Ein Gewirr von Giebeln, Türmen, Zinnen: Wer Bautzens Schönheit und Vielfalt zu erspüren sucht, sollte sich Zeit nehmen für die über der Spree sich erhebende, weithin barocke Altstadt auf mittelalterlichem Grundriss.
BAUTZEN. Nur wenige ahnen, dass sich in Bautzen weit mehr auftun lässt als die wichtige Gedenkstätte der einst berüchtigten DDR-Haftanstalt. Während Görlitz längst scharenweise Gäste anlockt, gilt die Stadt an der Spree als Geheimtipp. Doch das Gewirr der Giebel, Türme, Zinnen, das sich uns, auf der Autobahn 4 gen Osten fahrend, von einer Anhöhe vor der Stadt bietet, taugt auch für einen zweiten oder dritten Abstecher. Spätestens beim Blick auf die mittelalterlich gegliederte, nach einem Stadtbrand barock überbaute Silhouette wird deutlich: Mit einem Aufenthalt von ein, zwei Stunden ist nichts auszurichten. Budissin – obersorbisch: Budyšin –, so lautete noch bis vor 155 Jahren der amtliche Name der Stadt, der im Geist der Zeit „verdeutscht“ wurde, aber als „Bautzen“ seit 1523 bezeugt ist, Budissin fordert mehr Beachtung.
Wer von der Autobahn abfährt, strebt der Spree entgegen, die sich durch den letzten Granitriegel zwängt, der den Fluss von der norddeutschen Tiefebene trennt. Die so entstandenen Felssporne und Steilufer bürgten für Schutz, schrieb Oskar Kaubisch 1926 über die Stadt; heute versprühen sie landschaftliche Reize.
Die Vielbetürmte erreichen wir über die Bögen der Friedens‑, einst: Kronprinzenbrücke. Zu unserm Bedauern fließt der Verkehr an der Ampel dahinter rasch ab. Denn schon vom Auto aus wird ein Teil des Gesamtkunstwerks sichtbar, ragen einen Steinwurf entfernt auf am Spreeufer: nach Norden die Alte Wasserkunst (1558), nach Südosten die Neue (1606/1721). Beide waren Teil der Wehranlagen, versorgten die Stadt dank Schöpfsystemen mit Trink- und Löschwasser. Nach Nordosten folgt mit der Michaeliskirche die Gebetsstätte der rar gewordenen lutherischen Sorben. „Mit der Reformation“, so ein Faltblatt des einstigen Superintendenten, „wurde das sorbische Volk bis auf einige Gemeinden bei Kamenz und Bautzen protestantisch.“ Heute ist das Verhältnis ein anderes: Der Anteil der Katholiken unter den Sorben in den Lausitzen wird auf zwei Drittel geschätzt. Wer sich für ihre Geschichte, Kultur, Kunst, ihr Brauchtum interessiert, möge einen Besuch des auf dem Gelände der Ortenburg gelegenen Museums einplanen.
Der Blick schweift zu ihr, einst Sitz der böhmischen, ab 1635 kursächsischen Landvögte, heute Sächsisches Oberverwaltungsgericht. Die Besichtigung der im Freistaat einmaligen Prachtstuckdecke des Audienzsaals (17. Jh.) mit anspruchsvollem Bildprogramm bleibt so ein Wunsch; doch im Internet sind leicht Fotos aufzuspüren.
Die Autoschlange nimmt Fahrt auf. Das Auge eilt gen Nordosten, macht den an die Ruinen der Franziskanerkirche geschmiegten Wasserturm aus. Es folgen drei weitere Türme: der des Domes, dem nie der geplante Zwilling zugesellt wurde; tiefer gelegen, schlanker pflanzt sich der des Rathauses auf und schließlich, nah bei der Ampelkreuzung: der mächtige, eckige Lauenturm.
Für diese Schau bleiben, je nach Länge der Blechlawine, Sekunden oder Minuten. Wer es geruhsamer schätzt, stellt den Wagen im Parkhaus einer Einkaufspassage bei der Kreuzung ab und geht wenige Schritte zurück auf die Brücke, dann in die nahe Altstadt. Oder man steuert das Gefährt wie wir zwischen das Rathaus mit den drei zum Hauptmarkt weisenden Uhren und den Dom auf den Fleischmarkt.
St. Petri war lediglich von 1921 bis 1980 Domkirche, die vermutlich einzige, je in einem Simultaneum untergebrachte, zumal dem ältesten. Seither dient der Bau mit nach Süden weiten, viel Licht ins Innere lassenden Fenstern als Konkathedrale des Bischofs von Dresden-Meißen. Die Katholiken halten den Chor, die Lutheraner seit 1524 das Langhaus. Sie verwalten die Kirche gemeinsam, deren katholischen Teil Papst Benedikt XV. zur Kathedrale des wiedererrichteten, in der Reformation untergegangenen Bistums Meißen bestimmte. Darin wurde Johann Leisentrit beigesetzt, dessen Relevanz für die Wahrung des katholischen Glaubens im heutigen Osten Sachsens wie als Vermittler zwischen den Konfessionen nicht zu überschätzen sein dürfte. Obendrein trat er 1567 mit einem Gesangbuch hervor, das als umfangreichstes und schönstes der Gegenreformation in Deutschland gelten kann. Man beachte das Kruzifix nahe dem Hochaltar; es stammt von Balthasar Permoser.
