Lei­bes: im vor­züg­lich geführ­ten Café „Goli­ath“ an der Gro­ßen Brü­der­gas­se. Über einen Gang durch die Häu­ser­front, die dem Dom­turm gegen­über­liegt, ist es flugs erreicht. Wir bestel­len ein Heiß­ge­tränk aus der Sieb­druck­ma­schi­ne, dazu boden­lo­se Eier­sche­cke und sto­ßen spä­ter zur Schloß­stra­ße. Bei einem frü­he­ren Besuch haben wir vom Senf-Gast­haus die weni­gen Schrit­te zum etwas abschüs­sig ste­hen­den Nico­la­i­turm zurück­ge­legt. Der Fried­hof dahin­ter mit der seit dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg rui­nier­ten Kir­che liegt male­risch, ist Ruhe­stät­te vie­ler Geist­li­cher, auch eini­ger Bischö­fe. Wir bege­ben uns auf der Schloß­stra­ße zum Mat­thi­as­turm; tief­rot schließt er gen Him­mel ab und trägt den Namen des Ungarn­kö­nigs Mat­thi­as Cor­vi­nus. Der Rabe erlang­te im Mit­tel­al­ter die Herr­schaft über die Ober­lau­sitz. Nach sei­nem Tod fiel sie an Böh­men zurück. Sein Denk­mal an der Fas­sa­de von 1486, in Ungarn ohne Bei­spiel, zählt zu den wich­tigs­ten Herr­scher­bild­nis­sen der Spät­go­tik Mit­tel­eu­ro­pas, schrieb der Kunst­his­to­ri­ker Kai Wenzel.

Blick von der Inne­ren Lau­en­stra­ße gen Lau­en­turm am Süd­rand der Alt­stadt. Des­sen Name rührt vom böh­mi­schen Wap­pen­tier her: einem Löwen (poe­tisch: Leu). Wer die Stadt gen Böh­men ver­ließ, hat­te das einst beim Turm befind­li­che, gleich­na­mi­ge Tor zu pas­sie­ren. Foto: Micha­el Kunze

Auf der Süd­sei­te des Burg­are­als, das wir durch das Tor des Tur­mes betre­ten, sto­ßen wir neben dem Sor­bi­schen Muse­um auf eine im Volks­mund als Riet­schel­gie­bel bekann­te Figu­ren­grup­pe. Die­se Sehens­wür­dig­keit ers­ten Ran­ges, die „Alle­go­rie der Tra­gö­die“, schaut auf uns her­ab nur aus gerin­ger Über­hö­he, hin­ter Glas, im 2003 errich­te­ten Neu­bau des Burg­thea­ters, anders als am eins­ti­gen Dresd­ner Auf­stel­lungs­ort. Der Meis­ter des Wei­ma­rer Goe­the-Schil­ler- und des Worm­ser Luther­denk­mals, Ernst Riet­schel, hat­te sie 1840 für einen Gie­bel der ers­ten, abge­brann­ten Sem­per­oper Dres­dens geschaf­fen. Die hin­ter den Figu­ren lie­gen­de Ket­te von Fügun­gen und die Grün­de für den Umzug nach Baut­zen reka­pi­tu­lier­te das Stadt­mu­se­um zu des Künst­lers 200. Geburtstag.

Ein Besuch des Hau­ses am Korn­markt erfor­dert Zeit. Über den süd­li­chen Burg­aus­gang erreicht es nach 20 Minu­ten, wer nicht von der Hering­stra­ße die Trep­pen zu Michae­lis­kir­che und Alter Was­ser­kunst hin­ab­steigt: von der dor­ti­gen Aus­sichts­ter­ras­se der bes­te Spree­blick. Vor uns aber liegt die Kunst: Die Samm­lung birgt gro­ße Namen – Wer­ke von Cra­nach dem Älte­ren, Carus, Lie­ber­mann, Sle­vogt, Sterl, Dix, Carl Lohse.

Wer Luft hat, besteigt andern­tags den Rei­chen­turm, begibt sich auf Peter Bamms Spu­ren, sucht den Tau­cher­fried­hof – oder die Vil­la Wei­gang. „Ja, das ist ein Bau!“, schrieb 1903 zwei Wochen nach Fer­tig­stel­lung ein Rezen­sent über 600 Qua­drat­me­ter Jugend­stil, das Stadt­pa­lais eines 26-Jäh­ri­gen. Wir jedoch, aus dem Muse­um her­aus, pas­sie­ren den Rei­chen­turm, bli­cken auf den Wen­di­schen, den Gott­fried Sem­per geret­tet hat, und bie­gen zum Abend­essen in die gleich­na­mi­ge Gas­se ein gen Dom. An deren Ende ver­ab­schie­det sich die klei­ne Schar ins sor­bi­sche Restau­rant „Wjel­bik“ (Gewöl­be) zum „Hoch­zeits­es­sen“.

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Ein Gedanke zu „Mehr als der Ort einer einst berüchtigten Haftanstalt

  1. Ein schö­ner Bei­trag zu Bautzen.
    Wer noch etwas mehr Zeit hat und sich schon im Bereich der Orten­burg befin­det, kann auch einen kur­zen Schwenk zur spät­go­ti­schen Nico­la­i­kirch-Rui­ne machen. Von die­sem Ruhe­pol gibt es einen schö­nen Blick ins Spreetal.
    Auf der „ande­ren Sei­te“ des Zen­trums, den Korn­markt in Rich­tung Post­amt am Post­platz ver­las­sen, war­ten ein stil­les High­light. Das dor­ti­ge Glas­bild „Die Post im Wan­del der Jahr­hun­der­te“ ist wei­test­ge­hend unbe­kannt, aber ein sehr schö­nes Bei­spiel für unter­halt­sa­me und bil­den­de Kunst am Bau.

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