Der Verlag Hentrich & Hentrich, spezialisiert auf jüdische Kultur und Geschichte, ist ein Unikum im deutschen Sprachraum, sagt dessen Chefin. Nun ist er von Berlin nach Leipzig gezogen.
LEIPZIG. Zwei helle Räume, tiefe Fenster und Schreibtische, darauf Computer und die Wände dicht bestückt mit Regalen voller Bücher – so sieht es aus, das neue Leipziger Domizil von Hentrich & Hentrich, dem nach eigenen Angaben einzigen eigenständigen Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte im deutschen Sprachraum. Im Spätsommer 2018 ist er von der Spree an die Pleiße gezogen.
Mittlerweile hat man sich eingerichtet am traditionsreichen Standort „Haus des Buches“, Gerichtsweg/Ecke Prager Straße. Bis zur Zerstörung 1943 durch Bomben befand sich hier das schmucke Buchhändlerhaus des Börsenvereins. Der Verlag zog in Räume, die zuvor das 2017 insolvente, auf Kunst und Kunstgeschichte spezialisierte Traditionshaus Seemann-Henschel nutzte.
„Hentrich war mehr als dreißig Jahre in Berlin“, sagt Verlegerin Nora Pester. Seit der Gründung 1982, ab 1998 unter dem heutigen Namen. Doch der Mietvertrag an der Wilhelmstraße lief aus. „Hätten wir zentral in der Hauptstadt bleiben wollen, wäre eine Mieterhöhung von 150 Prozent einzuplanen gewesen“, so die 41-Jährige. Wegen der schwierigen Verkehrslage und langer Wege sei ein Wechsel an die Berliner Peripherie nicht infrage gekommen, wenngleich wieder eine kleine Dependance an der Spree eröffnen soll.
Neustart in einer Stadt, in der das Bewusstsein für das Medium weiter stark ist
Für die gebürtige Leipzigerin und promovierte Politikwissenschaftlerin, die Hentrich & Hentrich als Nicht-Jüdin im Januar 2010 nach dem Tod des Gründers Gerhard Hentrich (1924–2009) von dessen Sohn Harald, Antiquar in Berlin-Steglitz, übernommen hatte, war es eine Rückkehr in die Heimat. „Meine Herkunft war aber kein Argument“, erklärt sie, der Wechsel aber die Chance zum Neustart in einer Buchstadt, in der das Bewusstsein für dieses Medium weiter stark ist und die bezahlbare Räume bietet.
Die dreiköpfige Mannschaft, die nach Bedarf freiberufliche Grafiker oder Lektoren hinzuzieht und mit einer Handvoll Druckereien kooperiert, bringt jährlich rund 50 Neuerscheinungen heraus „über alles, was jüdisch ist“, so Pester. Von den aktuell etwa 400 lieferbaren Titeln, mit denen zuletzt rund eine halbe Million Euro Umsatz erwirtschaftet wurde, entfallen wenige auf Belletristik. Doch das Spektrum ist weit: Es reicht vom politischen Sachbuch über jüdische Gebets‑, Ethiktexte und Ausstellungskataloge bis zu Biografien, Schul‑, Kinder- und Jugendliteratur.
Von den konventionellen Verkäufen könne ein kleiner Verlag aber kaum mehr leben. Das Werbebudget ist schmal. Zielgruppengenau sortierte Büchertische bei Veranstaltungen und Mindestabnahmen durch Museen, Stiftungen, Bildungsträger bei konkret vereinbarten Buchprojekten würden immer wichtiger, da der Handel mit hohen Rabattforderungen gewaltig Druck ausübe – ein Los, das weiten Teilen der Verlagswelt zugefallen ist.
Unter den Autoren sind weniger bekannte wie auch namhafte, so der Schriftsteller Stefan Zweig, der Historiker Julius Schoeps oder der einstige Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer. Auch Nichtjuden publizieren; dazu kommen Themen, die über das jüdische Milieu hinausweisen. So erschien 2016 Karl Kardinal Lehmanns Porträt über den von den Nazis ermordeten Priester und Pazifisten Max Josef Metzger.
Auch regionale Themen sind präsent, etwa in Daniel Ristaus Band „Bruchstücke“, der sich den Novemberpogromen von 1938 in Sachsen widmet. Die Reihe „Jüdische Miniaturen“ verzeichnet eine umfangreiche Broschüre über die Görlitzer Synagoge. Ein anderes Buch stellt den Alten Jüdischen Friedhof in Dresden vor. Dennoch wolle man kein Regionalia-Verlag werden, macht Pester deutlich, die vor Hentrich beim Leipziger Forum-Verlag tätig war, bei Passagen in Wien oder Matthes & Seitz in Berlin.
Ängste nach „Chemnitz“
In Sachsen sei man mit offenen Armen empfangen worden. Selbst der Impuls, sich in Leipzig niederzulassen, kam aus dem Freistaat. „Eine Zwickauer Hochschulprofessorin“, sagt die Verlegerin, „brachte mich auf die Idee.“ Schnell wurden Fühler in die Messestadt ausgestreckt. Bereits Ende August – im zeitlichen Kontext zum gewaltsamen Tod eines Chemnitzer Familienvaters, mutmaßlich durch Asylbewerber, und den folgenden Ausschreitungen – konnten die Räume bezogen werden. „Einer unserer Autoren“, ergänzt sie, „schrieb mir daraufhin, er werde nie wieder einen Fuß auf sächsischen Boden setzen.“ Dabei sei die Sicherheitslage mit der in Berlin, wo es mitunter vor allem Probleme mit der linksextremistischen Anti-Israel-Lobby gegeben habe, nicht vergleichbar und bis dato viel besser. Darum habe sie sich gefreut, als ein aus Israel stammender anderer Autor damals trotz Bedenken seine Lesereise antrat – und sich begeistert gezeigt habe von Neugier und Offenheit bei Terminen in Dresden, Leipzig, Zwickau, Bad Muskau.
Was Pester wie viele Verlagsleute auch umtreibt, ist die Sorge um die Lesekompetenz in der Gesellschaft. Die Fähigkeit, längere Texte zu erfassen, nehme ab. „Wir werden zu Überschriftenscannern.“ Darauf böten auch E‑Books keine Antwort; diese fehlen – anders als etwa DVDs von Konzertmitschnitten – im Programm. Nora Pester mahnt: „Wir dürfen das Lesen nicht verlernen.“