An seinem 125. Geburtstag ist der Meister vergessen

Einer von Leo­pold Wächt­lers Farb­holz­schnit­ten. Er trägt den Titel „Am Ober­see“. Foto: Micha­el Kunze/Antiquariat zum Dom Bautzen

Im Herbst 1896 ist in Penig mit Leo­pold Wächt­ler ein spä­ter über Sach­sen hin­aus ange­se­he­ner Sche­ren- und Holz­schnitt-Künst­ler gebo­ren wor­den. Noch immer wer­den sei­ne Wer­ke anti­qua­risch gehan­delt, doch in sei­ner Geburts­stadt erin­nert wenig an ihn. Ob sich das ändert? Eine Spurensuche.

PENIG/LEIPZIG. Er hat sie alle por­trä­tiert – Kom­po­nis­ten, Schrift­stel­ler, Wis­sen­schaft­ler, Phi­lo­so­phen, einen Dik­ta­tor: Bach, Reger, Schu­bert und Wag­ner, Ger­hart Haupt­mann, Tho­mas Mann, Tol­stoi und Marie Curie, Marx, Sta­lin und unzäh­li­ge mehr. Mehr­fach auch Christus.

Leo­pold Wächt­ler war am Main und an der Ost­see, in Ita­li­en und den ober­baye­ri­schen Alpen. Er hielt Ansich­ten von sei­ner spä­te­ren Wahl­hei­mat Leip­zig auch nach kriegs­be­ding­ter Zer­stö­rung fest, dazu von Dres­den, Madei­ra, Spitz­ber­gen, Marok­ko und ent­warf klas­si­sche Blu­men­still­le­ben. Dut­zen­de der teils mehr­far­big gestal­te­ten Blät­ter des gebür­ti­gen Peni­gers ver­wahrt heu­te das Stadt­ge­schicht­li­che Muse­um Leip­zig. Auf des­sen im Inter­net zugäng­li­cher Samm­lungs­da­ten­bank las­sen sich zahl­rei­che Stü­cke betrach­ten. Das Muse­um Schloss Hin­ter­glauchau hat eben­falls ein Blatt im Bestand. Es zeigt einen von Wind und Wet­ter gegerb­ten Lappländer.

Ent­stan­den sind die Aqua­rel­le und Radie­run­gen, Holz‑, Linol- und Sche­ren­schnit­te wohl fast durch­weg nach jener Kunst­post­kar­te, die Wächt­ler für ein Peni­ger Hei­mat­fest ent­wor­fen hat­te. „700-Jahr-Fei­er 1927“ heißt auf der Rück­sei­te des gera­de neun mal vier­zehn Zen­ti­me­ter mes­sen­den Hoch­for­mats in Schwarz-Weiß, des­sen Schau­sei­te von der Stadt­kir­che bekrönt wird, zu der Trep­pen hin­auf­füh­ren. „Aus Penig. Leo­pold Wächt­ler“, mehr steht nicht unter dem Motiv. Her­ge­stellt wur­de die Kar­te in der ört­li­chen Dru­cke­rei von Kar­s­ta Höni­ckes Groß­va­ter Fritz Hau­se­mann. In den Räu­men des 1974 geschlos­se­nen Unter­neh­mens befin­det sich heu­te ihr Klei­nes Kino.

Leo­pold Wächt­ler ist in der Stadt weit­hin ver­ges­sen. Auf einer Lis­te von Per­sön­lich­kei­ten der Stadt­ge­schich­te, die der kom­mu­na­le Inter­net­auf­tritt auf­weist, sucht man sei­nen Namen ver­geb­lich. Dabei galt er nach sei­nem Umzug nach Leip­zig als Meis­ter sei­nes Fachs. In den 1920er- bis 40er-Jah­ren erschie­nen Arbei­ten im Kalen­der „Kunst und Leben“ des Ber­li­ner Ver­le­gers Fritz Heyder. Sie reih­ten sich ein zwi­schen Wer­ke der Gro­ßen sei­ner Zeit: von Grosz über Klin­ger bis Koll­witz, Pech­stein, Sle­vogt, Franz von Stuck, Zil­le. Immer wie­der wur­den damals popu­lä­re Map­pen mit Wer­ken von sei­ner Hand auf­ge­legt, mit Por­träts wie Stadt­an­sich­ten. 1937 trug er Expo­na­te zu einer Son­der­aus­stel­lung im sechs Jah­re spä­ter bei einem Bom­ben­an­griff zer­stör­ten Leip­zi­ger Künst­ler­haus bei, 1942 zudem für eine Sche­ren­schnitt­schau im Leip­zi­ger Muse­um. Noch immer wer­den sei­ne akri­bisch gear­bei­te­ten Stü­cke anti­qua­risch gehan­delt, auch die raren mit Bezug zu sei­ner Hei­mat: So wirbt ein Anbie­ter im Inter­net mit einem Farb­holz­schnitt, der Schloss Rochs­burg zeigt.

