Der transalpine Brückenbauer

Sinn­bild Pas­saus neben den drei Flüs­sen: der Dom, des­sen Orgel Rein­hard Raf­falt beson­de­re Bedeu­tung zumaß. Deren Spiel­tisch nann­te er einen der drei Thro­ne der Kathe­dra­le. Foto: Micha­el Kunze

Eine Bio­gra­phie wür­digt den gro­ßen Kul­tur­ver­mitt­ler Ita­li­ens, Rein­hard Raf­falt, zu des­sen 100. Geburtstag.

PASSAU/MÜNCHEN/ROM. Am 16. Juni 1976 starb mit Rein­hard Raf­falt der Deu­ter roma­ni­scher Welt in bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Nach­kriegs­zeit. Er stand in einer Rei­he mit den bei­den Cur­ti­us, mit Hau­sen­stein, Pete­rich, Sieburg, die er an Viel­sei­tig­keit über­trof­fen hat. Den­noch ist Raf­falt weit­hin ver­ges­sen. Dass sein 100. Geburts­tag jüngst in Mün­chen und Pas­sau unter beacht­li­cher Anteil­nah­me began­gen wur­de, täuscht dar­über nicht hin­weg. Allein sein Früh­werk, der Sprach­füh­rer „Eine Rei­se nach Nea­pel – e parl­a­re ita­lia­no“ wird noch gedruckt – in 24. Auflage.

Einst alles anders: Bei sei­nem Tode war der am Zusam­men­fluss von Donau, Inn und Ilz gebo­re­ne und bei­gesetz­te Jour­na­list und Musi­ker – ohne Über­trei­bung – einem Mil­lio­nen­pu­bli­kum bekannt; Bei­leids­adres­sen aus aller Her­ren Län­der, aus Poli­tik, Kul­tur, Kle­rus erreich­ten die Ange­hö­ri­gen. Mit sei­nen Fern­seh­re­por­ta­gen, Radio­feuil­le­tons, Buch- und Zei­tungs­ver­öf­fent­li­chun­gen hat­te er eine ver­brei­te­te Sehn­sucht auf­zu­grei­fen ver­stan­den, die sich im Anschluss an die tota­le Selbst­preis­ga­be Deutsch­lands unter Hit­ler nach Rück­ver­an­ke­rung im Abend­land sehn­te. Wie er sie ins Wort setz­te, lässt sich in einem sei­ner kür­zes­ten Bücher erspü­ren, einer Medi­ta­ti­on über Tod und Bei­set­zung Pius‘ XII.

„Homo erat pater­fa­mi­li­as“, jene spre­chen­de Pas­sa­ge des Mat­thä­us­evan­ge­li­ums – er konn­te nicht anders, als sie in „Ein Römi­scher Herbst“ (1958) auf den von ihm ver­ehr­ten Pon­ti­fex zu bezie­hen. Man muss dies Buch in aller Stil­le laut lesen, um den Takt auf­zu­neh­men, den er anzu­schla­gen such­te. Bis heu­te ist in deut­scher Spra­che kein sol­ches Werk mehr erschie­nen. Des­sen Zau­ber sich hin­zu­ge­ben, der in kur­zen Zita­ten nicht dar­zu­tun wäre, nimmt den gestimm­ten Leser hin­ein in eine Schau vol­ler Poe­sie und Innig­keit, in den Nach­voll­zug der aus dem Inhalt gegos­se­nen Form, die Raf­falt auch am Papst­tum des zwölf­ten Pius so schätzte.

Der aus dem Chiem­gau stam­men­de, in Mün­chen wir­ken­de His­to­ri­ker Juli­an Traut hat mit „Ein Leben für die Kul­tur“ die nun erwei­ter­te Fas­sung sei­ner bebil­der­ten Bio­gra­fie vor­ge­legt, die Raf­falt zugäng­lich macht wie bis­lang kei­ne. Auch die Grün­de für des­sen in den 1960er-Jah­ren abneh­men­de Strahl­kraft wer­den erläu­tert. Traut schil­dert nach Durch­sicht zahl­rei­cher Quel­len die Her­kunft aus libe­ra­ler Pas­sau­er Bil­dungs­welt – der Vater Zei­tungs­ver­le­ger, die Mut­ter aus mäh­ri­schem Land­adel. Leis­tungs­wil­le, ästhe­ti­sches Gespür, Selbst­be­wusst­sein im gan­zen Sin­ne des Wor­tes – die Eltern mögen sie ihm in die Wie­ge gelegt haben.

