Als Sigmund Neumann 1933 Deutschland aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlassen musste, war er als Wissenschaftler keineswegs schon ein „gemachter Mann“. Er hatte in Leipzig, Grenoble und Heidelberg Geschichte, Nationalökonomie und Sozialwissenschaften studiert. Im Mai 1904 hineingeboren in eine jüdische Leipziger Kaufmannsfamilie, hatte er aber doch mit zwei Büchern in Wissenschaftskreisen für Aufmerksamkeit gesorgt.
Über „Die Stufen des preußischen Konservatismus“, eine Arbeit, deren Idee auf Alfred Weber zurückging, war Neumann 1927 bei Hans Freyer promoviert worden. Er ging darin der Frage nach, wie sich die Entstehung des Kapitalismus auf die Stellung des Adels in der preußischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ausgewirkt hatte. Der Adel habe – unumkehrbare – Phasen durchlaufen, nach einer „romantischen“ eine „liberale“ und schließlich eine „realistische“. Der Soziologe Herbert Sultan sah die Untersuchung „mit allen soziologischen Wassern gewaschen“, auch wenn es sich in erster Linie noch um eine ideengeschichtliche Arbeit handelte.
Ein Klassiker der Parteienforschung
Jene frühe akademische Qualifizierungsschrift gab dabei methodisch einen Tenor vor, der, weiterentwickelt, Neumanns gesamtes wissenschaftliches Arbeiten prägen sollte: Er emanzipierte sich von den seit etwa 1900 sich ausdifferenzierenden Forschungstraditionen der Ereignis‑, der später folgenden Volks- und der früheren Staatengeschichte. Als „historisch orientierter Sozialwissenschaftler“ verbindet Neumann die „Methoden der komparativ arbeitenden Politikwissenschaft und Soziologie mit denen der Sozial‑, Wirtschafts- und Geistesgeschichte“, schrieb der Politologe Peter Lösche.
Nach Neumanns Wechsel von Leipzig an die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin rief er 1931 mit Albert Salomon und Alfred von Martin die Schriftenreihe „Soziologische Gegenwartsfragen“ ins Leben. Mit „Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege“ legte er ein Jahr später seine bis heute bedeutendste Untersuchung vor. Sie hob Neumann in eine Reihe mit anerkannten Soziologen wie Arthur Rosenberg, schrieb Karl Dietrich Bracher – obwohl dem Buch durch den Nationalsozialismus zunächst seine Wirkung versagt blieb. Bracher gab es nach dem Krieg lediglich mit neuem Titel in vier Auflagen neu heraus – und die Arbeit gilt noch immer als Klassiker der frühen Parteienforschung: „Zeitgenössische Studien von solchem Rang besitzen ohnehin Seltenheitswert“ (Horst Möller). Sigmund Neumann lieferte darin nicht nur eine konzise Parteiengeschichte der Weimarer Republik, die abgesehen von Neugründungen wie der NSDAP eine große organisatorische und personelle Kontinuität zum Kaiserreich aufgewiesen habe, sondern er entwickelt auch eine Typologie moderner Parteien. Aus der „nachliberalen Integrationspartei“ (Otto Heinrich von der Gablentz) sei eine „absolutistische“ Variante hervorgegangen. Während zum ersten Typ Parteien wie das Zentrum oder die SPD zu zählen seien, rechnet Neumann zum zweiten geradezu idealtypisch die NSDAP, deren Entstehen ebenso wie das der KPD vom „Unvermögen“ der etablierten Parteien zeuge, die Fragen der Zeit zu beantworten. Neumann geht in seinem Urteil noch weiter: „Was als Parteienkrisis erscheint, ist vielmehr die Krise der Demokratie, der ökonomisch-sozialen Welt, des europäischen Menschen überhaupt“, schreibt er.
Merkmale von Diktaturen
Mit seinem Studium der Parteien, die zwar nach Macht strebten, aber auch den „chaotischen Einzelwillen“ zu personellen und inhaltlichen Alternativen bündelten, wies er ihnen nicht nur einen bedeutsamen Platz in der Demokratie zu, sondern er trug dazu bei, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Parteienforschung als eigenständige Disziplin der Politikwissenschaft etablierte.