Gleich­wohl ist aus Wächt­lers Leben rela­tiv wenig über­lie­fert; auch ein Werk­ver­zeich­nis fehlt offen­bar. Dem Autor ist kein Foto von ihm bekannt. Immer­hin ent­hält Hans Voll­mers sechs­bän­di­ges „All­ge­mei­nes Lexi­kon der bil­den­den Künst­ler des 20. Jahr­hun­derts“ (1953–1962) einen Namens­bei­trag, in dem von einem Stu­di­um an der Leip­zi­ger Aka­de­mie für Gra­phi­sche Küns­te bei dem deutsch-öster­rei­chi­schen Maler Alo­is Kolb (1875–1942) die Rede ist, zudem von Auf­ent­hal­ten in Frank­reich, Spa­ni­en, Ita­li­en, Nord­afri­ka, auf dem Bal­kan, in der Schweiz. Das lässt Rück­schlüs­se zu auf man­che Motiv­wahl. Wie es aber etwa zu dem Sta­lin-Farblin­ol­schnitt kam, ob es sich um eine Auf­trags­ar­beit han­del­te – wenn ja, von wem – ist unklar. Das Hoch­for­mat zeigt den Dik­ta­tor, der den Betrach­ter außer Acht lässt, an ihm vor­bei­schaut, mit buschi­gem Schnurr­bart, leicht zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen, ernst, doch ohne Strenge.

Das Licht der Welt erblick­te Wächt­ler am 30. Okto­ber 1896 in Penig, wo er laut Kir­chen­buch­ein­trag am 27. Dezem­ber getauft wur­de und „ihm sein Vater früh­zei­tig bestrebt war, die Schön­hei­ten der mil­den Land­schaft des Mul­den­ta­les zu erschlie­ßen“, schrieb Alfred Leh­mann in der Ein­füh­rung zu einem Map­pen­werk des Leip­zi­ger Ver­lags Max Möh­ring. Leh­mann weist zudem dar­auf hin, dass Wächt­ler nicht nur von Kolb, son­dern auch dem von Max Klin­ger geschätz­ten Maler, Gra­fi­ker, Schrift- und Exli­bris-Künst­ler Bru­no Héroux (1868–1944) unter­rich­tet wurde.

Der Peni­ger war das zwei­te Kind der Ehe­leu­te Hugo Oskar und Adol­phi­ne Wächt­ler, gebo­re­ne Rie­sel. Sei­ne Schwes­ter Loui­se ist 1892 gebo­ren wor­den und starb 1969 in Leip­zig. Der Vater, so ist es auf bei­der Geburts­ur­kun­den ver­merkt, wirk­te als Por­zel­lan- und Ober­ma­ler; im Adress­buch von 1930 ist er als Maler­meis­ter ver­merkt. Die Fami­lie leb­te laut der Aus­ga­be von 1910 an der Post­stra­ße 10 – das Haus steht noch.

Wie sei­ne Schwes­ter, stirbt auch Leo­pold Wächt­ler in Leip­zig – am 19. Juni 1988. Zeug­nis­se aus Penig ver­sie­gen früh. Das Leip­zi­ger Adress­buch von 1948 ver­zeich­net ihn als „Kunst­ma­ler“, in der 1939er-Aus­ga­be wird er als „Leh­rer“ genannt. Dies passt zu einem Fund im Bestand der Säch­si­schen Lan­des­bi­blio­thek (SLUB) in Dres­den, der meh­re­re von Wächt­ler signier­te Blät­ter, u.a. ein Goe­the-Por­trät sowie Stadt­an­sich­ten, beinhal­tet – ver­se­hen mit dem Kür­zel „Sch.“ für „Schü­ler“, den Jah­res­zah­len 1917 und 1919 sowie dem Zusatz „Waldenburg/Sa. Fürst­lich Schön­burg­sches Semi­nar“. Wächt­ler könn­te Schü­ler die­ser Leh­rer­aus­bil­dungs­stät­te gewe­sen sein und hat wohl in Leip­zig, wo genau und in wel­chem Fach auch immer, in dem Beruf gearbeitet.

Dass heu­te mit dem Stadt­ge­schicht­li­chen Muse­um Leip­zig ein so gro­ßes Haus in über­schau­ba­rer Ent­fer­nung zu Wächt­lers Geburts­ort einen reprä­sen­ta­ti­ven Quer­schnitt sei­ner Wer­ke auf­be­wahrt, ist Falk Armin Hüchel­heim zu dan­ken. Der 1944 gebo­re­ne Leip­zi­ger Musik­päd­ago­ge im Ruhe­stand, des­sen Mut­ter Bri­git­te Ulb­richt-Lorenz (1918–2005) einst wie Wächt­ler Sche­ren­schnit­te ent­warf, ver­mach­te sei­ne umfang­rei­che Samm­lung dem Haus im Jah­re 2016. „Ich habe Wächt­ler, der hier in der Kleist­stra­ße 13 wohn­te, zwar nie per­sön­lich ken­nen­ge­lernt“, sagt er, „aber mein Sam­mel­ge­biet umfasst eher wenig beach­te­te Leip­zi­ger Künst­ler, deren Werk es ver­dient, erin­nert zu werden.“

In Penig wird nun wohl an Wächt­ler erin­nert, wäh­rend das Leip­zi­ger Muse­um nach Aus­kunft der stell­ver­tre­ten­den Direk­to­rin Ulri­ke Dura trotz run­dem Geburts­tag „lei­der nichts“ plant. Kar­s­ta Höni­cke, die Räu­me ihres Klei­nen Kinos auch als Gale­rie nutzt und mit einer Chem­nit­zer Wächt­ler-Samm­le­rin befreun­det ist, will für den Herbst eine Aus­stel­lung mit Wer­ken des Künst­lers vor­be­rei­ten. Womög­lich wird auf dem Weg dahin das eine oder ande­re wei­te­re Detail aus Wächt­lers Leben zuta­ge geför­dert, der, soviel ist bekannt, ver­hei­ra­tet war und laut Falk Hüchel­heim eine Toch­ter gehabt haben könnte.

An sei­nem 125. Geburts­tag ist der Meis­ter ver­ges­sen: 1 Star2 Stars3 Stars4 Stars5 Stars
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