Juli­an Trauts Bio­gra­phie und Werk­bio­gra­phie beschäf­tigt sich wie bis­lang kei­ne mit dem in Pas­sau gebo­re­nen Publi­zis­ten Rein­hard Raf­falt. Cover: Verlag

Der Autor berich­tet von frü­hem Orgel­un­ter­richt, der 1942 in ein Stu­di­um bei Tho­mas­kan­tor Gün­ther Ramin mün­de­te. Das Deutsch­land, in dem der 19-Jäh­ri­ge sei­ne Gaben zur Rei­fe zu brin­gen such­te, for­der­te indes kei­ne Orga­nis­ten, son­dern Kämp­fer im Welt­an­schau­ungs­krieg. Der Jun­ge hat­te Glück: Ein Oberst ent­sand­te ihn zu musi­ka­li­scher Trup­pen­be­treu­ung nach Bel­gi­en und Frank­reich. Raf­falt kon­zer­tier­te in Bour­ges, Dijon, Reims. Eine Aus­bil­dung zum Kran­ken­trä­ger folg­te, schließ­lich doch Front­ein­sät­ze, bis ihn 1945 ein Gra­nat­split­ter der­art zurich­te­te, dass er das Kriegs­en­de in einem Laza­rett erlebte.

An die Wie­der­auf­nah­me der Stu­di­en in Sach­sen war nicht zu den­ken. So schrieb er sich ein an der hei­mi­schen Hoch­schu­le: für Geschich­te des Mit­tel­al­ters und scho­las­ti­sche Phi­lo­so­phie; er lei­te­te den Pas­sau­er Sing­kreis. Her­kunft, Stu­di­um, Ehren­amt deu­te­ten an, wor­an fort­an sein Herz hän­gen wür­de; 1950 schließ­lich die Pro­mo­ti­on in Tübin­gen zur Programmmusik.

Traut fügt sei­ner the­ma­tisch und chro­no­lo­gisch geglie­der­ten Arbeit (was teils zu Wie­der­ho­lun­gen führt) im Anhang zahl­rei­che Brie­fe bei – etwa den Aus­tausch mit dem 17-jäh­ri­gen Rein­hard Marx, der sich als Kon­ser­va­ti­ver aus­wies. Der nun­meh­ri­ge Erz­bi­schof steu­er­te zudem ein Geleit­wort bei, in dem er aus­lo­tet, was ihm Kon­ser­va­tis­mus und Barock heu­te bedeu­ten. Wir fin­den im Buch eine Lis­te sämt­li­cher, von Raf­falt für den BR pro­du­zier­ter Fern­seh­fil­me und Hör­funk­sen­dun­gen, die zei­gen, dass die­ser sich nicht mit Ita­li­en „begnüg­te“, son­dern auch Deutsch­land in den Fokus nahm, Spa­ni­en, vie­le Län­der Süd­ame­ri­kas, Afri­kas, Asiens.

Wie aber gelang­te er an das Sehn­suchts­ziel vie­ler Deut­scher, des­sen Aus­deu­tung ihn hier­zu­lan­de so berühmt mach­te? Schon 1949 war er mit Kom­mi­li­to­nen zu einer Rei­se auf­ge­bro­chen, besuch­te Padua, musi­zier­te in Kir­chen. „Dies“, schreibt Traut, „mar­kier­te den Beginn einer inni­gen Bezie­hung“, die nicht abriss. Raf­falt heu­er­te als frei­er Mit­ar­bei­ter beim BR an, ver­fass­te ers­te „Hör­bil­der“ – der Auf­takt mehr als 30 Jah­re wäh­ren­der Zusam­men­ar­beit. 200 Rund­funk­sen­dun­gen und 30 Fil­me gin­gen dar­aus her­vor. Er hol­te sei­nem Publi­kum wenig bekann­te Wel­ten ins Wohn­zim­mer, schil­der­te Zusam­men­hän­ge zwi­schen Geschich­te, Phi­lo­so­phie und Kunst in Anti­ke, Renais­sance, Barock.

Mit wel­cher Stim­me – um einen Ein­druck zu gewin­nen, sei auf im Inter­net ver­füg­ba­re Bei­trä­ge zum Nach­hö­ren ver­wie­sen (QR-Code zum BR im Buch)! Wär­me, Sou­ve­rä­ni­tät, Kul­ti­viert­heit strahlt sie aus. Raf­falt bezeug­te, wor­aus er schöpf­te. Er war kein ober­fläch­li­cher Unter­hal­ter, for­mu­lier­te dicht und anspruchsvoll.

War­um er 1951 sei­nen Wohn­sitz in Rom nahm, lässt sich nicht mehr voll­ends klä­ren. Nahe liegt die Neu­gier eines jun­gen Man­nes auf den kos­mo­po­li­ti­schen Charme der Groß­stadt im Süden, zugleich Zen­trum des Katho­li­zis­mus, dem er sich reli­gi­ös und kul­tu­rell tief ver­haf­tet sah.

