Im Herbst 1896 ist in Penig mit Leopold Wächtler ein später über Sachsen hinaus angesehener Scheren- und Holzschnitt-Künstler geboren worden. Noch immer werden seine Werke antiquarisch gehandelt, doch in seiner Geburtsstadt erinnert wenig an ihn. Ob sich das ändert? Eine Spurensuche.
PENIG/LEIPZIG. Er hat sie alle porträtiert – Komponisten, Schriftsteller, Wissenschaftler, Philosophen, einen Diktator: Bach, Reger, Schubert und Wagner, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Tolstoi und Marie Curie, Marx, Stalin und unzählige mehr. Mehrfach auch Christus.
Leopold Wächtler war am Main und an der Ostsee, in Italien und den oberbayerischen Alpen. Er hielt Ansichten von seiner späteren Wahlheimat Leipzig auch nach kriegsbedingter Zerstörung fest, dazu von Dresden, Madeira, Spitzbergen, Marokko und entwarf klassische Blumenstillleben. Dutzende der teils mehrfarbig gestalteten Blätter des gebürtigen Penigers verwahrt heute das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig. Auf dessen im Internet zugänglicher Sammlungsdatenbank lassen sich zahlreiche Stücke betrachten. Das Museum Schloss Hinterglauchau hat ebenfalls ein Blatt im Bestand. Es zeigt einen von Wind und Wetter gegerbten Lappländer.
Entstanden sind die Aquarelle und Radierungen, Holz‑, Linol- und Scherenschnitte wohl fast durchweg nach jener Kunstpostkarte, die Wächtler für ein Peniger Heimatfest entworfen hatte. „700-Jahr-Feier 1927“ heißt auf der Rückseite des gerade neun mal vierzehn Zentimeter messenden Hochformats in Schwarz-Weiß, dessen Schauseite von der Stadtkirche bekrönt wird, zu der Treppen hinaufführen. „Aus Penig. Leopold Wächtler“, mehr steht nicht unter dem Motiv. Hergestellt wurde die Karte in der örtlichen Druckerei von Karsta Hönickes Großvater Fritz Hausemann. In den Räumen des 1974 geschlossenen Unternehmens befindet sich heute ihr Kleines Kino.
Leopold Wächtler ist in der Stadt weithin vergessen. Auf einer Liste von Persönlichkeiten der Stadtgeschichte, die der kommunale Internetauftritt aufweist, sucht man seinen Namen vergeblich. Dabei galt er nach seinem Umzug nach Leipzig als Meister seines Fachs. In den 1920er- bis 40er-Jahren erschienen Arbeiten im Kalender „Kunst und Leben“ des Berliner Verlegers Fritz Heyder. Sie reihten sich ein zwischen Werke der Großen seiner Zeit: von Grosz über Klinger bis Kollwitz, Pechstein, Slevogt, Franz von Stuck, Zille. Immer wieder wurden damals populäre Mappen mit Werken von seiner Hand aufgelegt, mit Porträts wie Stadtansichten. 1937 trug er Exponate zu einer Sonderausstellung im sechs Jahre später bei einem Bombenangriff zerstörten Leipziger Künstlerhaus bei, 1942 zudem für eine Scherenschnittschau im Leipziger Museum. Noch immer werden seine akribisch gearbeiteten Stücke antiquarisch gehandelt, auch die raren mit Bezug zu seiner Heimat: So wirbt ein Anbieter im Internet mit einem Farbholzschnitt, der Schloss Rochsburg zeigt.
Gleichwohl ist aus Wächtlers Leben relativ wenig überliefert; auch ein Werkverzeichnis fehlt offenbar. Dem Autor ist kein Foto von ihm bekannt. Immerhin enthält Hans Vollmers sechsbändiges „Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts“ (1953–1962) einen Namensbeitrag, in dem von einem Studium an der Leipziger Akademie für Graphische Künste bei dem deutsch-österreichischen Maler Alois Kolb (1875–1942) die Rede ist, zudem von Aufenthalten in Frankreich, Spanien, Italien, Nordafrika, auf dem Balkan, in der Schweiz. Das lässt Rückschlüsse zu auf manche Motivwahl. Wie es aber etwa zu dem Stalin-Farblinolschnitt kam, ob es sich um eine Auftragsarbeit handelte – wenn ja, von wem – ist unklar. Das Hochformat zeigt den Diktator, der den Betrachter außer Acht lässt, an ihm vorbeischaut, mit buschigem Schnurrbart, leicht zusammengekniffenen Augen, ernst, doch ohne Strenge.
