Als Flaneur an der Donau

Das Café Prückel zählt zu den weni­gen, die an der Wie­ner Ring­stra­ße über­lebt haben und zu den authen­tischs­ten Häu­sern der Innen­stadt oben­drein. Foto: Micha­el Kunze

Wo ist Wien zu fin­den; was macht es aus? Das hängt davon ab, was man sucht. Ein Spaziergang.

WIEN. Wien! „Wer die Stadt nennt“, schrieb Hel­muth Bur­gert 1937, „hört einen Gei­gen­ton mit­schwin­gen.“ Als wir uns am Tag nach Chris­ti Him­mel­fahrt den Weg vom Früh­stück im ehr­wür­di­gen Café Prückel über die Woll­zei­le in die Stadt bah­nen, tönen von Fer­ne ande­re Klän­ge. Die USC Tro­jan Mar­ching Band aus Los Ange­les, einst mit Micha­el Jack­son oder Dia­na Ross auf der Büh­ne, gibt am Ste­phans­platz ein Kon­zert mit Pau­ken und Trom­pe­ten, Tuben, Saxo­fo­nen. Son­ne satt, wie in Kali­for­ni­en, brennt auf die auch mit Tanz­ein­la­gen auf­war­ten­de Kapel­le und die Men­schen­scha­ren vor ihr. Nach kur­zem Inne­hal­ten lösen sich Tou­ris­ten­schnü­re her­aus und zie­hen in den Dom ein und bald wie­der her­aus. Andacht kommt drin­nen kei­ne auf, der Geräusch­pe­gel ist hoch; immer­fort blit­zen Kame­ras. Das Gewim­mel drängt wei­ter auf den Gra­ben mit der Pest­säu­le, Hof­burg und Nobel­ge­schäf­ten ent­ge­gen. Wien hat sich längst zu einem Tou­ris­ten­ma­gne­ten inter­na­tio­na­len Ran­ges gemau­sert; unab­läs­sig sin­ken Flug­zeu­ge aus aller Welt her­nie­der und stei­gen spä­ter wie­der auf.

Die Stadt, deren kul­tu­rel­le Relik­te aus der Zeit der Kaf­fee­haus­li­te­ra­ten vom Fin de Siè­cle bis zum Ende der Drei­ßi­ger­jah­re ich mit einer klei­nen Grup­pe auf­zu­spü­ren suche, jenes Wien, das Fried­rich Tor­berg schon 1968 nur in der Rück­schau das sei­ner Träu­me nann­te, gibt es nicht mehr: das „der Lie­der … die Kai­ser­stadt, Haupt- und Resi­denz­stadt des eins­ti­gen 50-Mil­lio­nen-Rei­ches, die Metro­po­le, in der sich die­ses Rei­ches Völ­ker­schaf­ten (ihrer zehn oder zwölf) amal­ga­mier­ten, in deren Umgangs­spra­che sich sla­wi­sche, unga­ri­sche, jüdi­sche und ita­lie­ni­sche Bro­cken misch­ten: ein geo­gra­phi­scher, poli­ti­scher und geis­ti­ger Mit­tel­punkt von unge­heu­rer Anzie­hungs­kraft und Aus­strah­lung, die noch im ent­le­gens­ten Nest an der gali­zisch-rus­si­schen Gren­ze, noch im dal­ma­ti­ni­schen Fischer­dorf spür­bar blieb“.

Die­ses Wien, dia­gnos­ti­zier­te der Publi­zist nach sei­ner Rück­kehr aus dem ame­ri­ka­ni­schen Exil, in das er als Jude geflo­hen war, über­leb­te den Zusam­men­bruch der Mon­ar­chie um zwan­zig Jah­re. Es ging unter mit der „Heim­kehr“ ins Tau­send­jäh­ri­ge Reich, aus dem die Stadt nach sie­ben Jah­ren und anfäng­li­chem Jubel frei­kam, doch uner­setz­li­cher Köp­fe beraubt und abge­schnit­ten von den Bin­dun­gen nach Nor­den, Süden, Osten. In dies alte Öster­reich, in dem Wie­ner Fäden bis Czer­no­witz, Lem­berg und Prag, Lai­bach oder Tri­est reich­ten, gab es kein Zurück. Auch für uns gibt es kei­nes. Wir neh­men Wien, wie es uns heu­te ent­ge­gen­tritt, stau­nen etwa über die Ring­stra­ßen­ar­chi­tek­tur, die im deut­schen Sprach­raum ein­ma­lig welt­städ­tisch daher­kommt, und manch ande­re Fle­ckerl. Vie­le Sehens­wür­dig­kei­ten – von der Hof­burg bis zum Pra­ter – ste­hen nicht auf dem Pro­gramm, sind längst abgeschritten.