In der Emigration erarbeitete er fünf Merkmale, die totalitären Diktaturen gemeinsam seien: Sie versprächen soziale wie ökonomische Stabilität, setzten auf Dynamik und Aktion anstelle von Programmatik und bedienten sich pseudodemokratischer Legitimation. Daneben träten das Führerprinzip sowie – begrifflich an Trotzkis berühmte Formulierung angelehnt – die Erklärung einer kriegsähnlichen „permanenten Revolution“.
Ein Klassiker der Totalitarismusforschung
Eine gleichnamige Studie legte er 1942 an der Wesleyan University in Connecticut vor. „Permanent Revolution“, das noch heute als sein bekanntestes Werk in englischer Sprache und in Deutschland als „vergessener Klassiker“ (Alfons Söllner) gilt, ist als doppelter sozialwissenschaftlicher Vergleich angelegt: einerseits zwischen den modernen europäischen Diktaturen, zum anderen zwischen diesen und ihren demokratischen Antipoden.
Einen ausgefeilten theoretischen Beitrag zur Totalitarismusforschung wollte Neumann mit dem Buch, das derzeit am Sigmund-Neumann-Institut der TU Dresden erstmals ins Deutsche übertragen wird, nicht leisten. Dennoch gilt das Werk heute genauso als grundlegender Beitrag zur Diktaturforschung wie die deutlich später publizierten, aber ungleich bekannteren Arbeiten des Marxisten Franz Neumann (“Behemoth“) oder von Hannah Arendt (“The Origins of Totalitarianism“). Sigmund Neumann interpretierte die totalitären Regime als „politische Religionen“, die alle Sphären des öffentlichen und privaten Lebens mittels ausgefeilter Propaganda und „institutionalisiertem Terror“ unter ihre Kontrolle bringen wollten.
Rückkehr nach dem Krieg
Obwohl es ihm mit „Permanent Revolution“ vor allem darum ging, Hierarchien und Institutionengefüge in totalitären Systemen zu untersuchen, untersetzte er seine Analyse mit sozialwissenschaftlichen und psychologischen Beobachtungen, die ihn veranlassen, die Zeit zwischen 1914 und 1945 als einen „internationalen Bürgerkrieg“ zu deuten. Diesem zugrunde liege mit der Zwischenkriegszeit ein Generationenkonflikt, dessen „ebenso ‚falsche’ wie dynamische Lösung (…) nicht nur in einer bislang unbekannten Mythologisierung der revoltierenden Jugend (bestand), sondern in deren Verschmelzung mit dem Mythos des Krieges“, schrieb der Politikwissenschaftler Alfons Söllner in Anlehnung an Neumann.
Während des Krieges hatte Neumann unter anderen Gastdozenturen an der Columbia, Harvard und Yale University inne. Im Gründungsjahr der Bundesrepublik kehrte er erstmals seit 1933 nach Deutschland zurück und beteiligte sich am Aufbau der Politikwissenschaft – nicht nur, aber besonders an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und an der Freien Universität zu Berlin. Dafür ehrten ihn beide Hochschulen mit Ehrendoktorwürden (1949 und 1962). Eine von Neumann zeitweise durchaus erwogene dauerhafte Rückkehr nach Deutschland scheiterte indes.
Vater der Politikwissenschaft
Im Mai 1962, bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, hielt Neumann während seines letzten Deutschland-Besuchs unter dem Titel „Der Demokratische Dekalog“ einen Vortrag, der zum Vermächtnis des Demokratielehrers wurde, als den er sich zeitlebens sah. Ausgehend vom Begriff der Volkssouveränität, analysierte Neumann die Kernmerkmale demokratischer Staaten – von der Bedeutung der Rechtssicherheit bis zum Pluralismus. Das „vitalste Element“ sei jedoch: der „menschliche Einsatz“.
2007 gelangte Neumanns umfangreicher Nachlass, der der Forschung neue Impulse verlieh, aus Amerika nach Deutschland. Er lagert heute im Frankfurter Exilarchiv. Wenig später konnte das Dresdner Sigmund-Neumann-Institut die viele hundert Bände umfassende Privatbibliothek des Wissenschaftlers erwerben, die sich bis zuletzt in Familienbesitz befand. Am 22. Oktober 1962 starb Neumann, der als einer der Gründungsväter der deutschen Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft gelten muss und dennoch weitgehend in Vergessenheit geriet.