Nach Verlassen der Kirche umrunden wir den Turm und stehen schon vor dem prächtig sanierten, barocken Domstift. Bis zum Umzug nach Dresden und der Erhebung der ehemaligen Wettiner-Hofkirche zur Kathedrale saß hier der Bischof.
Wir wollen in die kaum bekannte Domschatzkammer, die für ein Diasporabistum mit bemerkenswerten Preziosen aufwartet – wenn die Öffnungszeiten es zulassen, die man vorab studieren sollte. Beim uns wichtigsten Stück der Sammlung von liturgischen Geräten, Gefäßen, Textilien, Skulpturen, Büchern, Devotionalien, Glasarbeiten handelt es sich um das älteste: einen Tragaltar, dessen Mittelstück, eine Kreuzigungsgruppe, um das Jahr 1220 in Limoger Emailtechnik gefertigt wurde.
Nach der Seelenrast in Dom und Stift solche des Leibes: im vorzüglich geführten Café „Goliath“ an der Großen Brüdergasse. Über einen Gang durch die Häuserfront, die dem Domturm gegenüberliegt, ist es flugs erreicht. Wir bestellen ein Heißgetränk aus der Siebdruckmaschine, dazu bodenlose Eierschecke und stoßen später zur Schloßstraße. Bei einem früheren Besuch haben wir vom Senf-Gasthaus die wenigen Schritte zum etwas abschüssig stehenden Nicolaiturm zurückgelegt. Der Friedhof dahinter mit der seit dem Dreißigjährigen Krieg ruinierten Kirche liegt malerisch, ist Ruhestätte vieler Geistlicher, auch einiger Bischöfe. Wir begeben uns auf der Schloßstraße zum Matthiasturm; tiefrot schließt er gen Himmel ab und trägt den Namen des Ungarnkönigs Matthias Corvinus. Der Rabe erlangte im Mittelalter die Herrschaft über die Oberlausitz. Nach seinem Tod fiel sie an Böhmen zurück. Sein Denkmal an der Fassade von 1486, in Ungarn ohne Beispiel, zählt zu den wichtigsten Herrscherbildnissen der Spätgotik Mitteleuropas, schrieb der Kunsthistoriker Kai Wenzel.
Auf der Südseite des Burgareals, das wir durch das Tor des Turmes betreten, stoßen wir neben dem Sorbischen Museum auf eine im Volksmund als Rietschelgiebel bekannte Figurengruppe. Diese Sehenswürdigkeit ersten Ranges, die „Allegorie der Tragödie“, schaut auf uns herab nur aus geringer Überhöhe, hinter Glas, im 2003 errichteten Neubau des Burgtheaters, anders als am einstigen Dresdner Aufstellungsort. Der Meister des Weimarer Goethe-Schiller- und des Wormser Lutherdenkmals, Ernst Rietschel, hatte sie 1840 für einen Giebel der ersten, abgebrannten Semperoper Dresdens geschaffen. Die hinter den Figuren liegende Kette von Fügungen und die Gründe für den Umzug nach Bautzen rekapitulierte das Stadtmuseum zu des Künstlers 200. Geburtstag.
Ein Besuch des Hauses am Kornmarkt erfordert Zeit. Über den südlichen Burgausgang erreicht es nach 20 Minuten, wer nicht von der Heringstraße die Treppen zu Michaeliskirche und Alter Wasserkunst hinabsteigt: von der dortigen Aussichtsterrasse der beste Spreeblick. Vor uns aber liegt die Kunst: Die Sammlung birgt große Namen – Werke von Cranach dem Älteren, Carus, Liebermann, Slevogt, Sterl, Dix, Carl Lohse.
Wer Luft hat, besteigt anderntags den Reichenturm, begibt sich auf Peter Bamms Spuren, sucht den Taucherfriedhof – oder die Villa Weigang. „Ja, das ist ein Bau!“, schrieb 1903 zwei Wochen nach Fertigstellung ein Rezensent über 600 Quadratmeter Jugendstil, das Stadtpalais eines 26-Jährigen. Wir jedoch, aus dem Museum heraus, passieren den Reichenturm, blicken auf den Wendischen, den Gottfried Semper gerettet hat, und biegen zum Abendessen in die gleichnamige Gasse ein gen Dom. An deren Ende verabschiedet sich die kleine Schar ins sorbische Restaurant „Wjelbik“ (Gewölbe) zum „Hochzeitsessen“.
Ein schöner Beitrag zu Bautzen.
Wer noch etwas mehr Zeit hat und sich schon im Bereich der Ortenburg befindet, kann auch einen kurzen Schwenk zur spätgotischen Nicolaikirch-Ruine machen. Von diesem Ruhepol gibt es einen schönen Blick ins Spreetal.
Auf der „anderen Seite“ des Zentrums, den Kornmarkt in Richtung Postamt am Postplatz verlassen, warten ein stilles Highlight. Das dortige Glasbild „Die Post im Wandel der Jahrhunderte“ ist weitestgehend unbekannt, aber ein sehr schönes Beispiel für unterhaltsame und bildende Kunst am Bau.