Wir las­sen uns fort­tra­gen im Gewühl des Gra­bens und spa­zie­ren über die Nag­ler­gas­se und den Hei­den­schuß auf die Frey­ung zur Schot­ten­kir­che. Jen­seits der Lit­ur­gien oft nur bis zum Git­ter unter der Empo­re zu betre­ten, ent­zün­den wir in einer Nische zum gleich­na­mi­gen Bene­dik­ti­ner­stift hin eine Ker­ze für die Fami­lie – und drei Domi­ni­ka­ner-Dia­ko­ne. Am Sams­tag wer­den sie in der Kir­che des Ordens, S. Maria Rot­un­da, von Chris­toph Kar­di­nal Schön­born zu Pries­tern geweiht.

Das alte Café Cen­tral wur­de 1943 geschlos­sen; bis dahin war es Hei­mat zahl­rei­cher Schrift­stel­ler. Im Jah­re 1975 sperr­te es aber­mals auf und ist heu­te völ­lig über­lau­fen. Foto: Micha­el Kunze

Nach einem Vater­un­ser stre­ben wir wei­ter, Aus­schau hal­tend nach einer Rast, durch die Fer­s­tel-Pas­sa­ge auf die Her­ren­gas­se. Im Café Cen­tral, über das der Feuil­le­to­nist Alfred Pol­gar 1946 eine „Theo­rie“ ver­öf­fent­lich­te, als es schon drei Jah­re lang geschlos­sen war (1975 öff­ne­te es aber­mals), ist kein Platz frei. Dut­zen­de Tou­ris­ten, in lan­ger Schlan­ge sich vor den Türen win­dend, begeh­ren Ein­lass. Um schnel­le Fotos zu knip­sen für die sozia­len Netz­wer­ke? Immer­hin zähl­ten Freud, Frie­dell, Hof­manns­thal, Perutz zu den Stamm­gäs­ten. Auch Musil, Schnitz­ler, Zweig und Pol­gar kamen gern. Ob die War­ten­den letz­te­ren gele­sen haben? „Teil­haf­tig der eigent­li­chen Rei­ze die­ses wun­der­li­chen Kaf­fee­hau­ses“, hat­te er notiert, „wird allein der, der dort nichts will als dort sein. Zweck­lo­sig­keit hei­ligt den Auf­ent­halt.“ Nur wer dies ver­ste­he, sei dem Flu­idum des Ortes auf der Spur. Sei­ner­zeit. Das heu­ti­ge „Cen­tral“ taugt dafür kaum noch.

Wir wan­dern nach einem Abste­cher in den Schmet­ter­lings­zoo im Pal­men­haus des Burg­gar­tens, nun müden Schrit­tes, in Rich­tung Stall­burg­gas­se zum „Bräu­ner­hof“. Es war des öster­rei­chi­schen Skan­dal­schrift­stel­lers Tho­mas Bern­hard Lieb­lings­ca­fé. In der Span­nung sei­nes über­spann­ten, von Krank­heit gepei­nig­ten Lebens ver­lieh er sei­ner Sym­pa­thie vor allem so Aus­druck, dass er’s immer wie­der ansteu­er­te, sich dar­in, schrieb er, wie zu Hau­se fühl­te. Obgleich er es hass­te, auch das liest man in sei­ner Erzäh­lung „Witt­gen­steins Nef­fe“ (1982), „weil alles in ihm ganz gegen mich ist“, ließ er sein Alter Ego bekunden.

Ich bestel­le ein Stück Top­fen­stru­del. Zei­tun­gen lie­gen auf und wan­dern, wenn auch sel­te­ner als frü­her, von einem zum nächs­ten, auch unserm Tisch. Der Ober ser­viert gespritz­ten Apfel­saft, Melan­ge, Ver­län­ger­ten. Durch die offe­nen Fens­ter weht eine sanf­te Bri­se das lei­se Stim­men­ge­wirr über die Tische. In stil­ler Schau der Umstän­de stellt sich für den Gast eine Ahnung ein davon, was sie meint: Pol­gars Rede vom Flu­idum. Mehr nicht. „Wos vor­bei is, is vor­bei“, sang Johann Hölzel.