Das Licht der Welt erblickte Wächtler am 30. Oktober 1896 in Penig, wo er laut Kirchenbucheintrag am 27. Dezember getauft wurde und „ihm sein Vater frühzeitig bestrebt war, die Schönheiten der milden Landschaft des Muldentales zu erschließen“, schrieb Alfred Lehmann in der Einführung zu einem Mappenwerk des Leipziger Verlags Max Möhring. Lehmann weist zudem darauf hin, dass Wächtler nicht nur von Kolb, sondern auch dem von Max Klinger geschätzten Maler, Grafiker, Schrift- und Exlibris-Künstler Bruno Héroux (1868–1944) unterrichtet wurde.
Der Peniger war das zweite Kind der Eheleute Hugo Oskar und Adolphine Wächtler, geborene Riesel. Seine Schwester Louise ist 1892 geboren worden und starb 1969 in Leipzig. Der Vater, so ist es auf beider Geburtsurkunden vermerkt, wirkte als Porzellan- und Obermaler; im Adressbuch von 1930 ist er als Malermeister vermerkt. Die Familie lebte laut der Ausgabe von 1910 an der Poststraße 10 – das Haus steht noch.
Wie seine Schwester, stirbt auch Leopold Wächtler in Leipzig – am 19. Juni 1988. Zeugnisse aus Penig versiegen früh. Das Leipziger Adressbuch von 1948 verzeichnet ihn als „Kunstmaler“, in der 1939er-Ausgabe wird er als „Lehrer“ genannt. Dies passt zu einem Fund im Bestand der Sächsischen Landesbibliothek (SLUB) in Dresden, der mehrere von Wächtler signierte Blätter, u.a. ein Goethe-Porträt sowie Stadtansichten, beinhaltet – versehen mit dem Kürzel „Sch.“ für „Schüler“, den Jahreszahlen 1917 und 1919 sowie dem Zusatz „Waldenburg/Sa. Fürstlich Schönburgsches Seminar“. Wächtler könnte Schüler dieser Lehrerausbildungsstätte gewesen sein und hat wohl in Leipzig, wo genau und in welchem Fach auch immer, in dem Beruf gearbeitet.
Dass heute mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig ein so großes Haus in überschaubarer Entfernung zu Wächtlers Geburtsort einen repräsentativen Querschnitt seiner Werke aufbewahrt, ist Falk Armin Hüchelheim zu danken. Der 1944 geborene Leipziger Musikpädagoge im Ruhestand, dessen Mutter Brigitte Ulbricht-Lorenz (1918–2005) einst wie Wächtler Scherenschnitte entwarf, vermachte seine umfangreiche Sammlung dem Haus im Jahre 2016. „Ich habe Wächtler, der hier in der Kleiststraße 13 wohnte, zwar nie persönlich kennengelernt“, sagt er, „aber mein Sammelgebiet umfasst eher wenig beachtete Leipziger Künstler, deren Werk es verdient, erinnert zu werden.“
In Penig wird nun wohl an Wächtler erinnert, während das Leipziger Museum nach Auskunft der stellvertretenden Direktorin Ulrike Dura trotz rundem Geburtstag „leider nichts“ plant. Karsta Hönicke, die Räume ihres Kleinen Kinos auch als Galerie nutzt und mit einer Chemnitzer Wächtler-Sammlerin befreundet ist, will für den Herbst eine Ausstellung mit Werken des Künstlers vorbereiten. Womöglich wird auf dem Weg dahin das eine oder andere weitere Detail aus Wächtlers Leben zutage gefördert, der, soviel ist bekannt, verheiratet war und laut Falk Hüchelheim eine Tochter gehabt haben könnte.