Es brauch­te Zeit, öko­no­misch fuß­zu­fas­sen; Gön­ner hal­fen. Vom zwar wohl­klin­gen­den, doch wenig ein­träg­li­chen Titel eines Rom- und Vati­kankor­re­spon­den­ten für die Münch­ner „Neue Zei­tung“, dazu Arbei­ten für das Hei­mat­blatt ließ sich nicht leben, ange­sichts von bald kost­spie­li­ger Woh­nung in bes­ter Lage, teu­rem Sport­wa­gen, reprä­sen­ta­ti­ven Verpflichtungen.

Dass er sich der CSU nahe­fühl­te, war kein Geheim­nis. Zahl­lo­se Kon­tak­te leg­ten Zeug­nis davon ab. Bei­getre­ten ist er der Par­tei nie; er schätz­te die Unab­hän­gig­keit. Um den Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten, nutz­te er sein musi­ka­li­sches Talent. Es brach­te ihm eine Stel­le als Orga­nist an der deut­schen Natio­nal­kir­che San­ta Maria dell‘ Ani­ma. Er warb Mit­tel ein für Kon­zert­for­ma­te, die sich gegen­über Rund­funk­an­stal­ten lan­cie­ren lie­ßen. Bald unter­rich­te­te er am Col­le­gi­um Ger­ma­ni­cum et Hun­ga­ri­cum Kir­chen­mu­sik, lei­te­te Chor und Orches­ter des Jesui­ten­kol­legs, fand Zutritt zu höchs­ten Krei­sen. Vor Kraft zu sprü­hen, schien er, ange­trie­ben vom Zuspruch, wie sich her­aus­stel­len soll­te: zulas­ten sei­ner Gesundheit.

Einst­wei­len ging es vor­an: Raf­falt grün­de­te die Deut­sche Biblio­thek in Rom und die Römi­sche Bach-Gesell­schaft. Sein kul­tur­in­sti­tu­tio­nel­les Werk, das ihn auch beim Aus­wär­ti­gen Amt in Lohn und Brot brach­te, stand Pate für die Grün­dung der Goe­the-Insti­tu­te. Die im Pres­tel-Ver­lag her­aus­ge­brach­ten Rom-Bän­de wur­den gro­ße Erfolge.

Oben­drein nahm er zu kir­chen­po­li­ti­schen Fra­gen Stel­lung. Als bri­sant erwies sich der viel­be­ach­te­te Band „Wohin steu­ert der Vati­kan?“ (1973), strot­zend vor Kri­tik an der Öff­nungs­po­li­tik Pauls VI. gegen­über den sozia­lis­ti­schen Staa­ten, die der Anti­kom­mu­nist als Appease­ment ver­warf. Raf­falt, neben Pius auch Johan­nes XXIII. zuge­tan, fand zu ihrem Nach­fol­ger kei­nen Anschluss. Er ging mit des­sen Lit­ur­gie­re­form ins Gericht, hielt ihr den Aus­ver­kauf des Latei­ni­schen vor, Bana­li­sie­rung des Heiligen.

Rein­hard Raf­falt wur­de 1976 auf dem Pas­sau­er Inn­stadt­fried­hof im Gra­be sei­ner Eltern bei­gesetzt. Foto: Micha­el Kunze

Dem Barock­men­schen kam das Barock abhan­den. Was er erfahr­bar zu machen such­te: den Anspruch, alle Bezir­ke des Lebens – Reli­gi­on, Brauch­tum, Archi­tek­tur, Lite­ra­tur, bil­den­de Kunst, Musik – aus einem Leit­mo­tiv abzu­lei­ten und dar­auf zurück­zu­füh­ren, so, wie es von und mit der Kir­che bis ins 20. Jahr­hun­dert ver­sucht wor­den war, sah er preis­ge­ge­ben. Die­ses „Römi­sche Prin­zip“, aus der Anti­ke über das Mit­tel­al­ter in die Neu­zeit über­lie­fert, nörd­lich der Alpen anver­wan­delt – es war im Fal­le. Schmerz­lich hat­te er dies erken­nen müssen.

Mit der Epo­chen­wen­de fiel, tra­gi­scher­wei­se, sein eige­nes Ende zusam­men. Er starb, von rast­lo­ser Arbeit aus­ge­zehrt, nur 53-jäh­rig weni­ge Stun­den nach der Hoch­zeit mit Nina Bert­ram. Aus dem Füll­horn sei­nes Wer­kes, das Juli­an Traut uns auf­schließt, lässt sich den­noch wei­ter­hin mit Genuss kosten.

Juli­an Traut: Ein Leben für die Kul­tur. Rein­hard Raf­falt (1923–1976) zwi­schen Bay­ern, Deutsch­land und Ita­li­en. Ver­lag Fried­rich Pus­tet, 2. erwei­ter­te Aufl., Regens­burg 2023, Hard­co­ver, 312 Sei­ten, EUR 39,95.

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