Andreas Püttmann zeigt in einer kleinen, doch aufschlussreichen Studie: Katholiken fristen hierzulande keine Nischenexistenz – und das ist, zumal nicht mehr selbstverständlich, gut so.
DRESDEN. Mehrheiten sind dumm, hat der Publizist Hans Conrad Zander geschrieben – und die Erklärung mitgeliefert: Denn eine Denken und Wahrnehmung betreffende Vormacht kennzeichne, “dass sie sich selber nicht infrage stellt“. Im Mittelalter habe man das etwa am Auftreten der katholischen Kirche erkennen können, die Teile der Wirklichkeit ausblendete, die nicht ins von ihr dominierte Schema passten, so Zander. Doch wie steht es heute? Hier, nicht nur in Sachsen. “Seitenverkehrt“ im Umgang der konfessionslosen Mehrheit und einer größeren Minderheit von Protestanten mit der katholischen Kirche, der im Freistaat keine vier Prozent der vier Millionen Bürger angehören, deutschlandweit mit 24 Millionen aber gut ein Viertel.
Unter dem Titel „Wie katholisch ist Deutschland … und was hat es davon?“ legt der Publizist und promovierte Politikwissenschaftler Andreas Püttmann eine “kleine katholische ‘Leistungsschau‘“ vor. Angesichts dieses Anspruchs mag sich mancher die Augen reiben – nach dem Motto: Wer braucht und wen interessiert sowas? Hier.
Das anspruchsvoll, aber flott geschriebene Werk liefert eine Übersicht über den katholischen Beitrag zu unserer Republik, die der evangelische KZ-Überlebende Martin Niemöller als “in Rom gezeugt und in Washington geboren“ geziehen hatte. Dazu beleuchtet der katholische Verfasser, der einst in der Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung, beim “Rheinischen Merkur“ und beim WDR arbeitete, auf empirischer Grundlage konfessionelle Unterschiede und gemeinsame Herausforderungen der Kirchen. Er beschreibt das katholische Element mit Blick auf Aspekte wie Gewaltverbot, Rechtsgehorsam, bürgerschaftliches Engagement, Familiensinn oder Menschenwürde als “Humanitätsreserve“. Dass dies auch für Nichtgläubige bedeutsam sein kann, hat Linkspartei-Urgestein Gregor Gysi vor einem Jahr gegenüber dem Magazin “Cicero“ deutlichgemacht, als er sagte: “[E]ine gottlose Gesellschaft, eine Gesellschaft ohne Kirchen und Religionsgemeinschaften hätte verheerende Folgen“, sorgten doch katholische und evangelische Kirche als einzige dafür, zitiert ihn Püttmann, “dass es noch eine allgemein verbindliche Moral gibt“.
Katholiken allüberall?
Als Beleg für katholisches Engagement in der jüngeren ostdeutschen Vergangenheit verweist er auf eine Vielzahl politischer Verantwortungsträger: So seien nicht nur beinahe ein Drittel der damals noch 160 Abgeordneten des ersten sächsischen Nachwende-Landtags (ab 1994 wurde das Parlament auf 120 Mitglieder verkleinert) katholisch gewesen. Das gilt auch für die ersten drei Ministerpräsidenten, dazu den ersten Landtagspräsidenten und die ersten Dresdener und Chemnitzer Oberbürgermeister, eine weit über den Bevölkerungsanteil hinausgehende Anzahl Bundestagsabgeordneter, die ersten Länderchefs Mecklenburg-Vorpommerns, Thüringens und ab 1991 Sachsen-Anhalts. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Die katholische Mitwirkung fiel derart breit aus, dass der evangelische Mitgründer des Demokratischen Aufbruchs und Theologe, Ehrhart Neubert, 1991 die Stimmung unter Protestanten mit dem Satz “Wir haben die SED entmachtet, und nun übernehmen die Katholiken die Macht“ zusammenfasste.
