Der Journalist Ulrich Greiner will Verständnis dafür, dass Demokratie kompliziert ist – und dabei auf den Wettstreit zwischen beiden Polen des politischen Spektrums angewiesen.
BERLIN. Wo es Linke, Progressive gibt, muss es Rechte, Konservative geben dürfen – und sie müssen gleichberechtigt vernehmbar sein im öffentlichen Diskurs. Davon ist Ulrich Greiner, früher Feuilletonchef der „Zeit“, überzeugt. Die Realität sei aber eine andere: Das politische Spektrum jenseits der Extremismen, schreibt er in der Streitschrift „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“, werde medial nicht mit gleichem Maßstab ausgeleuchtet. Dabei bekennt der 72-Jährige, nie CDU noch Liberale gewählt zu haben, sondern vorrangig SPD und Grüne. Spät wurde er konservativ – und macht nun eine Tendenzwende aus in der Bundesrepublik, die zutage trete etwa in der Entstehung von Pegida oder AfD-Wahlerfolgen.
Überall Angst – nicht nur bei Anhängern der „Patriotischen Europäer“, auch in Parteien und der „kommentierenden Klasse in den Medien“, der er selbst angehörte. Für letztere stehe die Macht auf dem Spiel, die in der Öffentlichkeit geltenden moralischen Standards zu definieren und ihre Einhaltung zu kontrollieren. Bislang komme dies darin zum Ausdruck, was politisch nicht passe, gern „populistisch“ zu zeihen, obwohl meist „rechtspopulistisch“ gemeint sei. Zudem werde das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft als nicht verhandelbar beworben und Widerspruch in die Nähe des Rassismus gerückt. Als alleiniges Heil der Europäischen Union gelte deren „Vertiefung“. Wer ein Europa der Vaterländer vorziehe, stehe als Nationalist im Abseits. Eine Islamisierung westeuropäischer Gesellschaften – im öffentlichen Diskurs vielfach bloß „Hirngespinst verwirrter Pegida-Anhänger“ statt einer realen Gefahr? Auch das, schreibt Greiner – und ärgert sich parallel über das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden: Immer weiter dringe der Staat ins Private vor.
Greiner lässt seiner Angst freien Lauf, treibt es mitunter bunt – und ist dafür kritisiert worden, seit er 2016 den Artikel „Vom Recht, rechts zu sein“ veröffentlichte, auf den das Buch aufsetzt. Er positioniert sich jenseits politischer Korrektheit, aber diesseits der AfD, wendet sich in seinem Gesinnungsbuch – denn das ist es – gegen die Moralisierung aller Lebensbereiche, bei der aus politischen Gründen ganze Themenfelder ausgespart blieben. Deren Erörterung werde aber von nennenswerten Teilen der Gesellschaft gefordert.
Nicht „Objektivität“, so lassen sich seine Ausführungen deuten, fehlt den Medien. Die kann es nicht geben. Welches Thema aufgegriffen wird – wann, von wem und in welchem Umfang, ohne Foto oder mit, auf Seite 1 oder 20 -, ist per se Konsequenz subjektiver Entscheidung. Greiner weiß, dass es darauf ankommt, wer sie trifft: Er fordert Chancengleichheit dafür, dass der konservative Blick ähnlich ernsthaft sichtbar wird wie der progressive: Wo „die tonangebende Klasse auf ihren mäßigenden, zivilisierenden Einfluss“ verzichte, sänken „ernste Fragen“ auf den „sprachlosen Grund des Unverstandenen“ – der „nicht selten braun“ sei.
Linke Intellektuelle wie Didier Eribon oder Edouard Louis haben am französischen Beispiel längst diagnostiziert, dass sich die „kleinen Leute“ abwenden von „ihren“ angestammten Parteien. „Jede Parteineugründung … ist ein Zeichen des Ungenügens der alten Gruppierungen“, schrieb aber schon 1931 der jüdische Politologe Sigmund Neumann. Sind also die heutigen Hassorgien im Netz wider „den Mainstream“ die Rache jener, die sich hilflos, sprachlos wähnen? Greiner wünscht sich darüber Streit in der Sache. Dass dabei Gefahr besteht, einen engen Deutungskanal nur gegen einen anderen zu tauschen, statt den bestehenden zu weiten, liegt auf der Hand – taugt aber nicht als Ausrede dafür, die Weitung nicht zu versuchen. Greiner will Verständnis dafür, dass Demokratie kompliziert ist und die Auseinandersetzung mit ihr zwar anspruchsvoll, aber Wert an sich. Die Nationalstaaten hält er für eine Errungenschaft, Europa solle zudem „Abendland bleiben“ – mehr als eine geografische Kategorie. Wer seinen Vorstellungen mit Maß politisch Nachdruck verleihen soll, weiß der derzeit Heimatlose aber nicht.
Ulrich Greiner: Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen, Rowohlt-Verlag, Reinbek 2017, 160 Seiten, 19,95 Euro.