Wäh­rend­des­sen reift die Idee zum Ent­schluss: Wenn Kaf­fee­häu­ser und Pracht­stra­ßen nicht genü­gen, die Sehn­sucht nach dem Ges­tern zu stil­len – ange­le­sen und ver­klärt zwar, doch gera­de dar­um mäch­tig –, dann (mehr Ges­tern geht nicht) auf ins Anti­qua­ri­at! Auf zu Löcker an der Anna­gas­se, am Ort seit 50 Jah­ren; es sind nur sie­ben Minu­ten Fußweg.

Stil­le da, end­lich, inne­re Ein­kehr. Was ist hier eine Drei­vier­tel­stun­de? Bücher bis zur Decke, Druck­gra­phik, ver­glas­te Vitri­nen mit Erst­aus­ga­ben. Eine von Dode­rers „Mero­win­gern“, zwei Tor­berg-Bän­de, Bur­gerts Büch­lein über „Das Wie­ner Kaf­fee­haus“, Hub­manns Foto­re­tro­spek­ti­ve „Café Hawel­ka“ und eine klei­ne, unle­ser­lich signier­te Radie­rung – wohl aus der Zwi­schen­kriegs­zeit –, die von der Reit­schul­gas­se den Blick frei­gibt auf die Michael­er­kir­che: Sie alle lan­den nach freu­di­gem Bestau­nen in zwei Tüten und spä­ter in Dres­den, von wo die Rei­se ins ver­län­ger­te Wochen­en­de ange­tre­ten wor­den war.

Mag vie­les von einst ver­lo­ren sein, ver­gan­gen. Es ist nicht zu ändern. „[E]in biss­chen gol­de­ner Nach­glanz der Kai­ser­zeit, ein Stück Sacher­tor­te, die schwü­le Ero­tik eines Gus­tav Klimt, die zart­li­la Unschuld des Wie­ner Jugend­stils, der Pomp der Oper, die Wort­macht des Burg­thea­ters“ – all das lässt sich fin­den, nach wie vor, schrieb der Jour­na­list Mar­tin Tschech­ne. Auf Insze­nie­rung ver­stün­den sie sich, die Wie­ner. „Bit­te, höf­lichst“, sagt am Mon­tag­mor­gen der Ober im Café Schwar­zen­berg, dem ältes­ten sei­ner Art an der Ringstraße.

Bevor wir uns auf die Rück­fahrt über Brünn und Prag bege­ben, führt der Weg über die gepflas­ter­te Höhen­stra­ße hin­auf zum Kah­len­berg im 19. Bezirk. Mit 484 Metern ist er der höchs­te Aus­läu­fer der bis an die Donau rei­chen­den Kalk­vor­al­pen. Die kos­ten­frei zugäng­li­che Aus­sichts­ter­ras­se bie­tet gran­dio­sen Aus­blick über die Stadt. Im Sep­tem­ber 1983 hat Papst Johan­nes Paul II. die Anhö­he besucht, auf der sich das Natio­nal­hei­lig­tum der in Öster­reich leben­den Polen befin­det: eine Kopie der Schwar­zen Madon­na von Tschenstochau.

Wie­ner Stadt­pan­ora­ma, vom heu­ti­gen Kah­len­berg aus gese­hen. Einst trug der nun­meh­ri­ge Leo­polds­berg die­sen Namen, was immer­fort zu Ver­wechs­lun­gen führt. Foto: Micha­el Kunze

Die Josefs­kir­che, in der sie ver­ehrt wird, steht indes „fälsch­lich mit der Tür­ken­be­la­ge­rung in Ver­bin­dung“. Dar­an erin­nert der His­to­ri­ker Felix Czei­ke in sei­nem Wien-Füh­rer. Denn der ursprüng­lich Kah­len­berg gehei­ße­ne heu­ti­ge Leo­polds­berg liegt einen halb­stün­di­gen Fuß­marsch ent­fernt. Was immer­fort zu Ver­wech­se­lun­gen führt, blie­be ohne Belang, wäre nicht davon die Loka­li­sie­rung der berühm­ten Feld­mes­se vor der Ent­satz­schlacht Wiens (1683) betrof­fen, die hier zele­briert wur­de. Der pol­ni­sche König Jan III. Sobie­ski hat­te dabei minis­triert, das Ent­satz­heer, das danach den tür­ki­schen Bela­ge­rungs­ring brach, teilgenommen.

Wien war und ist in sehr wei­tem Sin­ne „Vor­stadt Euro­pas“ (Hans Weigel). Wir keh­ren ihr nun den Rücken, so Gott will: nicht für lange.

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