In jüngerer Zeit ist zudem viel vom “Abendland“ die Rede, ohne dass in den meisten Fällen die nicht nur historische Tiefe von dessen Bedeutung ausgelotet würde. Wer sich über die katholischen Wurzeln und deren Beitrag zum heutigen Deutschland informieren will, dem sei dieses Buch empfohlen. Der Interessierte erhält dabei auch einen Eindruck davon, was längst droht verlorenzugehen. Denn “[k]ein Akteur sensibilisiert … mehr für den Wert des menschlichen Lebens, insbesondere in seinen schwächsten Phasen zu Beginn in der Schwangerschaft und am Ende im Sterben, als die katholische Kirche“, formuliert der 53-Jährige. Es ist dies ein Aspekt von vielen, der denkwürdig bleiben sollte im Wortsinne auch für jene, die etwa Abtreibung zu den Menschenrechten zählen. Wer heute dazu kritisch Stellung nimmt, muss sich oftmals im besten Fall “verhauen“ lassen – im schlechtesten wird er ignoriert.
Fast zwei Drittel der Kirchenaustritte seit 1950 bei Protestanten
Noch ist die Saat, von der solches Memento ausgeht, zumindest wahrnehmbar, wenngleich ihr Keimen selbst unter Kirchenmitgliedern nicht mehr vorbehaltlos akzeptiert. Dabei zählt die katholische Kirche derzeit ungefähr so viele Mitglieder wie 1950, so Püttmann, hat aber seit ihrem Höchststand 1990 mit 28,3 Millionen Gläubigen 16 Prozent verloren. Implodiert ist die Teilnahme an der Heiligen Messe – von 50 auf 11 Prozent. Dabei sündigt laut katholischer Lehre schwer, wer sonntags oder an einem sogenannten Hochfest für einen Nicht-Besuch keinen triftigen Grund vorweisen kann.
Und doch: Fast zwei Drittel derer, die seit 1950 einer Kirche den Rücken kehrten, waren zuvor evangelisch. Man kann also in Zweifel ziehen, ob es das öffentliche Image ist, das darüber entscheidet, wem in Kirchenfragen die Treue gehalten wird. Das der Protestanten gilt nämlich als weitaus freundlicher im Vergleich zu den katholischen Geschwistern. Püttmann trägt eine Vielzahl statistischer Daten, aus Umfragen und dazu Interpretationen zusammen, die Licht in dieses Netz von (vermeintlichen) Widersprüchen bringen. Auf dem Papier aber steht: Von 43 auf 22 Millionen Gläubige ging die Anzahl der Protestanten innert 70 Jahren hierzulande zurück.
Trotz dieser Befundlage neige die katholische Kirche zu einer Art “Selbstprotestantisierung“, schreibt Püttmann. Man will geliebt, auch wenn es zur Folge hat, nicht mehr ernstgenommen, für relevant gehalten zu werden. Er zitiert zur innerkirchlichen Entwicklung der jüngsten Jahrzehnte abermals Hans Conrad Zander: “Wie eine Eidechse auf der Flucht vor einem Mächtigeren plötzlich ihren Schwanz fallen lässt, so ließen wir jetzt alle jene Teile unseres komisch gewordenen Erscheinungsbildes, die uns zuvor als unentbehrlich erschienen, plötzlich fallen: Latein? Komisch, weg damit. Der Teufel? Komisch, weg damit. Weihrauch? Komisch, weg damit. Beichtstuhl? Komisch, weg damit. Rosenkranz? Komisch, weg damit. Kreuzweg? Komisch, weg damit. Thomas von Aquin? Komisch, weg damit. Kutten und Soutanen? Alles komisch, weg damit. Die Gregorianik? Ganz, ganz komisch, sofort weg damit. Und nachdem wir so viel Komik so übereilig abgeschafft haben, wundern wir uns maßlos darüber, dass die Welt uns nicht unverändert komisch findet, sondern sogar, eindeutig, noch komischer als zuvor. Woran könnte das liegen? Nur an einem: Noch haben wir das Allerkomischste nicht abgeschafft. Noch haben wir den Zölibat. Den müssen wir abschaffen. Ganz, ganz schnell. Dann, ja dann, sind wir endgültig raus aus unserer unerträglichen Komik“, so Zander sarkastisch.
Komisch. Von all dem haben sich die Protestanten längst verabschiedet und werden dafür heute weniger belächelt. Was einiges gilt in diesen Zeiten. Nur: Ist das das Entscheidende? Nicht, dass es der Weihrauch wäre, die Soutane, Gregorianik. Vielleicht aber, dass das, wofür sie stehen, worauf sie sprechender als Zeitgeistgefälligkeit verweisen, groß ist.
Andreas Püttmann: Wie katholisch ist Deutschland … und was hat es davon? Bonifatius-Verlag, Paderborn 2017, 239 Seiten, 16,90 Euro.